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Ein Riese in Marburg - das Skelett und Gemälde des "Langen Anton" in der anatomischen Sammlung der Philipps-Universität Marburg

Riesen haben die Menschen seit jeher fasziniert. Schon im Alten Testament begegnet man dem Riesen Goliath, der durch die Steinschleuder des jungen König David getötet wurde. In vielen bekannten Märchen spielen Riesen ebenfalls eine Rolle Riesenwuchs ist keine Laune der Natur, sondern die Folge einer pathologischen Überproduktion von Wachstumshormon.
Zunehmend beschäftigen sich Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen mit der Aufklärung historischer Fälle von Riesen. Dabei kommen moderne wissenschaftliche Methoden zum Einsatz, um die Lebens- und Leidensgeschichten dieser Personen zu rekonstruieren. So sollen der ägyptische Pharao Echnaton (Amenophis IV, 14. Jh. v. Chr.), der römische Kaiser Maximinus Thrax (172/173 – 238) und der Gründer der Ming-Dynastie in China, T´ai tsu (1368-1398) an Gigantismus und/oder Akromegalie gelitten haben.
Eine Rekonstruktion der Lebens- und Krankengeschichte wurde auch im Fall des Langen Anton unternommen, dessen einzigartiges Ensemble aus Skelettpräparat und Gemälde sich in der anatomischen Sammlung des Museum Anatomicum der Philipps-Universität Marburg befindet.
Laut Sterly soll Anton de Franchepoinct (Franckenpoint) ein Haiduck gewesen sein, der in den Diensten von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel stand. Aus dem Fakultätsbuch der Universität Helmstedt geht hervor, dass “Herzog Heinrich Julius am 21. November 1596 aus Gröningen die Leiche des besonders groß gewachsenen Antonii de Franchepoinct nach Helmstedt geschickt habe, damit daraus ein Skelett gefertigt werden sollte.“ In den fürstlichen Kammerrechnungen für das Jahr 1596/97 findet sich unter den gemeinen Ausgaben zum 17. Dezember 1596 folgender Eintrag: „Johanni Sigfrid medico und Professorn zu helmstedt wegen des großen Antonii begrebnus 38 thaler 20 groschen“. Somit ist belegt, dass Johannes Sigfrid, seit 1594 Anatomieprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Helmstedt, die Präparation von Antons Leichnam durchführte und die Kosten für die Beisetzung der Überreste nachträglich erstattet bekam. Ein Eintrag im Kirchenbuch der Gemeinde St. Stephani in Helmstedt bestätigt das angesprochene Begräbnis. Darin heißt es: „Den 23. (Novembris 1596) ist einer begraben worden, Antonius genant, welcher bei hertzogk Heinrich unserm lieben herrn und landesfursten gewesen und zu Gruningen [Gröningen] naturliches todes gestorben, hieher aber zu Helmstet geschicket und anatomirt worden und hernache auff St. Stephans kirchoff begraben.“Antons Leiche wurde also am 21. November nach Helmstedt gebracht, um sie präparieren zu lassen. Die Präparation musste demnach im Laufe des 22. November vorgenommen worden sein, da Antons Überreste bereits am 23. November auf dem Friedhof der Gemeinde St. Stephani bestattet wurden. Am 17. Dezember erfolgte dann die Bezahlung des durch Professor Sigfrid vorgelegten Betrages für das Begräbnis durch Herzog Heinrich Julius. Antons Grab ist heute nicht mehr vorhanden. Die kirchennahen Gräber wurden im Zuge von Umbau und Abrissarbeiten am Kirchengebäude selbst abgeräumt bzw. beseitigt.
Ein Mann von 244 cm bleibt nicht unentdeckt, und so ist es nicht verwunderlich, dass der damalige Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel auf Anton aufmerksam wurde und ihn in sein Gefolge aufnahm. Die Umstände, wie Anton in die Dienste von Heinrich Julius gelangte, sind jedoch unbekannt.
Anton (Antoni, Antonii, Antonij, Anthonie) de Franchepoinct (Franckenpoint, Franck, Francke) wurde vermutlich zwischen 1544 und 1561 in Pont (Ortsteil der Stadt Geldern/Niederrhein) an der heutigen niederländischen Grenze geboren. In einem Eintrag im Kirchenbuch der Nachbargemeinde Straelen von 1568 wird die Hochzeit eines Jacob Franck(e), Sohn von Peter Franck(e), mit Senet Ingen Haeg erwähnt. Es könnte sich bei Jacob Franck(e) um den Bruder des Langen Anton gehandelt haben. Obwohl diese Vermutung nicht zu belegen ist, beweist der Eintrag jedoch die Existenz einer Familie namens Franck(e), die im relevanten Zeitraum um 1560 in Pont bzw. Geldern ansässig war. Bei Antons Nachnamen de Franckenpoint handelt es sich um einen Gallizismus, der sich aus Antons Nachnamen Franck(e), der französischen Präposition de (dt. = von) und Antons Herkunftsort Pont zusammensetzt. Vermutlich hat sich Anton diesen „Künstlernamen“ zugelegt, um sich für sein Publikum interessanter zu machen.

Antons Geburtsjahr wird in keinem Dokument erwähnt, lässt sich aber aus verschiedenen Angaben ableiten, wobei die Informationen zu einem widersprüchlichen Ergebnis führen und so keine klare Datierung ermöglichen. Ein Kupferstich aus dem Jahr 1575 zeigt Anton 14jährig bei einem Aufenthalt in Nürnberg. Aus der Bildüberschrift geht hervor, dass Anton aus Geldern stammt und sich 1575 in Nürnberg aufhielt. Wörtlich heißt es dort: „ANTHONI FRANCK AUS DEM Land zu Gellern geburtig seines Alters 14 Jahr seine Länge ist 3½ Eln, Kam in Nürnberg Anno 1575.“ Dies entspricht einer Körpergröße von 229,78 cm. Der Autor des Kupferstiches konnte nicht ermittelt werden. Das Bild zeigt einen Mann mit auffallend großen Augen, Händen und Nase. Er trägt eine für das ausgehende 16. Jahrhundert typische Bekleidung, bestehend aus einem Wams und einer Halskrause. In der rechten Hand hält er einen Kelch, in der Linken eine Art Schwert. Antons Aufenthalt in Nürnberg wird auch in den Nürnberger Chroniken erwähnt. Darin heißt es: „Den 17. Septem. [1575] ist ein gar Langer man mitt namens Antonius Franck den bischoff zu trier zustendig Auff ein wagn alhie von Nürnberg hinweg gefaren welcher etlich tag hie zur guldin stern zu herberich gelegen. Sein Lang war 3½ elln. Wie er dem mitt leng und gleichung in S. Bitterolts hoff conterfecht.“ Anton logierte demnach im September 1575 einige Zeit im Gasthof Stern, um sich in Nürnberg gegen ein Entgelt zur Schau zu stellen. Im Gasthof Zum Bitterholz war noch lange Zeit eine Wandmalerei von Anton und eines anderen „Riesen“ zu sehen. Der Gasthof war dafür bekannt, dass sich dort „besondere“ Personen ausstellten, ähnlich wie es heute in einschlägigen Künstlerkneipen der Fall ist. Laut dem Beitrag in den Nürnberger Chroniken soll Anton zu dieser Zeit in den Diensten des Bischoffs von Trier gestanden haben.

Ein weiterer Kupferstich aus dem Jahr 1583 zeigt Anton im Alter von 39 Jahren in Straßburg. Die Überschrift des Bildes lautet: „Bildnuß Antonij Franckenpoint auß Gellern / wel-cher seiner ungewonlichen hie unden verzeichneter groeße und laenge halben ist gegenwertiger gstalt angezeiget“. Verleger dieser Arbeit ist der Straßburger Drucker Bernhard Jobin (1545-1593), dessen Schwager Johann Fischart (1546/47-1591) das unter dem Bild gedruckte Gedicht verfasst hat. Der Künstler des Kupferstiches ist laut Andresen der Zeichner Hans Christoph Stimmer (1549-1578), ein mit beiden oben genannten Personen befreundeter Formschneider, dessen Bruder Tobias des Öfteren für Jobin arbeitete. Andresens Beschreibung lautet: „Riese aus Gellern [Geldern]. Brustbild, von vorn gesehen, mit geschlitztem Wams und Halskrause bekleidet“. Die Abbildung von Anton, die schon auf dem Straßburger Flugblatt verwendet wurde, ist in spiegelverkehrter Ausrichtung im Werk von Johann Georg Schenck zu Grafenberg enthalten. Es existiert eine lateinische Erstausgabe von 1609 und eine deutsche Ausgabe aus dem darauffolgenden Jahr. Die Abbildungen sind in beiden Werken identisch, jedoch unterscheiden sich die Bildunterschriften in den beiden Ausgaben.

Eine weitere Abbildung zeigt Antons Darstellung in der lateinischen Ausgabe mit dem dazugehörigen Text. Dieser lautet: „ANtonius Franckenpoint Geldrus origine, annu ages nonu supra trigesimum, statura gigantaea visus est: cuius longitudo Lineam sedecies repetitam (eam quam imagini subiecimus) exaequabat. Familiariter autem cum alibi, tum circa Argentinam urbem, conuixit. Schenckius Filius“. In der deutschen Ausgabe von 1610 lautet die Bildüberschrift: „Contrafactur und Bildnus Antonii Franckenpoint auß Gellern/ welcher under die Riesen billich gezehlet werden kann/ auch seiner ungewöhnlichen grösse wegen alhie abgebildet und vorgestellet worden ist.“ Weiter heißt es unter dem Bild: „Anton`us Franckenpoint auß Gellern bürtig/hat sich hin unnd wider in Teutschland und dem Elsäsischen Rhein[st]raum gehalten/ der ist seiner verwunderlichen grösse halben alhie abgebildet worden. Unnd hat er den hierbeigesetzten strich 13. Ma[h]l gehalten. Als volgt“.
Die Straßburger Arbeit zeigt einen erwachsenen Mann mit auffällig wulstigen Lippen, ausgeprägter Kinn- und Wangenpartie und verhältnismäßig großen Händen. Die Bekleidung (Halskrause, Hose und Wams: hierbei besonders die Knöpfe) weisen große Ähnlichkeit mit dem Gemälde von Anton auf, das sich im Besitz des Museum Anatomicum befindet (Abb. 83, 84). Ein weiterer Beweis für Antons Aufenthalt im Jahr 1583 in Straßburg ist eine Anmerkung in den von Sebald Bühler verfassten Chroniken der Stadt Straßburg. Darin heißt es: „(Der Lange Mann) – mit dem langen mann Anthonie Franckenpoint, so 1583 im jenner hie sich sehen liess, und im Hirtzen zur herberg gelegen – „uff mittwoch, den 6ten tag hornung [Februar] do hab ich selbst mit ime alhie zu S. Johann im grienen werd zu nacht gessen und morgens widerum mit ime aldo zu morgen gessen.“ Sebald Bühler war wohl mit Anton persönlich bekannt und traf sich mit ihm mindestens zweimal zu einem gemeinsamen Essen. Auch in den Ratsbeschlüssen der Stadt Straßburg wird Antons Aufenthalt erwähnt, da das öffentliche sich-zur-Schau-Stellen eine Genehmigung des Stadtrates erforderte. Aus einem Dokument vom 11. Februar 1583, das sich im Archiv de Ville de Strasbourg befindet, geht hervor, dass Anton sich seiner guten Verbindungen zu hochrangigen Adligen rühmte und die Herren (gemeint ist hier wohl der Stadtrat) bat, seine Logiekosten im Straßburger Gasthof Zum Hirschen zu übernehmen. Der Gnadenpfennig, den er um den Hals trägt und der auf dem Bild des Straßburger Flugblattes nur ansatzweise anhand des Bandes um seinen Hals zu sehen ist, hat er nach eigenen Angaben vom Grafen von Hanau, Philipp Ludwig von Hanau-Münzenberg, erhalten. Ein weiteres Dokument vom 13. Februar 1583 beinhaltet den positiven Beschluss des Stadtrates zur Übernahme der Übernachtungs- und Verpflegungskosten für Antons zweitägigen Aufenthalt in Straßburg.
Antons Aktivitäten zwischen den Jahren 1575 und 1583 bis hin zu seinem Tod im Jahr 1596 bleiben unklar. Ebenso die Umstände, die ihn letztendlich in die Dienste von Heinrich Julius führten.
(in Auszügen aus: Ulrich, N.: Das Museum anatomicum am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg. Provenienzforschung zu einer Lehrsammlung des 19. Jahrhunderts. Frankfurt, Peter Lang Verlag, 2018.)