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25.11.2007

Marburger Sprachwissenschaftler erhalten 14 Millionen Euro

Das innovative Projekt „regionalsprache.de“ am Deutschen Sprachatlas wird zu den größten geisteswissenschaftlichen Forschungsprojekten in Deutschland gehören. "Dass dieses Forschungsvorhaben an der Marburger Universität angesiedelt wird, zeigt den außerordentlichen Rang der geisteswissenschaftlichen Forschung in Marburg", sagte Wissenschaftsminister Corts.

Schmidt
Der Direktor des Deutschen Sprachatlas, Prof. Dr. Jürgen Schmidt.
Die Philipps-Universität Marburg wird für ihr Forschungsprojekt „regi­onalsprache.de (REDE)“ über eine Laufzeit von 19 Jahren Fördergelder in Höhe von rund 14 Millionen Euro bekommen. Das hat die Bund-Länder-Kommission als Trägerin der deutschen Akademien der Wissenschaften heute beschlossen. Mit Beginn des Jahres 2008 entsteht damit am Forschungszentrum „Deut­scher Sprachatlas“ in Marburg eine zentrale For­schungsplattform für die Regionalsprachen des Deutschen.

Der Hessische Minister für Wissenschaft und Kunst, Udo Corts, der das Projekt in Wiesbaden gemeinsam mit der für Forschung zuständigen Vizepräsidentin der Universität, Prof. Dr. Katharina Krause, vorstellte, hob hervor, dass damit das derzeit größte geisteswissenschaftliche Forschungsvorhaben in Deutschland an der Marburger Universität angesiedelt werde. „Das Votum der Bund-Länder-Kommission unterstreicht den außerordentlichen Rang der geisteswissenschaftlichen Forschung in Marburg.“ Es handele sich um das erste Forschungsvorhaben, das im Rahmen der neuen Förderungsstruktur der Akademien der Wissenschaften langfristig als geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung gefördert werde.

Herrgen
Prof. Dr. Joachim Herrgen
Prof. Dr. Krause bezeichnete die Entscheidung als „Glücksfall für den Wissenschafts­standort Marburg“. Sie zeige erneut, dass Marburg nicht nur auf eine große Tradition geisteswissenschaftlicher Forschung zurück­blicken könne, sondern dass diese Universität gerade heute einen herausragenden Forschungsstandort darstelle. Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt, Direktor des Forschungszentrums „Deutscher Sprachatlas“, sieht in dem Projekt die einmalige Chance, die Struktur und Dynamik der modernen Regionalsprachen des Deutschen grundlegend zu erforschen und damit der Variationslinguistik völlig neue Perspektiven zu eröffnen. „Für alle Bereiche, die am Gegenstand ‚Sprache’ orientiert sind, werden die Ergebnisse des Projektes von großem Nutzen sein“, ergänzt Prof. Dr. Joachim Herrgen, der stellvertretende Direktor des Deutschen Sprachatlas.

Ziel des Projekts ist die Erhebung und umfassende Analyse der regio­nalen Sprachvariation in Deutschland. Die Daten sollen gemeinsam mit den bisherigen wissenschaftlichen Ergebnissen der Dialektologie in einer interaktiven Forschungsplattform für jedermann im Internet zur Verfügung stehen. Dank ausgefeilter sprachtechnologischer Methoden wird es der Wissenschaft damit erstmals möglich, sprachlichen Wandel online zu dokumentieren und zu analysieren.

Auch jenseits der wissenschaftlichen Nutzung stellt REDE eine faszinie­rende Quelle dar: Sie erlaubt es, die unterschiedlichsten Erscheinungsformen der deutschen Dialekte zu studieren, sei es in Form dynamisch überblendbarer Sprachkarten, sei es anhand von Tonaufnahmen der alten Ortsdialekte oder anhand aktueller Materialien zum modernen Sprach­gebrauch. Neben der sprachwissenschaftlichen Grundlagenforschung bietet das Projekt vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, zum Beispiel in der Krimi­nalistik oder im Rahmen industrieller Sprachverarbeitungssysteme.

Das Projekt „regionalsprache.de“

„Verschwinden die Dialekte? Wenn ja: Was tritt an ihre Stelle? Wann haben diese Prozesse angefangen? Wie laufen sie ab?“ In solchen auf den ersten Blick einfachen Fragen, wie sie oft zu hören sind, zeigt sich, dass Beobachtung und Bewertung von sprachlicher Variation und sprachlichem Wandel eine Alltagserfahrung der Menschen ist. Bei genau­erem Hinsehen sind solche Fragen dann aber nicht leicht zu beantworten. Der Grund: Die Dialektologie hat zwar seit fast 200 Jahren die alten Orts­dialekte dokumentiert und analysiert, nicht aber die Prozesse und Ergeb­nisse des Dialektwandels. Der Dialektwandel wurde von den Dialekto­logen meist als „Dialektsterben“ abgetan und nicht untersucht, so dass ein wirkliches Verständnis der Dynamik der deutschen Regionalsprachen unmöglich wurde.

Sicher ist, dass die Dialekte des Deutschen durch den Einfluss der Hochsprache einem massiven Wandel ausgesetzt waren und sind. Die Struktur und Dynamik dieses sprachlichen Wandels jedoch, der aus dem Zusammenwirken der Ortsdialekte mit der überregionalen Hoch­sprache entsteht und der mittlerweile die gesprochene Alltagssprache der meisten Sprachteilnehmer charakterisiert, ist bis heute nicht umfassend beschrieben worden. In diesen neuen Formen regionalen Sprechens, jen­seits der alten Ortsdialekte, liegen jedoch die Strukturen einer neuen Regionalität im Deutsch des 21. Jahrhunderts verborgen. Diese „moder­nen Regionalsprachen“ des Deutschen, die nicht mehr unbedingt dialek­tal, aber ebenso wenig nur hochsprachlich geprägt sind, zeugen von einem gewaltigen Veränderungspotenzial des Gegenwartsdeutschen, das alle Sprecher nachhaltig prägt – und zwar viel mehr als der zurzeit so dominant empfundene Einfluss des Englischen.

Um diese Prozesse angemessen analysieren zu können, planen die Mar­burger Forscher im Verbund mit Kooperationspartnern in Mannheim, Saarbrücken und Trier zunächst eine flächendeckende Spracherhebung. Durch die Analyse von authentischen Situationen der Alltagskommunikation in allen Regionen wird es erstmals möglich sein, die Struktur der Sprachräume des Deutschen in ihrer ganzen Vielfalt und Heterogenität zu bestimmen.

Gleichzeitig wird ein interaktives Online-Informationssystem aufgebaut, das sämtliche Forschungsergebnisse und Datenbestände, die seit dem 19. Jahrhundert erarbeitet wurden, der Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Computertechnik erlaubt es, Informationen unterschiedlichster Art (Sprachkarten, Tonaufnahmen, Texte, Literaturquellen, Ergebnisse empi­rischer Erhebungen) und aus verschiedenen Zeitstufen direkt aufeinander zu beziehen. Eine wirkliche wissenschaftliche Analyse der Dynamik der gesprochenen Sprache wird auf diese Weise möglich. Der entscheidende qualitative Gewinn für die sprachwissenschaftliche Forschung besteht in der mehrdimensionalen Analyse, welche die verschiedenen genannten Datentypen zusammen bringt.

Neben der sprachwissenschaftlichen Grundlagenforschung eröffnet das Projekt Möglichkeiten der praktischen Anwendung, die weit über die Grenzen des Fachs hinausreichen. Ein Beispiel ist die Kriminalistik: Durch Optimierung der Sprechererkennung ist es möglich, die Fahndung nach Straftätern zu verbessern. Andere Anwendungsfelder sind der Sprachun­terricht und die Sprachtechnologie: „Mit Hilfe der Daten aus REDE wird es beispielsweise möglich sein, Sprachverarbeitungssysteme zu entwickeln, die auch regionale Charakteristika von Sprache erkennen und verarbeiten können“, sagte Prof. Dr. Schmidt.

Das Projekt „regionalsprache.de“ fügt sich nahtlos in die bestehenden sprachwissenschaftlichen Forschungsstrukturen an der Philipps-Universität Marburg ein. Es eröffnet weitreichende Möglich­keiten der interdisziplinären Forschung, etwa auf den Gebieten der theo­retischen Linguistik und der Kognitionswissenschaft.

Weitere Informationen:

Forschungszentrum „Deutscher Sprachatlas“
Hermann-Jacobsohn-Weg 3, 35032 Marburg
Telefon: +49 6421 28-22483
E-Mail: dsa@staff.uni-marburg.de

Internet: www.uni-marburg.de/fb09/dsa

Akademie der Wissenschaften und der Literatur
Geschwister-Scholl-Straße 2, D-55131 Mainz
Telefon: +49 6131 577-0
E-Mail: generalsekretariat@adwmainz.de