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17.09.2008

Die Natürlichkeit des Menschen und der Welt

Internationale Spinoza-Gesellschaft tagte in Marburg

Unter dem Leitthema „Die Natürlichkeit des Menschen und der Welt“ tagte die Internationale Spinoza-Gesellschaft vom 26. bis 28. September an der Philipps-Universität. Spinoza gilt unter den Philosophen der Neuzeit als einer der bedeutendsten Beförderer der Naturalisierung von Welt und Mensch in der Moderne. "Die Tagung ist so angelegt, dass neben der Rekonstruktion der Werke und Positionen Spinozas die systematische Frage nach der Natürlichkeit von Mensch und Welt in ihren vielfältigen Aspekten erörtert werden soll", sagt Prof. Dr. Winfried Schröder, Philosophieprofessor an der Philipps-Universität Marburg.

Der Naturalismus ist zu einer Art „herrschender Ideologie“ in weiten Kreisen der westlichen Welt geworden. „Zwar wird er durch religiöse Fundamentalismen unterschiedlicher Konfessionen in den letzten Jahren immer mehr in Frage gestellt, und innerhalb der Philosophie werden Reduktionismen naturalistischer Prägung oft mithilfe von phänomenologischen Erwägungen oder transzendentalphilosophische Argumentation relativiert“, so Schröder. Trotzdem sei die Überzeugung, dass Menschen natürliche Wesen sind und dass es nichts in der Welt gibt, das nicht als Natur zu beschreiben oder gar durch die Naturwissenschaften zu erklären wäre, weit verbreitet. Die jüngste Debatte um die Neurowissenschaften, vor allem um die menschliche Freiheit, belegt diese Diagnose auf eindrückliche Weise.

Dieses Verständnis des Menschen und der Welt ist relativ neu. Es stammt aus der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts und hat, was die Natürlichkeit des Menschen angeht, durch Darwins Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert stark an Überzeugungskraft gewonnen. Davor war die Natur Teil einer Welt (genauer der Bereich unter dem Mond), die jedoch auch nicht-natürliche Bereiche umfasste. Menschen wurden zwar teilweise als natürlich-sinnliche Wesen, aber– als Ebenbilder Gottes – auch als an einer Transzendenz teilhabende Kreaturen begriffen. Spinoza gehört zweifelsohne zu den Autoren des 17. Jahrhunderts, welche diese Entwicklung vorangetrieben haben. In Anknüpfung an die Stoa hat er die Konzepte des Menschen und der Welt zu naturalisieren versucht, wodurch sein Werk eine enorme Wirkung auf die Philosophie und Naturwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts erlangte. Seine Immanenzontologie, wonach die göttliche Schöpfungskraft eine unpersönliche Kreativität in der Natur ist (natura naturans) und nicht etwas, was jenseits der Natur tätig ist, hat den Naturalismus entscheidend befördert. Sie ist ein wichtiger philosophischer „Motor“ hinter der Entwicklung der modernen aufgeklärten Naturwissenschaften und insbesondere des an diese anschließenden „Weltbildes“ gewesen. Auf Spinoza beriefen sich nicht nur die Materialisten des 18. Jahrhunderts, sondern er inspirierte auch Philosophen des 19. Jahrhunderts wie Johannes Müller oder Theodor Fechner, deren Theorien wiederum von den Identitätstheoretikern in der Philosophie des Geistes der 50er und 60er Jahr rezipiert wurde. Von da aus ziehen sich Spuren bis in die heutige Philosophie des Geistes und deren Interpretation der Neuropsychologie Weniger direkte Wirkung auf die Gegenwart hat Spinozas naturalistische Ethik gezeitigt, allerdings wäre sein Freiheitsverständnis, wonach ein Wesen insofern frei ist, als es aus der eigenen Notwendigkeit heraus tätig sein kann, aber nicht, weil es die kausale Determiniertheit der Welt zu durchbrechen vermöchte, durchaus auch für aktuelle Determinismus-Debatte von Interesse.

Spinozas Naturalismus wurde lange mit einem atheistischen und menschenverachtenden, weil reduktionistischen Materialismus gleichgesetzt. Inwiefern ein solches Verständnis seinem Naturverständnis gerecht wird, ist allerdings fraglich. Die deus-sive-natura-Formel bedeutete für Spinoza vermutlich nicht, dass es „nur“ noch physikalisch zu verstehende Natur gibt, sondern eher, dass wir Gott nicht mehr als transzendentes und personales Wesen begreifen können.

Die Spinoza-Tagung in Marburg befasste sich vor diesem Hintergrund einerseits mit der Frage der systematischen Tragfähigkeit der gegenwärtigen Naturalismus-Konzeption, andererseits wurde auch der spinozanische Naturalismus thematisiert. Zur Debatte standen u.a. das Verhältnis von Natürlichkeit und Freiheit sowie von Natürlichkeit und Normativität, ferner wurde das Konzept einer natürlichen Religion nachgegangen und die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Naturalisierung von Geist und Erkenntnis, wie sie Spinoza vorschlägt, erörtert. Die Podiumsdiskussion verfolgte die Frage, inwiefern die Entteleologisierung der Natur, die Spinoza angestrebt hat, allgemein verbindlich geworden ist, oder immer noch in Frage gestellt werden kann.

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