02.04.2025 Zwischen Hochstimmung und tiefem Fall

Ein Leben zwischen Extremen – Prof. Dr. Dr. Michael Bauer forscht im Rahmen des SFB/TRR 393 zur bipolaren Störung und klärt auf

Portrait von Prof. Dr. Dr. Michael Bauer
Foto: Michael Kretzschmar
Prof. Dr. Dr. Michael Bauer ist Standortsprecher des SFB/TRR 393 an der TU Dresden.
Dargestellt ist das Logo des World Bipolar Days - eine gemeinsame Initiative der International Society for Bipolar Disorders (ISBD), der International Bipolar Foundation (IBPF) und des Asian Network of Bipolar Disorders (ANBD).
Der WBD ist eine gemeinsame Initiative von ISBD, IBPF und ANBD.


Sonntag, den 30. März, dem Welttag der Bipolaren Störung, rückte eine Erkrankung in den Fokus, die oft missverstanden wird. Gekennzeichnet durch extreme Stimmungsschwankungen zwischen Hochphasen (Manien) und Tiefphasen (Depressionen), betrifft die bipolare Störung weltweit Millionen Menschen. Doch wie fühlt es sich an, mit dieser Diagnose zu leben? Welche Fortschritte gibt es in der Therapie-Forschung? Forschende im Sonderforschungsbereich SFB/TRR 393 beschäftigen sich mit Diagnose und Therapie. Wir fragen beim Sprecher des TRR 393-Standorts Dresden Prof. Dr. Dr. Michael Bauer, Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum der Technischen Universität Dresden nach.

Der Begriff "bipolare Störung" klingt dramatisch und endgültig - was genau verbirgt sich dahinter? 

Bipolare Störungen sind Erkrankungen mit starken Stimmungsschwankungen, die durch das wiederholte und in der Regel lebenslange Auftreten von länger anhaltenden affektiven Episoden, die Depression und Manie genannt werden, gekennzeichnet sind. Da diese beiden Episodentypen oder auch Pole der Erkrankung entgegengesetzte, spiegelbildliche Symptome aufweisen, spricht man heute von bipolarer Störung. Seit der wissenschaftlichen Erstbeschreibung vor etwa 120 Jahren durch den deutschen Psychiater Emil Kraepelin wurde dieses Krankheitsbild bis in die 1980iger Jahre als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet, ein Begriff, der in der Bevölkerung und in den Medien bis heute weit verbreitet ist.      

Bei einer bipolaren Störung schwankt die Stimmung des Erkrankten zwischen extremen Phasen des Hochs und der Niedergeschlagenheit. Diagnostiziert wird die Erkrankung bei Vorliegen mindestens einer depressiven und einer manischen Episode. Gewöhnlich kommt es im Laufe der Zeit zu einer Vielzahl von Krankheitsepisoden. Beide Pole sind durch eine Vielzahl von Symptomen gekennzeichnet, die bei den Betroffenen mal mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. Typische Symptome der depressiven Phase sind gedrückte, niedergeschlagene Stimmung bis hin zu Suizidgedanken, Verlust von Interesse und Antrieb, Freudlosigkeit, Appetit-und Libidoverlust sowie Schlafstörungen. Für die Manie ist typisch die gehobene oder im Wechsel gereizte Stimmung, gesteigerter Antrieb und Rastlosigkeit, impulsiver und risikoreicher Lebensstil, erhöhter Redefluss, vermehrte und verschwenderische Geldausgaben sowie ein vermindertes Schlafbedürfnis. Sowohl bei Depressionen als auch Manien kann es bei starker Ausprägung der Symptome auch zu psychotischen Erlebnissen kommen mit Wahngedanken und Halluzinationen.

Die Erkrankung kommt bei ein bis zwei Prozent der Bevölkerung in allen Kulturen, sozialen Schichten und Gesellschaften vor. Für Deutschland schätzt man, dass es etwa eine Million Betroffene gibt.   

Wie beeinflusst eine bipolare Störung das Leben der Betroffenen und ihres Umfelds?

Je nach Ausprägung der Erkrankung – gemeint ist damit Schweregrad, Dauer und Anzahl der Episoden – hat die bipolare Störung schwerwiegende Einflüsse auf das Leben der Betroffenen: Schul-oder Ausbildungsabbrüche, Arbeitslosigkeit, Frühberentung sowie hohe Partnerschaftstrennungen sind sehr viel überdurchschnittlicher häufig als in der gesunden Bevölkerung. Dies bedingt, dass das unmittelbare Umfeld im Freundes-und Familienkreis ebenfalls erheblichen Belastungen ausgesetzt ist.    

Die Auswirkungen können gravierend sein: Abbruch von Schule oder Ausbildung und Studium, Verlust des Arbeitsplatzes, sozialer Rückzug und Trennungen vom Partner, um die Wichtigsten zu nennen. 

Angehörige und Freunde spielen bei der Krankheitserkennung- und Bewältigung eine enorm wichtige Rolle. In der Psychoedukation sollte nicht nur der Patient, sondern auch seine Angehörigen Informationen zur Erkrankung, zu den unterschiedlichen Erklärungsmodellen und über die Behandlungsstrategien erhalten. Ein Schwerpunkt ist die Vorbeugung von Rückfällen, hierbei sind die Akzeptanz der Erkrankung sowie die Einsicht in Einnahme vorbeugender Medikation von großer Bedeutung. Je besser der Patient und seine Familie informiert sind, desto günstiger ist die Zusammenarbeit und die Akzeptanz dieser Erkrankung. Die Erarbeitung von Belastungs- und Stressfaktoren und mögliche Bewältigungsstrategien sind ebenfalls Inhalt in der Psychoeduktion, ebenso das Erlernen der Selbstbeobachtung und die Fähigkeit, Frühsymptome rechtzeitig zu erkennen und ggf. ein entsprechendes Krisenmanagement durchzuführen. Mit Hilfe von Psychotherapie und Psychoedukation ist es möglich, den Patienten und seine Familie zu einem besseren Verständnis für die Erkrankung zu führen und Stressoren zu reduzieren und Coping-Strategien im Umgang mit der Erkrankung zu erlernen. Tagesstrukturierung, Planung von Aktivitäten und Regenerationsphasen sowie Erlernen von Entspannungsmöglichkeiten sind weitere wichtige Themen.

Was weiß die Wissenschaft über die Ursachen der bipolaren Störung?

Was sich bei der bipolaren Störung genau im Gehirn verändert, verstehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bis heute nicht vollständig. Erwiesen ist, dass die Genetik eine große Rolle spielt. Kinder von bipolaren Menschen haben ein zehnmal höheres Risiko, ebenfalls zu erkranken. Dennoch ist die bipolare Störung keine Erbkrankheit. Ausgelöst wird sie erst im Zusammenspiel mit äußeren Umweltfaktoren. Frühkindliche traumatische Erlebnisse, extremer Stress oder auch Drogenmissbrauch können bei entsprechender Veranlagung als Trigger wirken. Man geht heute davon aus, dass die Heritabilität, also der erblichen Anteil der Variabilität eines phänotypischen Merkmals einer multifaktoriellen Krankheit, 60 bis 80 Prozent beträgt, womit 20 bis 40 Prozent durch Umweltfaktoren verantwortlich sind, ob jemand krank wird oder nicht.

Trotz der hohen Erblichkeit sind die meisten der zugrundeliegenden genetischen Determinanten nach wie vor unbekannt. Ein internationales Forscherteam, dem auch Wissenschaftler aus den drei Standorten des Sonderforschungsbereich/Transregios 393 (SFB/TRR 393) angehören, analysierten Daten von 158.036 Teilnehmern mit bipolarer Störung europäischer, ostasiatischer, afroamerikanischer und lateinamerikanischer Abstammung im Vergleich zu 2,8 Millionen Kontrollpersonen und kombinierten dabei klinische und selbstberichtete Stichproben. In der Meta-Analyse mit mehreren Abstammungsgruppen wurden 298 genomweit signifikante Genorte, sog. Loci, identifiziert, eine Vervierfachung gegenüber früheren Ergebnissen. Mehrere Analysen weisen auf die Beteiligung bestimmter Zelltypen an der Pathophysiologie der bipolaren Störung hin, darunter GABAerge Interneuronen und sog. „medium spiny“ Neuronen. Zusammengenommen liefern diese Analysen zusätzliche Erkenntnisse über die genetische Architektur und die biologischen Grundlagen der bipolaren Störung.

Welche Fortschritte gibt es in der Therapie?

Mit der passenden Behandlung ist für viele Patienten ein normales Leben möglich. Lithium ist dabei ein zentrales Medikament, seit über 60 Jahren der „Goldstandard“ zur Verhinderung von Krankheitsepisoden. Das Leichtmetall und chemische Element des Periodensystems kommt als Spurenelement auch im Trinkwasser vor, allerdings sind die therapeutisch eingesetzten Dosierungen wesentlich höher als im Trinkwasser. Zwar weiß man bis heute nicht, wie Lithium genau wirkt, doch etwa ein Drittel der Patienten spricht optimal auf Lithium an und kann ohne zusätzliche Maßnahmen ein symptomfreies Leben führen. Bei einem weiteren Drittel stellen sich immerhin erhebliche Verbesserungen ein. Das verbleibende Drittel reagiert nicht oder nur unwesentlich. Dann müssen nacheinander alternative Medikamente, von denen es mehrere gibt, versucht werden. Neue vielversprechende medikamentöse Optionen sind derzeit in unmittelbarer Zukunft leider nicht zu erwarten.

Neben der medikamentösen Therapie hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren die zusätzliche Behandlung mit Psychotherapie durchgesetzt und bewährt, was sich in den Behandlungsleitlinien auch widerspiegelt. 

Ziel der Psychotherapie bei bipolaren Störungen ist es, auf die unterschiedlichen Krankheitsfaktoren Einfluss zu nehmen, insbesondere Stressoren rechtzeitig zu erkennen und emotionale Probleme der Erkrankung, Angst vor einem erneuten Rückfall, Fragen der Stigmatisierung durch die Erkrankung sowie soziale Folgen und Beeinträchtigungen in der Psychotherapie zu bearbeiten. Schwerpunkt ist die Regulierung der sozialen Rhythmik. Unterschiedliche psychotherapeutische Ansätze wie beispielsweise die interpersonelle Psychotherapie, die kognitive Verhaltenstherapie sowie familientherapeutische Verfahren kommen zum Einsatz.

Wie bereits zuvor gesagt, ist davon auszugehen, dass es nicht nur eine Ursache für die Entstehung einer bipolaren Erkrankung gibt, sondern dass verschiedene sowohl biologische, hier insbesondere genetische, Faktoren als auch Umweltfaktoren, insbesondere Stressfaktoren, miteinander in Wechselwirkung stehen. Es ist von einem so genannten "Vulnerabilitäts-Stress-Modell" auszugehen, darunter wird eine Verzahnung genetischer Veranlagungen für die Entwicklung einer bipolaren Erkrankung verstanden, die Erkrankung bricht jedoch nur dann aus, wenn ungünstige Lebensumstände dazu führen, dass eine erhebliche Stresssituation entsteht und dann bei vorliegender Anfälligkeit des Gehirns für bestimmte Stressoren die Erkrankung ausbricht.

Ein Verständnis für dieses "Vulnerabilitäts-Stress-Modell", das im Rahmen psychotherapeutischer und psychoedukativer Therapien vermittelt und erlernt werden kann, kann erkrankten Menschen vielfach helfen, auf ihre Erkrankung besser Einfluss zu  nehmen, indem sie versuchen, Stressfaktoren individuell zu erkennen und sie zu minimieren.

Wie lernen Betroffene mit der Erkrankung zu leben?

Die bipolare Störung kann zu erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität, insbesondere auch der psychosozialen Entwicklung, führen, so dass die Früherkennung dieser Erkrankung und ein frühzeitiger Behandlungsbeginn ausgesprochen wichtig sind.

Oft beginnt die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter, also in einer Phase, in der noch wichtige Schritte für die weitere Lebensplanung - z.B. Schule und Ausbildung - gemacht werden.

Nicht nur der betroffene Erkrankte ist von dieser Erkrankung erheblich beeinträchtigt, sondern die gesamte Familie. Wichtig ist es deshalb, erste Anzeichen einer Erkrankungsphase – sogenannte Frühwarnsymptome wahrzunehmen, um entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen und therapeutische Interventionen beginnen zu können.

Welche Vorurteile gibt es gegenüber der bipolaren Störung - und wie können wir sie abbauen?

Wie bei allen psychischen Erkrankungen, gibt es trotz aller Anti-Stigma-Kampagnen entsprechender Fachorganisationen in den letzten zwei Jahrzehnten auch für die bipolare Störung erhebliche Vorurteile in der Bevölkerung. Es gibt Hinweise darauf, dass Initiativen zur Verringerung der Stigmatisierung eher wirksam sind, wenn sie auf das klinische Profil spezifischer Erkrankungen zugeschnitten sind, doch wurden bisher nur wenige spezifische Stigma-Interventionen für die bipolare Störung entwickelt. Obwohl die meisten Modalitäten der Psychotherapie für bipolare Patienten Aspekte der internalisierten Stigmatisierung ansprechen, ist ihre Anti-Stigma-Wirkung nicht erwiesen. In der Zwischenzeit sollten bei der klinischen Charakterisierung der bipolaren Störung alle Betroffenen über verinnerlichtes Stigma und dessen Auswirkungen auf das Erleben der psychischen Krankheit, die allgemeine Funktionsfähigkeit, die Übereinstimmung mit der Behandlung und die Motivation zur Teilnahme an der Behandlung der Krankheit befragt werden. 

Stigma wird als aus zwei Elementen bestehend beschrieben: öffentliches Stigma und internalisierte , verinnerlichtes Stigma. Die verinnerlichte Stigmatisierung bezieht sich auf die negative Selbstwahrnehmung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Internalisiertes (Selbst-)Stigma bezieht sich auf die Verinnerlichung gesellschaftlicher Einstellungen und diskriminierender Praktiken. Es wird definiert als ein subjektiver Zustand, der „durch negative Gefühle (über sich selbst), maladaptives Verhalten, Identitätsveränderungen oder die Bestätigung von Stereotypen gekennzeichnet ist, die sich aus den Erfahrungen, Wahrnehmungen oder der Erwartung negativer sozialer Reaktionen einer Person aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ergeben. Die Selbststigmatisierung hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Leben von Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Familien. Es kann mit Rückzug, sozialer Ausgrenzung und einer verminderten Lebensqualität einhergehen. In einigen Fällen verhindert verinnerlichte Stigmatisierung oder Selbststigmatisierung die Inanspruchnahme einer Behandlung oder stellt ein Hindernis für eine optimale Behandlung dar.

Die Fragen stellte Martin Schäfer.

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