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27.02.2007

Helmut Schmidt erhielt Ehrendoktorwürde der Philipps-Universität

Im Rahmen der traditionellen Christian-Wolff-Vorlesung sprach Schmidt über „Gewissen und Verantwortung des Politikers“ – Den Festvortrag hielt C. F. Gethmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie

Schmidt
Im Anschluss an seine Ehrenpromotion hielt Helmut Schmidt vor knapp 400 geladenen Gästen die Christian-Wolff-Vorlesung. Foto: Rolf Wegst
Im Rahmen eines Festakts an der Philipps-Universität Marburg verlieh Professor Dr. Dirk Kaesler, Dekan des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Universität, die Ehrendoktorwürde im Fach Philosophie an Altbundeskanzler Dr. h.c. mult. Helmut Schmidt. Im Anschluss daran hielt Helmut Schmidt die traditionelle Christian-Wolff-Vorlesung unter dem Titel „Gewissen und Verantwortung des Politikers“. Rund 400 Gäste wohnten der Veranstaltung in der voll besetzten Aula der Alten Universität bei, darüber hinaus wurde sie live auf eine Großbildleinwand in das AudiMax der Universität übertragen.

Die Urkunde überreichte Dekan Dirk Kaesler. Zuvor hatte er die Laudatio auf Schmidt verlesen: „Der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg verleiht Herrn Helmut Schmidt, Altbundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, die Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber. Das der Aufklärung verpflichtete Fach Philosophie erkennt in Helmut Schmidt den Philosophen im Politiker. Sein Handeln zeigt eine sichere Orientierung an den Prinzipien unabhängigen Vernunftgebrauchs, moralischer Selbstverpflichtung, kritisch rationaler Situationsbeurteilung und pragmatischer Ausrichtung an der Reichweite menschlicher Vernunft und politischen Handelns. Sein unermüdliches Plädoyer für Vernunft und Verantwortung im Handeln lassen, wo die akademische Philosophie theoretisch bleibt, Philosophie für die Menschen praktisch werden.“

Die Ehrenpromotion Schmidts, die bereits am 19. Juli 2006 beschlossen worden war, ist die siebte, die der Fachbereich seit seiner Gründung im Jahr 1970 aussprach. Zuvor waren unter anderem Helmut Holzhey, Hans-Georg Gadamer und Raymond Klibanski ausgezeichnet worden.

Mit Schmidt hielt heute auch erstmals ein Politiker die seit 1999 stattfindende Christian-Wolff-Vorlesung an der Philipps-Universität. In seiner Begrüßung sagte Professor Dr. Peter Janich, Veranstalter des Festakts und bis vor kurzem Direktor des Instituts für Philosophie: „Statt wie bisher Philosophieprofessoren für die Christian-Wolff-Vorlesung einzuladen, erging im Rahmen des Projekts ‚Aufklärung’ der Marburger Philosophie in diesem Jahr die mit einer Ehrenpromotion im Fach Philosophie verbundene Einladung an Helmut Schmidt.“ Schmidt erfülle als Buchautor, Publizist und Redner, als Politiker und als Mensch die berühmte Definition von Aufklärung durch Immanuel Kant: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Darüber hinaus weise er in seinen Äußerungen über den Konfuzianismus und China eine verblüffende Parallele zu Christian Wolff auf.

Janich wies zudem die im Vorfeld der Verleihung öffentlich dagegen vorgebrachten Einwände und die dabei erfolgte „Gleichsetzung von geistig-schöpferischer Leistung mit Wissenschaft“ zurück und kritisierte „das Missverständnis der akademischen Philosophie, diese habe sich auf die Rede über Philosophen zu beschränken, statt zu philosophieren.“

Festvortrag: „Kann Politik vernünftig sein?“

Dem Grußwort des Präsidenten der Philipps-Universität, Professor Dr. Volker Nienhaus, folgte der Festvortrag unter dem Titel „Kann Politik vernünftig sein?“. Gehalten wurde er von Professor Dr. Dr. h.c. Carl Friedrich Gethmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und Direktor der Europäischen Akademie in Bad Neuenahr-Ahrweiler.

„Die philosophisch einschlägige Botschaft“, so Gethmann, die Schmidts Schriften ebenso wie seinem politischen Handeln zu entnehmen sei, liege in der Forderung, das politische Handeln „dem Postulat der praktischen Vernunft zu unterstellen“. Die Vorstellung, das politische Handeln könne „vernünftig“ im Sinne verallgemeinerbarer Standards sein, gelte vielen jedoch als Ausweis von Naivität und Realitätsfremdheit: erst recht, wenn die Diskursivität nicht nur auf Sachstandsanalysen, allenfalls noch ökonomische wie juridische Normativität, sondern darüber hinaus auf moralische Normativität bezogen werde.

Audimax
Live-Übertragung ins AudiMax: Auch hier zog Helmut Schmidt seine Hörer mit einer gut 70-minütigen Rede in den Bann. Der erhebliche technische Aufwand wurde von Mitarbeitern des Hochschulrechenzentrums geleistet, die demnächst auch ein Video des Festakts online zur Verfügung stellen werden. Foto: vd
Helmut Schmidt trete demgegenüber für einen kategorischen Imperativ für politisches und technologisches Handeln unter Bedingungen einer immer komplexeren Weltgesellschaft auf immer engerem Raum ein. Gegenüber widersprechenden Konzeptionen, gemäß denen jede Kultur ihre eigenen normativen Verbindlichkeiten entwickelt, die untereinander nicht kommunikabel sind und im Konfliktfall nur militärisch aufgelöst werden können, sei „im Interesse einer friedlichen Weltgesellschaft mit Helmut Schmidt für einen normativen Universalismus zu plädieren, wie er zum Beispiel in den universellen Menschenrechten und, gemäß Helmut Schmidt, -pflichten seinen Ausdruck finde.

Christian-Wolff-Vorlesung: „Verantwortung und Gewissen des Politikers“

Im Anschluss hielt Helmut Schmidt die Christian-Wolff-Vorlesung zu „Verantwortung und Gewissen des Politikers“. Angesichts etwa der Konflikte im Mittleren Osten, der Anschläge auf das World Trade Centre, des Todesurteils gegen Sokrates vor zweieinhalbtausend Jahren scheine ihm, so begann er seine Rede, „dass der perennierende Konflikt zwischen Religion und Vernunft und Politik auf ewig ein Teil der conditio humana“ bleibe. In einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung indessen spielten „die Politiker und ihre Vernunft die verfassungspolitisch entscheidende Rolle, nicht aber ein spezifisches religiöses Bekenntnis“. „Selbstgerechte religiöse ‚Gewissheiten’ haben im Laufe von Jahrtausenden unermessliches Unheil und Leiden verursacht“, so Schmidt. Tatsächlich sind religiöse Bindungen nicht unabdingbar: „Offenbar sind herausragende Erkenntnisse, wissenschaftliche Leistungen und so auch ethische und politische Lehren durchaus auch dann möglich, wenn der Urheber sich nicht an einen Gott oder an mehrere Götter ... oder an eine bestimmte Religion gebunden weiß, sondern lediglich seiner Vernunft verpflichtet ist.“ Die innere Bindung an die unveräußerlichen Menschenrechte und an das Prinzip der Demokratie, die bei den meisten Bürgern Deutschlands angetroffen werde, sei „unabhängig vom eigenen Glauben oder Nicht-Glauben“.

An „extremen Beispielen“ aus seiner politischen Erfahrung – etwa die ethisch-moralischen Fragen angesichts der Verjährung von Morden unter der Nazi-Herrschaft, des Vertrags über die Nichtverbreitung atomarer Waffen oder der Geiselnahme durch RAF-Terroristen – machte Schmidt deutlich, dass in diesen Fällen weder Religion noch Grundgesetz eindeutige handlungsleitende Antworten geben konnten, sondern dass es „das sehr schmerzhaft im Gewissen geprüfte Ergebnis unserer persönlichen Vernunft und unserer persönlichen moralischen Einsicht ist, das uns hat handeln lassen“. Immer habe letztlich das eigene Gewissen entschieden, aber „der Gewissensentscheidung war die durchdringende Anstrengung der eigenen Vernunft vorausgegangen“, ohne die der Politiker sein Handeln auch nicht „im Gewissen verantworten“ könne.

Demo
Eine Gruppe von Studierenden demonstrierte vor der Alten Universität gegen die Verleihung der Ehrenpromotion an Helmut Schmidt. Foto: vd
Gleichwohl stünden jeweils gut begründete Haltungen einander in der Demokratie oft gegenüber, sodass „jeder demokratische Politiker weiß: Ich muss Kompromisse eingehen.“ Nicht alle indessen: Demokratische Politik sei ohne Fähigkeit zum Kompromiss nicht möglich, aber eine Verletzung des eigenen Gewissens untergrabe Anstand und Moral und das Vertrauen anderer in die Integrität der eigenen Person.

Abschließend formulierte Schmidt eine „doppelte Einsicht“: zum einen „die Erkenntnis von der Unvollkommenheit jeder offenen Gesellschaft und jeder Demokratie“, die wir darum nicht „zum reinen Ideal erheben“ dürfen, um nicht Zorn und Enttäuschung hervorzurufen. Zum anderen aber hätten „wir Deutschen, unserer kastastrophenreichen Geschichte wegen“, gleichwohl allen Grund, „mit Zähigkeit an unserer Demokratie festzuhalten, sie immer wieder zu erneuern, ihren Feinden aber immer wieder tapfer entgegenzutreten. Nur wenn wir darin übereinstimmen, nur dann behält der schöne Vers von ‚Einigkeit und Recht und Freiheit’ seine Berechtigung“.

Die Christian-Wolff-Vorlesung: Einladung an international renommierte Philosophen für einen öffentlichen Vortrag

Die „Christian-Wolff-Vorlesung" in Philosophie findet seit 1999 statt. Wie auch andere „Namens-Vorlesungen“, etwa die berühmte John Locke Lecture an der Universität von Oxford, zielt die Marburger Institution darauf, einmal im Jahr einen international renommierten Philosophen für einen öffentlichen Vortrag vor der Universität und der Stadt zu gewinnen. Benannt ist die Vorlesung nach dem neben Gottfried Wilhelm Leibniz bedeutendsten deutschen Philosophen der frühen Aufklärung, der zwischen 1723 und 1740 in Marburg Philosophie lehrte.

Christian Wolff gab der Philosophie in der Philippina, der ältesten protestantischen Universitätsgründung der Welt, ein aufklärerisches, das heißt an Wissenschaft und Vernunft orientiertes Profil. Dieses Profil setzt sich in einer großen Tradition über den Neukantianismus fort und prägt auch heute noch das Selbstverständnis des Faches Philosophie in Marburg. Diese Aufklärungsphilosophie ist es auch, mit der Marburg in der philosophischen Fachwelt vor allem des Auslandes heute verbunden wird.

Frühere Redner im Rahmen der Christian-Wolff-Vorlesung waren die Professoren Nicholas Rescher (1999), Günther Patzig (2000), Jürgen Habermas (2001), Hermann Lübbe (2002), Herbert Schnädelbach (2003), Julian Nida-Rümelin (2004) und Jürgen Mittelstraß (2005). Die ursprünglich für 2006 geplante Vorlesung von Helmut Schmidt fand nun erst im Jahr 2007 statt.

Helmut Schmidt – Zur Person

Helmut Schmidt wurde am 23. Dezember 1918 in Hamburg geboren. Nach der Rückkehr aus britischer Gefangenschaft studierte er Volkswirtschaftslehre und Staatswissenschaft in seiner Heimatstadt. Seine politische Laufbahn begann er mit dem Beitritt in die SPD im März 1946. Sie führte ihn über Stationen unter anderem als Hamburger Innensenator, Stellvertretender Parteivorsitzender, Fraktionsvorsitzender und über Ämter als Bundesminister der Verteidigung, Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen sowie Bundesminister der Finanzen schließlich am 16. Mai 1974 in das Amt des Bundeskanzlers, das er bis 1982 innehatte. Seit 1983 ist Helmut Schmidt, der 1975 auch Mitbegründer des Weltwirtschaftsgipfels war, unter anderem Mitherausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT.


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Anfragen zum Text der Rede richten Sie bitte an Frau Elvira Mengel, E-Mail: mengele@staff.uni-marburg.de .


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Kontakt

Professor Dr. Peter Janich
Philipps-Universität Marburg, Institut für Philosophie, Wilhelm-Röpke-Straße 6 B, 35032 Marburg
Tel.: (06421) 28 21375
E-Mail