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06.06.2008

Erste Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vor 50 Jahren gegründet

An der Universität Marburg wurde 1958 die erste Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland eröffnet. Unter ihren Leitern, den Professoren Stutte und Remschmidt, gab sie bedeutende Impulse für die nationale und internationale Entwicklung des Faches.

Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1958
Die Marburger Klinik für Kinder - und Jugendpsychiatrie feiert am 6. Juni ihr 50. Bestehen. 1958 ist sie aus einer bereits 1946 an der Universitäts-Nervenklinik eingerichteten Kinderstation mit 30 Betten hervorgegangen. Ihr erster Leiter, der Marburger Professor Dr. Hermann Stutte (1958 bis 1979), beförderte als erster Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland sowohl die interdisziplinäre Kooperation als auch die interdisziplinäre Lehre. So unterstützte er die Gründung der „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ Ende 1958 in Marburg: Diese Eltern- und Selbsthilfeorganisation sollte die Lebens- und Förderungsbedingungen geistig behinderter Menschen in den nächsten Jahren von Grund auf neu gestalten. Ebenso war Stutte Mitbegründer der „ Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie , die jetzt im 36. Jahrgang erscheint.

Prof. Dr. Hermann Stutte (1909-1982), Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie von 1958 bis 1979
Stuttes Nachfolger Remschmidt übernahm 198o die Leitung der Klinik. "Als Mitglied und Präsident vieler nationaler und internationaler Fachgesellschaften und als hervorragender Wissenschaftler führte Remschmidt die Marburger Klinik bis zu seiner Emeritierung 2006 zu internationalem Renomée", lobt der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Gießen und Marburg, Prof. Dr. Rainer Moosdorf. Remschmidt baute das bereits etablierte Versorgungssystem bedeutsam aus: „Das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung (1980-1985) ermöglichte es, eine Tagesklinik zu begründen und einen mobilen kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst zu etablieren, der ehemalige Patienten nachuntersuchte, Sprechstunden in den Landkreisen durchführte und Institutionen beriet, in denen Kinder und Jugendliche betreut wurden“, so Remschmidt. Zusätzlich wurden wichtige Weiterbildungsinitiativen umgesetzt: erstens gemeinsam mit der Psychiatrie und Psychotherapie eine Weiterbildungsstätte zur Fachschwester und zum Fachpfleger, zweitens ein Weiterbildungsseminar für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie und drittens das 1999 gegründete Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin (IVV) an der Philipps-Universität.

Die Kinder –und Jugendpsychiatrie ist derzeit an 26 der 32 Medizinischen Fakultäten in Deutschland mit einer eigenen Professur vertreten. Darüber hinaus existieren bundesweit mehr als 140 außeruniversitäre klinische Einrichtungen und über 800 niedergelassene Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie befasst sich mit der Diagnostik und Therapie psychischer Störungen von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Sie ist eine eigenständige medizinische Fachrichtung, die in allen entwickelten Ländern vertreten ist und die in Deutschland im Jahre 1968 als eigene Facharztdisziplin von der Bundesärztekammer anerkannt wurde. Im Jahre 1992 wurde der Facharztbezeichnung noch die Psychotherapie hinzugefügt – sie lautet heute: Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie.

Prof. Dr. Helmut Remschmidt
Das Krankheitsspektrum der Patienten, die von Kinder- und Jugendpsychiatern behandelt werden, umfasst zum Beispiel hirnorganische Störungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen, Depressionen, Zwangsstörungen, Essstörungen, Autismus, Alkohol- und Drogenabhängigkeit oder Störungen des Sozial- oder Sexualverhaltens. „Kennzeichnend für die kinder- und jugendpsychiatrische Arbeit ist das interdisziplinäre Team“, erklärt Remschmidt. Ärzte arbeiten mit Psychologen, Pädagogen, Schwestern und Pflegern, Sozialarbeitern und Ergotherapeuten zusammen. Seit ihrer Gründung strebte die Marburger Klinik an, ein umfassendes Versorgungssystem zu etablieren, wozu die Kontaktaufnahme mit Jugendämtern, Heimeinrichtungen, Kindergärten, Schulen, Gerichten und allen anderen Institutionen gehört, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen. "Sehr früh wurde auch mit Elternverbänden Kontakt aufgenommen, lange bevor Elternselbsthilfegruppen sich in Deutschland etabliert haben", sagte Remschmidt. Diese Kooperation begann mit der in Marburg gegründeten Lebenshilfe und setzte sich später fort in der Bundesvereinigung „Hilfe für das autistische Kind“ und mit vielen anderen Selbsthilfeinitiativen.

Die Marburger Klinik war stets eine außerordentlich forschungsaktive Klinik und erhielt große Summen an Drittmitteln von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Bundesministerien, von Stiftungen, von der Max Planck-Gesellschaft und auch von der Industrie. Schwerpunkte der Forschung konzentrierten sich auf Projekte in der Kriminologie (Kinderdelinquenz und Tötungsdelinquenz), auf genetische Untersuchung zu kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen, insbesondere im Rahmen der DFG-Forschergruppe „Genetische Mechanismen der Gewichtsregulation“ sowie auf Familien- und Therapieevaluationsstudien.