23.11.2022 Sozialpsychologische Einschätzung der aktuellen Klimaproteste (aus einem nicht-veröffentlichten Interview)
Die Fragen stammen von einer Presseanfrage, die Antworten von Frank Eckerle.
Welche Gründe sehen Sie für die Unterstützung der aktuellen Klimaproteste und Blockadeaktionen durch Wissenschaftler sowie Kirchenamtsträger und gibt es in der deutschen Nachkriegsgeschichte ähnliche Phänomene?
Aus meiner Sicht ist die Frage viel spannender, warum Menschen NICHT gegen ein weiteres Zusteuern auf die Klimakatastrophe protestieren. Im letzten IPCC Report (2022) steht, dass wir nur noch ein kleines Zeitfenster haben, in dem es möglich ist, eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft auf diesem Planeten zu erhalten. Und dass, um dieses Ziel zu erreichen, globale und teils radikale Veränderungen unserer Gesellschaft nötig sind. Dieses Fazit gab es schon in den 70ern, seitdem ist die Sicherheit der Vorhersage nur gestiegen. Die Erkenntnis, dass wir ein radikales Umdenken brauchen, ist auch nicht unbekannt. Im Gegenteil, politische Entscheidungsträger:innen zitieren diese wissenschaftlichen Fakten, handeln dann aber oft so, als würden ein paar kosmetische Gesetzesänderungen und Anreize das Problem lösen. Das führt zum Vertrauensverlust gegenüber der Politik, auch bei Wisenschaftler:innen wie denen von Scientist Rebellion.
Eine Handlung zu unterlassen, obwohl sie großen Schaden abwenden kann, verletzt unseren Sinn für Moral. Aus der Protestforschung wissen wir, dass diese Verletzung moralischer Prinzipien Demonstrationen und andere Protestformen motivieren kann. Da manche moralische Prinzipien universell sind, können sie unterschiedlichste Gruppen, wie Wissenschaftler:innen und katholische Bischöfe, zusammenbringen. Eine ähnliche Übereinkunft gab es auch, als Martin Luther King in den 60ern als Pastor und Menschenrechtler vor der amerikanischen psychologischen Gesellschaft sprach: Er wies drauf hin, dass nicht die Anpassung an offensichtlich unmoralische gesellschaftliche Verhältnisse, sondern das Aufbegehren gegen diese Verhältnisse eine gesunde gesellschaftliche und menschliche Reaktion ist.
Die offensichtlichsten Beispiele aus der Nachkriegszeit sind die Proteste der Anti-Atomkraft-Bewegung, die u.a. durch die Blockade von Gleisen Erfolge erzielen konnten. Sowie jüngst die Aktionen der Anti-Kohlekraft-Bewegungen, wie z.B. Ende Gelände im Hambacher Forst, die erfolgreich für den Erhalt von Wäldern kämpfen. Dasselbe Prinzip finden wir aber auch während der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 wieder, wo Bürger:innen durch das Widersetzen gegen Demonstrationsgesetze die SED unter Druck brachten.
Welche Prognose(n) stellen Sie aus gesellschaftspsychologischer Sicht für die weitere Entwicklung solcher Proteste, handelt es sich um vorübergehende Erscheinungen oder wird damit langfristig zu rechnen sein?
Ein Teil der Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie auf die Proteste reagiert wird. Es ist davon auszugehen, dass die Proteste verschwinden, sobald die Politik glaubhaft umlenkt. Einerseits werden Bußgelder und teils traumatischen Erfahrungen während der Proteste die Bereitschaft zu diesen Aktionen beeinträchtigen, andererseits inspirieren sie zurzeit viel Zulauf, weil sie politische Selbstwirksamkeit verleihen. Zum Beispiel machte die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen das unzureichende Klimaschutzgesetz der Bundesregierung Hoffnung auf Erfolge auf juristischer Ebene (z.B. die Legitimierung der Proteste). Langfristig können wir allein schon durch die höhere Frequenz von Extremwetterereignissen damit rechnen, dass diese Proteste immer wieder aufflammen, solange ihre Kernforderungen unerfüllt bleiben.
Halten Sie es für möglich, dass das bisherige Postulat der strikten Gewaltlosigkeit bei Aktionen beibehalten wird – oder dass die Aktionen mittel- oder langfristig Gewalttäter auf den Plan rufen könnten, und was würde eine derartige Entwicklung befördern?
Die Gewaltlosigkeit ist eine starke Norm in den Protestgruppen und ich erwarte nicht, dass sich daran etwas ändert. Dabei möchte ich darauf hinweisen, dass die Proteste in ihrem Kern viel konstruktiver sind, als sie auf den ersten Blick wirken: In gewissem Sinn ist eine Straßenblockade oder das beschmieren der Scheibe eines Bilds in einem Museum nämlich nicht nur ein Appell an die Politik, sondern vor allem ein Weckruf an Mitbürger:innen, unmoralische Verhältnisse nicht mehr mitzutragen. Dass es hierbei zu Gegenreaktionen kommt, von Verunsicherung und Wut bis hin zu Versuchen, die Aktionen zu diskreditieren, ist unvermeidlich. Eine Protestbewegung sollte sich davon aber nicht beirren lassen. Denn dieses konsequente Stören des Status Quo regt Debatten an, die sonst nicht geführt werden würden. So wirken diese Proteste gerade durch das konsistente Aufzeigen von Missständen am Ende konstruktiv, und zwar ohne Gewalt. Wie produktiv dieser Weg sein kann, zeigt sich in der Forschung zur Wirksamkeit verschiedener Protestformen, wo das friedliche Stören oft am meisten Erfolg hat (übrigens auch eine Parallele zu Martin Luther King). Wir sehen das auch im Hinblick auf die Erfolge vergangener Bewegungen in Deutschland – wir haben heute z.B. ganz andere gesellschaftliche Normen über Atomkraft als noch vor 50 Jahren, ein Beitrag der Anti-Antomkraft-Bewegung.
Allerdings besteht die Gefahr, dass es zu einer Eskalationsspirale kommt, wenn die Polizei, wie bereits andernorts geschehen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit missachtet. Zum Beispiel, wenn sie Protestierende, die sich an die Straße geklebt haben, gewaltvoll von den Straßen reißt. Untersuchungen anderer Proteste zeigen, dass die Anwendung von Gewalt auf staatlicher Seite die Anwendung von Gewalt unter Demonstrierenden legitimieren kann. Ich sehe hier eine besonders große Verantwortung bei den Medien, eine ausgewogene Berichterstattung sicherzustellen, sowohl präventiv als auch im Falle akuter Auseinandersetzungen.
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Frank Eckerle