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Willkommen auf den Seiten der Emil-von-Behring-Bibliothek / Arbeitsstelle für Geschichte der Medizin 

Was ist und wozu brauchen wir Medizingeschichte?

Die Medizingeschichte ist eine selbständige Wissenschaftsdisziplin, die sich in ihren Methoden, Fragestellungen und Erkenntnisinteressen an den Geisteswissenschaften orientiert. Durch die Bearbeitung der historischen Dimension in ihren unterschiedlichsten Bezügen leistet sie einen Beitrag zu einer systematischen Selbstreflexion in der gegenwärtigen Medizin und ihren modernen Entwicklungen.

Sie betrachtet ihren Gegenstand keineswegs als überwundene Vergangenheit. Innerhalb der zeitlichen Kontinuität zeigt sie die Bedingungen und Bedingtheiten medizinischen Erkenntnisgewinns auf. Sie weist nach, dass die Errungenschaften des Fortschritts keine geradlinigen Erfolgsgeschichten waren, die mit immanenter Stringenz wie selbstverständlich in die gegenwärtige Medizin mündeten.

Durch die Andersartigkeit der historischen Perspektive hält die Medizingeschichte zugleich einen Spiegel bereit, der die Chance bietet, mit einem gewissen Abstand zum klinischen Alltag den eigenen Standort kritisch zu reflektieren. In der vermeintlich sicheren Distanz lassen sich Prozesse und Ereignisse im historischen Raum überblicken, beobachten und analysieren. Die Erkenntnis ihrer Mechanismen und Zusammenhänge ist geeignet, Orientierungen auch für gegenwärtige Entwicklungen und Problemstellungen anzubieten und sie einordnen zu helfen.

Medizingeschichtsschreibung erzählt nicht in einem positivistischen Habitus, „wie es eigentlich gewesen ist“. MedizinhistorikerInnen gehen erkenntnis- und interessegeleiteten Fragen nach, die – keineswegs nur, aber auch – sehr viel mit der zeitgenössischen Medizin zu tun haben, zum Teil sogar durch sie angeregt werden. So kann das Fach zum Beispiel die kulturelle und gesellschaftliche Verortung der Medizin und einzelner ihrer Disziplinen in anderen historischen Phasen aufzeigen, Aufschlüsse geben über das Selbstverständnis früherer Ärzte und Mediziner und die an sie gestellten Erwartungshaltungen. Die Medizingeschichte hat auch etwas zu sagen zu den ökonomischen wie politischen Einflüssen auf die Medizin. Nicht zuletzt lassen sich zu den gegenwärtigen Fragen des Arzt-Patient-Verhältnisses und der Pflege Lösungen und Antworten aus historischer Zeit aufzeigen, deren Kenntnis und kritische Beurteilung aktuell wertvoll sind.

Schließlich hält die Medizingeschichte einen Pool von Modellen und Antworten auf immer gleiche Fragen bereit, etwa: Was ist Gesundheit – was ist Krankheit? Wo liegt die Deutungsmacht?

Diesen Fundus an Erfahrungen und historischen Antworten in ihren jeweiligen Kontexten zu kennen und sich durchaus punktuell und bedarfsorientiert mit ihnen auseinanderzusetzen, kann die eigene Positionsfindung in der gegenwärtigen Medizin mit ihren Möglichkeiten und Grenzen unterstützen. Indem die Medizingeschichte ein solches Forum für begleitende kritische Reflexion bietet, kommt ihr auch im Medizinstudium ein wichtiger Stellenwert zu, um die angehenden Ärzte und Ärztinnen mit dieser Ressource bekannt zu machen.

Irmtraut Sahmland