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02.10.2006

Philosophen veranstalteten prominent besetzte Podiumsdiskussion

Jürgen Habermas, Wolf Singer und andere diskutierten im AudiMax über Hirnforschung und Willensfreiheit – Gut besuchte Abschlussveranstaltung des „Forums für Philosophie“ der Deutschen Gesellschaft für Philosophie

Janich
Peter Janich eröffnet die prominent besetzte Podiumsdiskussion, die den Abschluss der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Philosophie bildet.
Habermas
Philosoph Jürgen Habermas
Singer
Hirnforscher Wolf Singer
Podium
Podiumsdiskussion im AudiMax. Von links nach rechts: Wolf Singer, Jan C. Joerden, Carl Friedrich Gethmann, Reinhard Merkel, Jürgen Habermas. Fotos: tk
"Magd oder Königin der Disziplinen – welche Rolle spielt die Philosophie in der Gegenwart?“, so fragte Peter Janich in seiner Einführungsrede. Der Marburger Philosophieprofessor und Organisator des „Forums für Philosophie“, das die Deutsche Gesellschaft für Philosophie (DGPhil) in diesem Jahr in Marburg stattfinden ließ, hatte am 29. September anlässlich des Abschlusses des Forums zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion in das AudiMax geladen. „Zwingt der Naturalismus die Gesellschaft zum Umdenken bei Strafrecht und Erziehung?“, so lautete die Frage, der sich fünf prominente Redner vor gut gefülltem Saal stellten.

Das Interesse der Öffentlichkeit war nicht nur dem Thema zu verdanken. Der Philosoph Jürgen Habermas saß ebenso wie der Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Wolf Singer, auf dem Podium. Der Hamburger Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, der Strafrechtler Jan C. Joerden von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und der Essener Sprachphilosoph und DGPhil-Präsident Carl Friedrich Gethmann, der auch die Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler leitet, komplettierten die Professorenrunde.

Doch auch das Thema, in dessen Zentrum die Diskussion um den freien Willen stand, hatte es in sich. Denn sowohl Sanktionen im Strafrecht als auch in der Erziehung setzen voraus, dass der Mensch frei entscheiden kann, was er tut – anders gesagt, dass er, wenn er zum Beispiel eine Straftat begangen hat, auch hätte anders handeln können. Genau das aber bestreiten Hirnforscher wie Wolf Singer: "Wir sind nicht frei, zu wollen, was wir wollen. Das menschliche Handeln ist durch die neuronalen Verschaltungen im Gehirn festgelegt." Neuere bildgebende Verfahren – angelehnt an die berühmten, von Benjamin Libet in den 1980er Jahren veröffentlichten Experimente – würden zeigen, dass bis zu zwanzig Sekunden, bevor sich ein Proband seiner Absicht zu handeln bewusst wird, das Gehirn schon die entsprechenden Vorbereitungen trifft.

Alle paar Jahre eine neue Gesetzgebung?

Hat Singer recht, würden indessen zentrale Begriffe wie Schuld und Verantwortung ihrer Bedeutung beraubt. Reinhard Merkel etwa, der die These immerhin "plausibel" fand, wies denn auch darauf hin, dass das "strafrechtliche Schuldprinzip in jedem Fall aufrecht erhalten werden" muss: Unabhängig davon, wie menschliches Handeln erklärt werde, "sind wir gezwungen, unsere Normenordnungen zu stabilisieren". Carl Friedrich Gethmann indessen ging noch einen Schritt weiter und warf der Hirnforschung vor, anders als etwa die Teilchenphysik noch nicht den „Status einer reifen Theorie“ erreicht zu haben. Illustrierend fügte er hinzu, dass die Legislative nicht alle paar Jahre weit reichende Entscheidungen treffen könne, nur weil in den – per definitionem schließlich auch falsifizierbaren – Neurowissenschaften mal wieder eine neue Erkenntnis gewonnen worden sei.

Jan C. Joerden stellte ein weiteres Problem in den Mittelpunkt: Wenn Strafrechtler nicht mehr an den freien Willen glauben, "müssen wir alle betrachten, als wären sie unzurechnungsfähig" – mit weit reichenden Konsequenzen: Der Mensch wäre dann nicht mehr als Subjekt, sondern lediglich als Objekt zu behandeln. Das Strafrecht müsse aber insofern auf die neueren Entwicklungen reagieren – schließlich werde sich der freie Wille wohl auch künftig nicht experimentell auffinden lassen –, dass im Mittelpunkt der Überlegungen nicht die Tat stehen solle, sondern die Gefahr, die ein Täter für die Gesellschaft bedeute.

Jeder Mensch kann erklären, welche Gründe seine Handlungen bestimmen

Jürgen Habermas hingegen verwies auf grundsätzliche kategoriale Unterschiede: Auch weiterhin könne "jeder Mensch erklären, warum er so und nicht anders gehandelt hat" – das "Sprachspiel", das Menschen in solchen Fällen verwenden, bleibe von der naturwissenschaftlichen Betrachtung des Gehirns prinzipiell unberührt. Die Frage könne nicht lauten, ob trotz neuer Erkenntnisse aus pragmatischen Gründen eine "Fiktion der Verantwortungszuschreibung" aufrechterhalten werden müsse. Das sei "anthropologisch nicht produktiv", zumal es kaum möglich sei, das Funktionssystem des Rechts zu isolieren, indem diesem ein anderes Menschenbild als allen anderen gesellschaftlichen Bereichen zugrunde gelegt werde.

Können wir wollen, was wir wollen? Sind wir frei in unserem Handeln? Und steht der Philosophie die Rolle einer "Königin der Disziplinen" zu, die den Naturalismus in seine Schranken weisen kann? Auf definitive Antworten, so zeigte dieser Abend, wird man – womöglich lange und vielleicht vergebens – noch warten müssen.

Zurücklehnen kann sich indessen niemand, zu drängend sind die weiterhin bestehenden Probleme in der Praxis, wie sie vor allem Reinhard Merkel zum Ausdruck brachte. Er präsentierte den Fall eines bis dato unbescholtenen Lehrers, der mehr oder weniger plötzlich pädophile Neigungen entwickelt hatte. Ursache dafür, so fanden gerichtliche Gutachter heraus, war ein Tumor in seinem Gehirn – nachdem dieser entfernt worden war, normalisierte sich sein Verhalten wieder. Genau betrachtet sei allerdings nicht der Tumor die Ursache gewesen, so Merkel, "sondern die durch ihn verursachte Unordnung im Gehirn". Als Konsequenz aus dieser Überlegung bliebe nun die Frage, ob nicht auch im Hirn anderer straffällig gewordener Menschen schlicht Unordnung herrsche. Dürfen wir diese, fragte Merkel, anders behandeln als den Mann, dessen freier Wille durch einen Tumor ganz offensichtlich eingeschränkt war?

Kontakt

Professor Dr. Peter Janich
Philipps-Universität Marburg
Institut für Philosophie
Wilhelm-Röpke-Straße 6 B
Raum Nr. 317
35032 Marburg

Tel.: (06421) 28 21375
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