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27.08.2012

Gedenkbuch erinnert an Opfer der Nazijustiz

Buchpräsentation im Beisein von Justizminister Hahn

Wenige von ihnen sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, manche in ihrem persönlichen Umfeld, an ihren Wohnorten oder bei politischen Gruppen in Erinnerung geblieben: Die Opfer der NS-Justiz stehen im Mittelpunkt eines Gedenkbuches der Historischen Kommission für Hessen, das am vergangenen Freitag im Beisein des hessischen Justizministers Jörg-Uwe Hahn der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

„Der Krieg ist für mich verloren." Für diesen Satz verurteilte das Oberlandesgericht Kassel den Schlosser Julius F. aus Limburg  am 27. August 1943 zu 96 Monaten Zuchthaus, wegen wehrkraftzersetzender Äußerungen. Dies ist eines von 3.834 Unrechtsurteilen der NS-Justiz, deren Opfer das Gedenkbuch dokumentiert. Der Band entstand im Rahmen von Forschungsprojekten der Philipps-Universität zur politischen NS-Strafjustiz in Deutschland und Österreich. „Unser Werk ist den Frauen und Männern gewidmet, die unter der nationalsozialistischen Diktatur Opfer der politischen Justiz geworden sind“, erklärt der emeritierte Marburger Politologe Professor Dr. Theo Schiller, einer der Herausgeber.

„Die richtige Lehre für Gegenwart und Zukunft ziehen“: Im Beisein von Hessens Justizminister Jörg-Uwe Hahn (links) stellten die Herausgeber Wolfgang Form (Mitte) und Theo Schiller das Gedenkbuch „Die Verfolgten der politischen NS-Justiz in Hessen“ der Öffentlichkeit vor. (Foto: Hessisches Ministerium der Justiz/Bearbeitung: Philipps-Universität)

„Erinnern ist der Beginn, aus der Vergangenheit die richtige Lehre für Gegenwart und Zukunft zu ziehen“, sagte Minister Hahn anlässlich der Buchpräsentation. „Diese Urteile waren ein Missbrauch des Rechts.“ Menschenwürde, persönliche Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie seien grundlegende Werte unserer Verfassungsordnung; eine an diese Werte gebundene und unabhängige Justiz sei zur Verwirklichung einer menschenwürdigen Gesellschaft unverzichtbar.

„Lange Zeit war eine historische Aufarbeitung der Schicksale von hessischen Opfern der Nazijustiz nicht möglich, da ein Großteil der einschlägigen Quellen nicht verfügbar war“, erläutert Mitherausgeber Dr. Wolfgang Form vom  „Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse“ der Philipps-Universität. Erst neue Quellenfunde und Forschungen zur politischen NS-Strafjustiz für das Gebiet des heutigen Landes Hessen erlaubten es, dieses Kapitel der deutschen Zeitgeschichte aufzuhellen. Zum einen können damit die von den Verfolgungsmaßnahmen der Justiz Betroffenen benannt werden. Zum anderen ist es nunmehr möglich, die Mechanismen der strafrechtlichen Unterdrückungsmaßnahmen im Detail aufzuzeigen.

Die strafrechtliche Verfolgung stützte sich regelmäßig auf die Delikte Vorbereitung zum Hochverrat, staatsfeindliche Mundpropaganda, Landesverrat sowie ab 1943 auf Wehrkraftzersetzung. Mithilfe der schrankenlos überdehnten Tatbestände konnte jegliche Kritik am NS-Regime strafrechtlich verfolgt werden. So wurden z. B. 1935 das Verteilen von Druckschriften mit drei und mehr Jahren Zuchthaus, ein Jahr später so genannte staatsfeindliche Äußerungen ebenfalls mit mehrjährigem Freiheitsentzug oder 1944 als Wehrkraftzersetzung gar mit dem Tode bestraft.

Das Gedenkbuch dokumentiert die Namen aller Angeklagten und Basisinformationen zu den Gerichtsverfahren - dazu zählt das jeweilige Gericht und die politische Richtung des Anklagevorwurfs sowie der Zugang zu den Akten der ausgewerteten Gerichtsverfahren in der Mikrofiche-Edition und den hessischen Staatsarchiven. Die Daten des Gedenkbuches ergeben sich aus umfangreichen Forschungen über politische NS-Justiz in Hessen, die 1996 bis 2002 an der Philipps-Universität durchgeführt und 2005 publiziert wurden. Grundlage boten vor allem neu zugängliche Quellen über die Verfahren vor den Oberlandesgerichten, die erst in den frühen 1990er Jahren aus DDR-Archiven in das Bundesarchiv übernommen werden konnten. Die ausgewerteten Quellen umfassen mehr als 95 Prozent aller einschlägigen Verfahren.

Bibliografische Angaben: Wolfgang Form, Theo Schiller, Karin Brandes (Hg.): Die Verfolgten der politischen NS-Justiz in Hessen. Ein Gedenkbuch, Marburg (Historische Kommission für Hessen) 2012, ISBN 978-3942225144, 440 Seiten

Weitere Informationen:

Ansprechpartner: Professor Dr. Theo Schiller,
Institut für Politikwissenschaft
Tel.: 06421 28-24389 (Sekretariat Frau Rockel)
E-Mail: schiller@staff.uni-marburg.de

Dr. Wolfgang Form
Internationales Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse
Tel.: 06421 28-26895
E-Mail: form@staff.uni-marburg.de

Literaturhinweise:

·         Wolfgang Form, Theo Schiller (Hg.): Politische NS-Justiz in Hessen. Die Verfahren des Volksgerichtshofs, der politischen Senate der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel 1933 -1945 sowie Sondergerichtsprozesse in Darmstadt und Frankfurt/M. (1933/34).
2 Bände, Marburg 2005.

·         Wolfgang Form, Theo Schiller (Hg.): Widerstand und Verfolgung in Hessen 1933 -1945. Die Verfahren vor dem Volksgerichtshof und den Oberlandesgerichten Darmstadt und Kassel. Bearbeitet von Karin Brandes und Wolfgang Form. Mikrofiche Edition und Erschließungsband. München 2008.