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Projekt

1. Wissenschaftlicher Kontext und Entstehungsgeschichte

Der Mittelrheinische Sprachatlas (MRhSA) ist in einem doppelten wissenschaftshistorischen Kontext zu verorten. Zum einen steht er in der Tradition der deutschen Sprachgeographie, die im 20. Jh. in einer Reihe von regionalen Sprachatlanten den Versuch unternimmt, die basisdialektale Arealstruktur des Deutschen 100 Jahre nach Wenker mit nun modernen feldlinguistischen Methoden zu erheben. Zum anderen steht der MRhSA in einer pluridimensionalen variationslinguistischen Tradition, zu der schon im 19. Jh. Dialektologen von Schmeller bis Wegener zu zählen sind, die eine monodimensional-sprachgeographische Reduktion der Dialektologie ablehnten. Die pluridimensionale Sicht war zur Entstehungszeit des MRhSA aber auch rezent vorbereitet durch die kommunikativ-pragmatische Wende in der Sprachwissenschaft der 1960er Jahre, die die Begrenztheit einer bloß sprachgeographischen Dialektologie ins Bewusstsein rief.

2. Forschungsziel

Ziel und Konzept des MRhSA war es, die arealsprachlichen Strukturen in seinem Untersuchungsareal bidimensional, d.h. sowohl hinsichtlich ihrer arealen Erstreckung als auch hinsichtlich ihrer sozialen Differenziertheit zu dokumentieren und zu analysieren. Zu diesem Zweck setzt der MRhSA die diatopisch-horizontale und die diastratisch-vertikale Variationsdimension der Sprache systematisch zueinander in Beziehung: „Während Sprachatlanten herkömmlicherweise gesprochene Sprache lediglich in Abhängigkeit vom Raum dokumentieren, hat der MRhSA die areale (diatopische) und ansatzweise die soziale (diastratische) Dimension zum Gegenstand. Er verfolgt dementsprechend zwei Ziele: (1) die Ermittlung und Dokumentation der Arealstruktur des standardfernsten Bereichs der gesprochenen Sprache, der Basisdialekte, (2) die Ermittlung und Dokumentation diastratisch determinierter ortssprachlicher Kontraste und damit der sich verändernden Arealstruktur in einem immer noch standardfernen Bereich der gesprochenen Sprache, den Regionaldialekten.“ (Bellmann u.a. 1989, 285 f.)

3. Methode und Durchführung

Erhebungsgebiet: Die Daten wurden im Westmitteldeutschen, genauer dem linksrheinische Teil von Rheinland-Pfalz und dem Saarland erhoben. Sprachlich ist das Erhebungsgebiet des MRhSA markant zweigeteilt in den rheinfränkischen Dialektverband im Südosten und in das Moselfränkische als Teil des mittelfränkischen Dialektverbands im Nordwesten. Die beiden Großareale sind verbunden durch ein breites, sich von Saarbrücken in Richtung Koblenz erstreckendes Übergangsgebiet.

Datenerhebung: Der MRhSA untersucht die Phonologie und die Morphologie der Dialekte seines Untersuchungsareals in direkter Erhebung. Grundlage der Informantenbefragung war ein durch Günter Bellmann erarbeiteter Questionnaire (Vgl. Bellmann 1994a, 165–207), der die Lemmata – eingebettet in Satzkontexte – enthält. Die Elizitierung der Sprachdaten erfolgte dann in mündlicher Befragung durch Übersetzung der Fragebuchsätze in den jeweiligen Ortsdialekt, und zwar in der Form eines Gruppen-Interviews der Informanten (3–5 Informanten pro Ort). Was den MRhSA schon in der Datenerhebungsphase von Regionalatlanten traditioneller Machart unterscheidet, ist seine Bidimensionalität: In einer ersten Erhebungsserie wurden Informanten befragt, die in zweiter Generation ortsfest und älter als 70 Jahre waren und die einen manuellen Beruf ausgeübt hatten. In einer zweiten, zusätzlichen Aufnahmeserie wurde in den gleichen Orten und mit derselben Methode eine jüngere Informantenschicht befragt. Die Informanten der zweiten Erhebung waren gleichfalls in zweiter Generation ortsfest und gleichfalls manuell berufstätig. Im Unterschied zu der ersten Serie waren sie aber zwischen 30 und 40 Jahre alt und als Tagespendler ortsmobil: Die idealtypischen Informanten des MRhSA sind also für Serie 1 der/die alte Bauer/Bäuerin, für Serie 2 tagespendelnde Handwerker/innen und Arbeiter/innen der mittleren Generation. Von 1978–1988 wurden in insgesamt 841 Orten 2.510 Informanten befragt. Das Ergebnis der Befragung ist in einem bimedialen Archiv (2.500 Stunden Tonaufnahmen + 841 Aufnahmebücher (IPA-Transkripte) festgehalten.

Kartierung: Die Sprachkarten des MRhSA verwenden das Punkt-Symbol-Verfahren, wobei zwei Kartentypen dominieren: 1. das „Basisblatt“ (1: 600.000), auf dem die spracharealen Erhebungen für die ältere Generation in größtmöglicher Vollständigkeit kartiert sind (Ortsnetzdichte 23%), 2. das „Kontrastblatt“ (1: 1.000.000), das in der Form eines Doppelkartenblatt den Dialekt der Älteren auf dem linken Kartenblatt mit dem Dialekt der Jüngeren auf dem rechten Kartenblatt kontrastiert (Ortsnetzdichte 12%). Der bidimensionalen Erhebung entspricht also hier eine bidimensionale Kartierung. Die Symbolvergabe erfolgt auf sämtlichen Kartenblättern einheitlich-sytematisch: 1. Monophthonge erscheinen stets als Strichsymbole, Diphthonge stets als Flächensymbole; 2. Die Strichstärke der Symbole korrespondiert mit der phonetischen Dauer: Schmale Strichstärke symbolisiert phonetische Kürze, breite Strichstärke symbolisiert phonetische Länge, beim Diphthong Überlänge; 3. Intraserielle Varianten werden stets kartiert und durch ein Komma voneinander abgetrennt; 4. Die Symbolisierung wird für je ein Phonem/eine morphologische Kategorie konstant gehalten. In gleicher Weise wird die Kontrastinformation systematisch behandelt: 1. In Fällen, wo beide Datenserien übereinstimmen ("Null-Kontrast"), bleibt das Symbol im Kontrastblatt schwarz. Wo hingegen der Dialekt der jüngeren Generation mit dem der älteren Generation kontrastiert, wird das Symbol in der rechten Karte des Kontrastblattes (Dialekt der jüngeren Generation) rot gesetzt; 2. Fällt eine Variante oder ein Diakritikum weg, steht im Kontrastblatt eine rot gesetzte kursive Null. Der Atlasbenutzer soll durch diese Visualisierungsverfahren in den Stand versetzt werden, die dialektalen Kontraste sowohl Ort für Ort analysieren zu können als auch in ihrer Konsequenz für eine sich verändernde oder gleichbleibende Arealität beurteilen zu können. Dieses Visualisierungsverfahren leistet damit eine adäquate Abbildung der inhaltlichen Interdependenz von Diatopik und Diastratik und ermöglicht es, sprachdynamische Tendenzen aus dem Kartenbild zu entnehmen. Verschiedene auf den Kartenblättern enthaltene ergänzende Informationen dienen zusätzlich der leichteren Interpretierbarkeit der Sprachatlaskarten: 1. Die Basisblätter enthalten eine Auswahl an Originalbelegen (IPA-Transkription), die eine jeweilige areale Kontextualisierung der in der Karte thematisierten Segmente ermöglichen. 2. Um systematische Reflexe bestimmter Distributionen erkennen zu können, wird ein relevanter vokalischer bzw. konsonantischer Kontext durch „Hilfslinien“ (Isoglossen) in die Punkt-Symbol-Karten eingezeichnet. 3. Die Kontrastblätter enthalten Säulendiagramme, die eine quantitative Analyse der kartierten sprachlichen Merkmale ermöglichen.

Publikation: Der MRhSA ist im ursprünglich geplanten linguistischen Umfang (Phonetik / Phonologie und Morphologie) vollständig publiziert, so dass nun fünf Kartenbände und ein Einführungsband vorliegen. Der MRhSA war zudem von Anfang an linguistisches Experimentierfeld: Sein neuartiger theoretisch-methodischer Zugang gab Anlass zu einer Reihe von Pilotstudien, begleitenden Analysen und dann Datenauswertungen, die das analytische Potential des Werks erprobten. Literaturangaben finden sich in den Literaturverzeichnissen der Atlasbände, sowie unter Publikationen.

4. Wissenschaftliche Resultate

Auch jenseits seiner spezifischen methodischen Innovationen kann der MRhSA auf eine ganze Reihe von Forschungserträgen verweisen. Der MRhSA ist zunächst einmal ein abgeschlossener Regionalatlas zur Phonologie und Morphologie des Westmitteldeutschen. Und als solcher stellt er systematische linguistische Information zu einem Areal des Deutschen bereit, das vorher in größeren Teilen – besonders dem Moselfränkischen – nur extrem lückenhaft erschlossen war. Der entscheidende innovative Ansatz des MRhSA ist die bidimensionale Methode, die es ermöglicht, den Zusammenhang zwischen Diatopik und Diastratik systematisch zu untersuchen und damit Tendenzen des Dialektwandels zu erforschen. Hierbei zeigt sich (vgl. Bellmann u.a. 1989, 301–305), dass der MRhSA in seiner Datenserie 1 (ältere Generation) einen „Sprachzustand mit extrem hoher Dialektalität erreicht.“ (301) Was die Datenserie 2 angeht (jüngere Generation), so dokumentiert der MRhSA einen immer noch tief dialektalen, jedoch tendenziell lokal entdifferenzierten Sprachzustand. Die Kontraste zwischen den beiden Datenserien werden von Bellmann diachronisch und diatopisch interpretiert: „Die vergröberte Arealität, die mit verminderter Dialektalität verbunden ist, läßt sich als diatopischer Wandel auffassen […].“ (303) Zusammengenommen, so Bellmann, „dürfte die Zielvarietät dieser Entwicklung ein sich herausbildender Regionaldialekt sein.“ (305) Wo sich neue Regionaldialekte herausbilden, ist eine eigenständige Entwicklung zu beobachten, die in Teilbereichen sogar durch Innovationen gekennzeichnet ist, die von der neuhochdeutschen Standardsprache wegführen. Der Mittelrheinische Sprachatlas belegt zahlreiche Fälle, die zeigen, dass die regionaldialektale Form nicht nur der lokaldialektalen Form vorgezogen wird, sondern auch derjenigen der Standardsprache, von der man hätte meinen sollen, dass sie durch Medien und Schule besonders gestützt wird. Die durch den MRhSA belegte vorherrschende Tendenz lässt sich also am ehesten mit dem Stichwort „dialektale Regionalisierung“ kennzeichnen. Die Analyse mittels einer vergleichenden Dialektalitätsmessung erlaubt dann auch eine erste Antwort auf die Frage nach dem Dialektabbau: Innerhalb des Bevölkerungssegments, das der Mittelrheinische Sprachatlas untersucht hat, nämlich das der ortsgebürtigen, manuell berufstätigen Menschen zweier Generationen, kann – gegen die Erwartungen der Laien und eines Großteils der Forschungsliteratur – von einer generellen oder partiellen Auflösung der Dialekte nicht die Rede sein. Der Dialekt der jüngeren Generation steht zwar der Standardsprache näher als der Dialekt der Älteren, insgesamt aber doch nur um ca. 6%. Anders gesagt: 94% der Dialektalität bleiben erhalten (vgl. Band 4, Karte 314).

5. Exemplarische Karteninterpretation (Band 4, Karten 349 und 350)

Koronalisierung (vgl. Herrgen 1986, Schmidt / Herrgen 2011) ist die Ersetzung eines dorsalen [ç] durch koronales [ʆ], das phonetisch zwischen [∫] und [ç] angesiedelt ist. Die heute in den mitteldeutschen Dialekten stark verbreitete Koronalisierung ist erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Großstädten des Mitteldeutschen polygenetisch entstanden. In den Karten des MRhSA (vgl. Karten 349, 350) war die Koronalisierung schon in Datenserie 1 areal dominant (vgl. hier: Karte 4). Diese Entwicklung ist im Dialekt der jüngeren Generation keineswegs zum Stillstand gekommen, sondern hat sich weiter fortgesetzt. Außer im relativ kleinen südpfälzischen Reliktgebiet ist die koronale Spirans nun im Gesamtareal praktisch generalisiert. Bemerkenswert ist, dass wir es hier mit einer regionalsprachlichen Innovation zu tun haben, die sich divergent zur Standardsprache und zum traditionellen Dialekt vollzogen hat und vollzieht. Zur Erklärung des Phänomens sind eine Reihe von Faktoren herangezogen worden (vgl. Herrgen 1986): 1. Als Ergebnis einer Reihe von sprachhistorischen Prozessen ist im Deutschen die Reihe der stimmlosen Frikative überbesetzt; eine Distinktion ist schwierig. Eine Neutralisierung der /ç/-/∫/-Distinktion kann daher als artikulatorische Verinfachung gelten; 2. Die funktionale Belastung der Opposition /ç/-/∫/ ist gering, nur sehr wenige Minimalpaare können angeführt werden (Kirche / Kirsche, selig / selisch, Männchen / Menschen). Die geringe funktionale Belastung steht einer Neutralisierung der Opposition also nicht im Wege. 3. In den stark wachsenden Großstädten in den Modernisierungsphasen des 19. Jahrhunderts herrschte aufgrund einer „Melting-Pot-Situation“ relative Normtoleranz: Damit konnte im Mitteldeutschen (anders als im Nieder- oder Oberdeutschen, wo sprachhistorisch andere Voraussetzungen gelten) die Opposition /ç/-/∫/ rasch aufgegeben werden. 4. In den Folgegenerationen wurde die Koronalisierung dann auch in den Dörfern übernommen. Hier wirkten einerseits die gleichen Faktoren wie die oben angegebenen, zum anderen kam hinzu, dass die Koronalisierung aufgrund ihrer Genese nun mit dem Prestige der Städte ausgestattet war. Die Kartenbilder des MRhSA belegen im Fall der Koronalisierung also einen eindrucksvollen regionalsprachlichen Ausbreitungsprozess, sogar divergent zu Standardsprache und Lokaldialekt.

6. Künftige Forschungsperspektiven

Ein mehrdimensional angelegtes Atlaswerk wie der MRhSA erhält dann eine zusätzliche sprachdynamische Aussagekraft, wenn er systematisch auf andere, vergleichbare geolinguistische Erhebungen bezogen wird, die zu differenten Zeitschnitten vorgenommen wurden. Diese methodologische Option lässt sich am Beispiel des MRhSA exemplifizieren, und zwar anhand seiner Integration in zukunftsweisende sprachdynamische Forschungsplattformen wie den „Digitalen Wenker-Atlas (DiWA)“ (www.diwa.info) oder „regionalsprache.de (REDE).“ (www.regionalsprache.de). Diese Forschungsplattformen haben das Ziel, die arealsprachliche Struktur und Dynamik des Deutschen grundlegend zu erforschen, indem unterschiedliche Datenerhebungen in ein einheitliches Online-Analysesystem integriert werden. Durch den systematischen Vergleich des Wenker-Atlasses (Erhebungszeitraum 1876–1887) mit dem MRhSA (Erhebungszeitraum 1978–1988) ergibt sich eine „Real-Time“-Differenz von etwa 100 Jahren, der Vergleich der beiden Datenserien des MRhSA ergibt noch einmal eine „Apparent-Time“-Differenz von 30 Jahren. Es können somit zum Zweck der sprachdynamischen Analyse mindestens 3 Zeitschnitte kontrastiert werden – die zukünftige Integration weiterer vergleichbarer Datenebenen (Tonaufnahmen unterschiedlicher Zeitstufen, Monographien etc.) wird eine weitere Verfeinerung der sprachdynamischen Perspektive bringen. Die schon jetzt mögliche Kombination noch relativ weniger Atlanten innerhalb einer einheitlichen Forschungsplattform lässt sprachdynamische Prozesse von hoher Systematizität sichtbar werden (vgl. Schmidt 2005, Rabanus 2004, 2005, 2008).