Zurück zur Übersicht

03.11.2005

Erstes Gen für Legasthenie identifiziert

Marburger Arbeitsgruppe Lese-Rechtschreibstörung identifiziert Gen bei deutschen Kindern mit Lese- und Rechtschreibschwäche


Die Lese-Rechtschreibschwäche (so genannte Legasthenie) kommt häufig bei mehreren Mitgliedern einer Familie vor. Den Erbanlagen scheint eine wichtige Rolle bei der Entwicklung einer Lese-Rechtschreibschwäche zuzukommen. Jetzt hat erstmals ein deutsch-schwedisches Team von Wissenschaftlern bei deutschen Kindern mit einer schweren Lese-Rechtschreibschwäche den Beitrag eines spezifischen Gens nachweisen können. Wie das Gen genau zur Störung beiträgt, ist noch nicht bekannt. Möglicherweise spielt das Gen bei dem Wandern von Nervenzellen im sich entwickelnden Gehirn eine wichtige Rolle. Die Ergebnisse werden in der Januar-Ausgabe des American Journal of Human Genetics erscheinen, sind aber bereits online abrufbar ( http://www.journals.uchicago.edu/AJHG ).

Vier bis sechs Prozent der Bevölkerung, dies entspricht ca. fünf Millionen Deutsche, haben große Schwierigkeiten, lesen und schreiben zu lernen. Trotz guter Intelligenz und regelmäßigem Schulbesuch scheitern sie, Texte zu lesen und sich schriftlich mitzuteilen. Viele Kinder mit einer Legasthenie werden zu spät erkannt, meist erst dann, wenn sie aufgrund der ausgeprägten Schulschwierigkeiten psychische Störungen entwickeln. Schulängste und Depression, sogar Selbstmordgedanken können die Folge sein.

Schon lange vermutet man, dass die Erbanlagen bei der Entstehung der Lese-Rechtschreibschwäche (so genannte Legasthenie) eine wichtige Rolle spielen. Man weiß, dass Verwandte von betroffenen Personen gehäuft selber eine Lese-Rechtschreibstörung aufweisen. Durch die Identifizierung der Erbanlagen auf der DNA-Ebene erhoffen sich Wissenschaftler die Prozesse im Gehirn besser zu verstehen, die entscheidend für das Verstehen und den Gebrauch von Schriftsprache sind. Wissenschaftler aus Deutschland und Schweden haben jetzt erstmalig bei betroffenen Kindern aus Deutschland den Beitrag eines Gens nachweisen können.

Über mehrere Jahre hatten Kinder- und Jugendpsychiater unter der Leitung von PD Dr. Gerd Schulte-Körne an den Universitäten Marburg und Würzburg nach Familien gefahndet, bei denen mindestens ein Kind von einer Lese-Rechtschreibschwäche betroffen war. "In Blutproben der Familien suchten wir dann nach Kandidatengenen und wurden schließlich fündig," sagt Dr. Schulte-Körne. Das Gen liegt in einer Region von Chromosom 6, die auch schon von Wissenschaftlern aus den USA und England in Zusammenhang mit der Lese-Rechtschreibschwäche gebracht wurde. Dem deutsch-schwedischen Team gelang jetzt eine weitere Einengung dieser Region und die Identifizierung eines einzelnen Gens, welches bei deutschen Kindern einen wichtigen Beitrag zu leisten scheint. "Das Gen (kurz: DCDC2-Gen) spielt anscheinend in der Entwicklung des Gehirns eine Rolle, genauer gesagt bei der Wanderung von Nervenzellen im sich entwickelnden Gehirn", sagt Professor Markus Nöthen vom Life & Brain Zentrum der Universität Bonn, der mit seiner Arbeitsgruppe für die molekularen Arbeiten verantwortlich war.

Am stärksten zeigte sich der Effekt des Gens bei Kindern mit einer schweren Rechtschreibchreibschwäche. Anscheinend ist das Gen besonders wichtig für die Verarbeitung von Sprachinformation beim Prozess des Schreibens. Zukünftige Untersuchungen werden zum Ziel haben, die Funktion von DCDC2 noch besser verstehen und im Detail aufzuklären, warum es bei manchen Kindern zu Problemen beim Schreiben kommt.

Das Projekt wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung unterstützt. Nöthen ist Inhaber des Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Lehrstuhls für Genetische Medizin. Das Life & Brain Zentrum ist ein neues Forschungszentrum des Universitätsklinikums Bonn, das sich mit modernsten Technologien der anwendungsnahen Ursachenforschung von Krankheiten widmet.

Kontakt

PD Dr. Gerd Schulte-Körne
Arbeitsgruppe Lese-Rechtschreibstörung, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Universität Marburg

Tel.: 06421/ 28 66467
E-Mail