Zurück zur Übersicht

12.05.2017

200 Jahre Berufung Gerlings an die Marburger Universität

Philipps-Universität gedachte der Gründung des Marburger Mathematisch-Physikalischen Instituts im Mai 1817

Prof. Dr. Reinhard Noack (Dekan des Fachbereichs Physik), Prof. Dr. Andreas Schrimpf (Astronom, Fachbereich Physik), Prof. Dr. Karin Reich, (emeritierte Wissenschaftshistorikerin, Universität Hamburg), Prof. Dr. Matthias Steinmetz (Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam) vor der Gerling Sternwarte. Foto: Philipps-Universität Marburg | Markus Farnung

Die Philipps-Universität feierte den 200. Jahrestag der Berufung von Christian Ludwig Gerling (1788-1864) nach Marburg. Ein Festkolloquium erinnerte an den 1. Mai 1817, der Tag, der auch als Gründungsdatum des Mathematisch-Physikalischen Instituts gilt. „Gerling nimmt in der Geschichte des Fachbereichs eine prominente Rolle ein“, erklärte der Marburger Physiker Prof. Dr. Andreas Schrimpf. Gerling war von 1817 bis zu seinem Tode 1864 in Marburg Professor für Mathematik, Astronomie und Physik und erster Direktor des Mathematisch-Physikalischen Instituts. Die Arbeitsgebiete Gerlings waren die Geodäsie – die Wissenschaft von der Vermessung der Erde – und die Astronomie. Gerling ist beispielsweise für die Organisation und Auswertung der Landvermessung Kurhessens und die Gründung der Marburger Sternwarte bekannt geworden.

Heute vertritt Prof. Dr. Andreas Schrimpf das Fachgebiet Astronomie am Marburger Fachbereich Physik. Er ist auch Leiter der 1841 von Gerling gegründeten Sternwarte, die sich im Turm des Institutsgebäudes im Renthof 6 befindet. Schrimpf gab beim Festkolloquium einen kurzen Überblick über Gerlings Werdegang, der ursprünglich Theologe werden sollte, aber ab 1810 seiner Leidenschaft für Mathematik und Astronomie gefolgt war. So promovierte er 1812 in Göttingen bei Carl Friedrich Gauß (1777-1855) über die Berechnung der Sonnenfinsternisse und die Verlagerung des Schattens bei der Sonnenfinsternis vom 7. September 1820. Sein nächstes Forschungsthema war bis 1818 die Berechnung der Umlaufbahn des Kleinplaneten Vesta. Ab 1822 arbeitete er an der kurhessischen Landvermessung mit. Die Besonderheit zur damaligen Zeit war die Verbindung von Geodäsie und Astronomie, die es ermöglichte, auch die Erdkrümmung in die Berechnungen mit einzubeziehen.

Von 1826 bis 1840 beteiligte sich Gerling an der Vermessung eines ihm zugewiesenen Himmelsausschnitts der sogenannten Berliner Akademischen Sternkarten. Der Mathematiker und Astronom Friedrich Wilhelm Bessel hatte zu dieser Aktion aufgerufen, weil zur Erforschung kleiner Himmelskörper und Planeten außerhalb des Sonnensystems dringend genauere und dichtere Sternkarten erforderlich waren.

Ab 1849, acht Jahre nach der Gründung der Sternwarte, befassten sich Gerling und seine Mitarbeiter als erste in Hessen mit Positions- und Zeitmessungen von Kleinplaneten (Asteroiden). Sie beobachteten Sternbedeckungen, Finsternisse und Planeten. Von 1849 bis 1852 verfolgte Gerling ein kühnes Vorhaben: Er initiierte die Gründung der ersten Sternwarte in Südamerika mit dem Ziel, die Umlaufbahn der Venus zu vermessen. Seine Idee war, die Vermessung von zwei weit voneinander entfernten Beobachtungsorten vorzunehmen – im Observatorium in Washington und in einer neu zu errichtenden Station in der Nähe von Santiago de Chile. Gerling erhielt großen Zuspruch von Alexander von Humboldt, dem großen Erforscher des südamerikanischen Kontinents, dessen Brief aus dem Jahr 1851 bis heute einer der Schätze in der Marburger Universitätsbibliothek ist. Finanziert vom amerikanischen Kongress entstand eine erste Sternwarte in Santa Lucia, die der Gerling-Schüler Prof. Dr. Carl Moesta leitete.

Mit Gauß im Göttinger Magnetischen Verein

Zwei wissenschaftliche Projekte, an denen Gerling beteiligt war, standen im Vordergrund des Festkolloquiums. Prof. Dr. Karin Reich, ehemalige Direktorin des Instituts für Geschichte der Naturwissenschaft, Mathematik und Technik an der Universität Hamburg, berichtete über den Göttinger Magnetischen Verein, den Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber 1834 gründeten, um das Magnetfeld der Erde systematisch zu untersuchen. „Der Göttinger Magnetische Verein trat erst spät auf die Bühne der Erdmagnetforschung“, sagte Reich. Führend waren England und Russland gewesen. So gab es in England schon im 17. und 18. Jahrhundert Beiträge zur Erforschung des Erdmagnetismus. Edmond Halley, der Entdecker des nach ihm benannten Kometen, hatte 1701 mit der „Tabula Nautica“ die erste Karte mit Deklinationslinien des Erdmagnetismus erstellt. Auch Alexander von Humboldt war einer der Wegbereiter der Beobachtungen des Erdmagnetismus. Er hatte 1809 zuerst in Paris mit François Arago und dann ab 1816 in Berlin ein privates Observatorium. Angeregt von Humboldt und Arago entstand in der russischen Stadt Kasan ab 1825 ein magnetisches Observatorium, das einen wichtigen Beitrag für die mit Paris und Berlin vereinbarten korrespondierenden bzw. synchronen Magnetfeldbeobachtungen leistete.

Der Göttinger Magnetische Verein war dennoch ein Anziehungspunkt für viele Forscher. Gerling war eines der wichtigsten Mitglieder, mit dem Gauß viele Jahre im Briefwechsel stand. „Gauß hatte keinen weiteren Freund, der auf diesen vier Gebieten geforscht hat: Mathematik, Geodäsie, Astronomie und Physik“, hob Reich hervor. Das Göttinger Netzwerk dehnte sich nach der Gründung des Vereins stark aus. 52 Orte waren in dem Verein vertreten, in Marburg hatte der Verein bis zu 20 Mitarbeiter. Die „Allgemeine Theorie des Erdmagnetismus“ von Gauß sei das wichtigste Werk, das aus der Arbeit des Vereins hervorgegangen ist, meinte Reich. Auf Basis dieser Theorie berechnete Gauß unter anderem die Koordinaten des Nord- und Südpols.

Die Entdeckung des Neptuns – ein Wissenschaftskrimi

Als großer Erfolg der Berliner Sternkarten, an deren Erstellung sich Gerling beteiligt hatte, gilt die Entdeckung des Planeten Neptun im September 1846 in der Berliner Sternwarte nach einer theoretischen Vorhersage. Für Prof. Dr. Matthias Steinmetz vom Leibniz-Institut für Astrophysik (AIP) in Potsdam ist diese Entdeckung ein „Wissenschaftskrimi“, da mehrere Astronomen beteiligt waren und lange Zeit strittig war, wem die Entdeckerehre zukommt.

Nach der Entdeckung des Uranus (1781) als siebter damals bekannter Planet im Sonnensystem durch Friedrich Wilhelm Herschel und der Berechnung seiner Umlaufbahn (1835) durch den Engländer Sir George Airy fragten Astronomen im 19. Jahrhundert, warum der Uranus Unregelmäßigkeiten auf seiner Bahn zeigte, die man von anderen Planeten in diesem Ausmaß nicht kannte. „Die Frage war, ob Newtons Gravitationsgesetz falsch war oder ein anderer Planet die Bahn des Uranus störte“, erklärte Steinmetz. Der französische Astronom Urbain Le Verrier nutzte diese Unregelmäßigkeiten für seine Berechnung der Position des unbekannten Planeten, der anschließend von Johann Gottfried Galle in der Berliner Sternwarte beobachtet werden konnte und von Le Verrier Neptun getauft wurde. Unabhängig von Le Verrier hatte jedoch kurz zuvor auch schon der Engländer John Couch Adams Bahn und Position des Planeten berechnet und der Astronom James Challis hatte den neuen Planeten in Cambridge beobachtet, ohne ihn jedoch als solchen zu erkennen. In der englischen und französischen Öffentlichkeit wurde heftig gestritten, wer der Entdecker sei. Letztlich haben alle ihren Beitrag geleistet, Le Verrier und Adams mit ihren Berechnungen sowie Galle und Challis mit ihren Teleskop-Beobachtungen. Steinmetz leitete aus dieser Geschichte ab, was wissenschaftlichen Erfolg aus seiner Sicht ausmacht. Es sei die Kombination aus der rechten Zeit, klaren Vorhersagen, der Fähigkeit, zu überzeugen und sich überzeugen zu lassen, einer sorgfältigen Durchführung und Glück.

Während zu Gerlings Zeit nur wenige Planeten bekannt waren, werden heute immer wieder neue Himmelskörper entdeckt – bedingt durch die technische Entwicklung der Sternbeobachtung und Erweiterung des Newtonschen Gravitationsgesetzes durch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie. „Wir kennen heute mehr als 3.000 Exoplaneten außerhalb unseres Sonnensystems und gehen davon aus, dass es im Universum dunkle Materie und dunkle Energie gibt“, sagte Steinmetz über die Entwicklung der Astronomie seit Gerlings Zeit. Dank Raumsonden ist heute auch bekannt, dass der Neptun Ringe hat. Einige von ihnen sind nach den Neptun-Entdeckern Galle, Le Verrier und Adams benannt. So seien die Hauptakteure in dem Wissenschaftskrimi „im Orbit des Neptun gut aufgehoben“, meinte Steinmetz abschließend.

Weitere Informationen: Gerling Sternwarte der Philipps-Universität Marburg: https://www.parallaxe-sternzeit.de/gerling

Kontakt

Prof. Dr. Andreas Schrimpf, Fachbereich Physik, Astronomiegeschichte und beobachtende Astronomie
Tel.: 06421 28-21338
E-Mail