19.07.2022 „Wissenschaft muss unbequem bleiben“

Podiumsdiskussion beim Festakt zum 20-jährigen Bestehen des Zentrums für Konfliktforschung

Foto: Henrik Isenberg
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Eindrücke von der Podiumsdiskussion zum Thema "Krise in der Friedens- und Konfliktforschung? Das Politische in der Wissenschaft"

Das Zentrum für Konfliktforschung (ZfK) der Philipps-Universität Marburg feierte am Wochenende mit einem Festakt im Vortragsraum der Universitätsbibliothek und den Zentrumstagen sein 20-jähriges Bestehen. Im Mittelpunkt des Festaktes stand die Podiumsdiskussion zum Thema „Krise in der Friedens- und Konfliktforschung? Das Politische in der Wissenschaft.“

„Nie waren wir Politikerinnen und Politiker mehr auf die Expertise der Friedens- und Konfliktforschung angewiesen als heute“, sagte Wissenschaftsministerin Angela Dorn im Videogruß bei der Eröffnung des Festaktes. „Wir brauchen das Wissen, um aufkommende Krisen präventiv anzugehen und angefachte gewaltsame Konflikte zu beenden. Eine Weiterentwicklung dieses Forschungsgebiets ist deshalb wichtig, natürlich auch hier in Hessen. Das Zentrum für Konfliktforschung arbeitet dafür eng mit den Universitäten Frankfurt, Gießen und Darmstadt und dem Leibnitz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zusammen und legt mit seinen erfolgreichen BMBF-Anträgen unter anderem einen Schwerpunkt auf die Profilschärfung im Umgang mit dem kolonialen Erbe. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre hervorragende Arbeit – in Ihrer Forschung ruht unsere Hoffnung auf Lösungen für ein friedliches Miteinander.“

Die geschäftsführende Direktorin des ZfK, Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, hob in ihrem Grußwort hervor: „Ich bin nicht nur voller Bewunderung für die ausgezeichnete Forschungsarbeit der Kolleginnen und Kollegen, sondern auch dankbar für die interessanten Lehrformate, die wir zusammen anbieten, und die engagierte Studierendenschaft, die innovative Projekte anstößt. Wichtig ist mir auch, dass am ZfK Menschen zusammenkommen, die mit großer Hingabe in der Friedens- und Konfliktforschung arbeiten und etwas bewegen möchten, um diese Welt zu einem etwas friedlicheren Ort zu machen.“

Universitätspräsident Prof. Dr. Thomas Nauss betonte: „Friedens- und Konfliktforschung ist in Marburg ein zentrales Thema, denn die Beschäftigung mit Konflikten ist immer von Relevanz. Die Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung sind eine Basis für die Friedensfähigkeit.“ An die Mitarbeiter*innen des ZfK appellierte er: „Stellen Sie sich weiterhin neugierig und entschlossen den Herausforderungen unserer Zeit.“

Gründungsdirektor Prof. Dr. Ralf Zoll sagte beim Festakt: „Ein Alleinstellungsmerkmal der Universität Marburg ist, dass soziale und emotionale Intelligenz und Kreativität gefördert werden. Das bleibt auch bei der aktuellen Arbeit in der Friedens- und Konfliktforschung wichtig.“

In der anschließenden Podiumsdiskussion unter dem Titel „Krise in der Friedens- und Konfliktforschung? Das Politische in der Wissenschaft“ tauschten sich Aydan Özoğuz (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags), Prof. Dr. Hans-Joachim Giessmann (Direktor Emeritus der Berghof Stiftung und Vorsitzender des Beirats des ZfK), sowie vom ZfK Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, Prof. Dr. Thorsten Bonacker (stellvertretender geschäftsführender Direktor), Miriam Tekath (wissenschaftliche Mitarbeiterin) und für die studentische Perspektive Laura Kotzur (ehemalige Studentin am ZfK, Teil des Redaktionsteams des Magazins „Uneins“, Mitarbeiterin in der Nachwuchsgruppe Transnationale Konflikte“, FU Berlin); Dr. Mariam Salehi (Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung, FU Berlin, Nachwuchsgruppenleiterin „Transnationale Konflikte“) zu der Frage aus, welche politische Wirkung Wissenschaft in der Politik haben kann oder soll und ob Wissenschaft politisch sein soll oder muss.

„Viele der Grundannahmen der Friedens- und Konfliktforschung brechen im Augenblick weg“, sagte Hans-Joachim Giessmann. „Wir erleben eine Veränderung des Gefüges, in dem wir unsere Forschung betreiben. Und die Frage ist: Wie wird Wissen unter solchen Voraussetzungen produziert und was kann es bewirken?“ Er betonte die Spannung zwischen der Komplexität der Welt und dem Versuch der Wissenschaft, diese abzubilden auf der einen Seite und der politischen Notwendigkeit von einfachen Antworten auf der anderen Seite. Als einen Kernpunkt formulierte er: „Die Dialogfähigkeit zwischen Politik und Wissenschaft muss erhalten bleiben.“ Als Spannungsfeld benannte Giessmann, dass Wissenschaft rückblickend alles erklären könne, „aber in der strategischen Vorausschau ist die Forschung schwach.“ Es sei wichtig, die Unwägbarkeit, Unschärfe, mangelnde Prognosefähigkeit von Wissenschaft zu akzeptieren. „Wissenschaft muss unbequem bleiben“, resümierte er.

Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz bezeichnete Wissenschaft als wichtige Basis für Debatten und Entscheidungen. Dafür müsse Wissenschaft zugänglich sein, weshalb man sich mit der Frage beschäftigen müsse, wie wissenschaftliche Erkenntnisse auffindbar gemacht werden können. Doch Wissenschaft solle nicht die Rolle der Politik übernehmen, betonte sie: „Wissenschaftler*innen sollten nicht Politiker*innen sein. Politik muss mehr einbeziehen als Forschung allein.“

Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine sagte Thorsten Bonacker: „Wir verfügen über viel theoretisches Wissen und können viele Konfliktentwicklungen, etwa in der Ukraine, sehr gut erklären. Auch an Konzepten zur Beendigung der Gewalt mangelt es nicht. Aber die Konfliktparteien und in diesem Fall vor allem Russland müssen auch selbst zu der Einsicht kommen, dass es besser ist, Konflikte ohne Gewalt auszutragen.“ Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik führte er aus: „Auf der einen Seite haben wir eine extreme Legitimierung wissenschaftlichen Wissens, und gleichzeitig eine sehr starke Delegitimierung, etwa beim Thema Pandemie. Was wir daraus lernen, ist, dass wir der Gesellschaft vermitteln müssen, dass Wissenschaft streiten kann und streiten muss.“ Es gebe Forschungsergebnisse, die öffentlich zugänglich gemacht werden müssen, „aber nicht jede Grundlagenforschung ist für die Öffentlichkeit interessant. Gleichzeitig hat Grundlagenforschung auch eine hohe Bedeutung für die Generierung von Anwendungswissen.“ 

Hintergrund: Zentrum für Konfliktforschung

Das Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg wurde 2001 als zentrale und interdisziplinäre Einrichtung der Universität gegründet. Gründungsdirektor war der Soziologe Prof. Dr. Ralf Zoll. Die Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf der Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen und Prozessen der Friedenskonsolidierung nach massiver Gewalt, auf Intergruppenkonflikten, auf der Politik des internationalen State- und Peacebuilding in Nachkriegsgesellschaften sowie auf den Ursachen und Folgen von konfliktbedingter Flucht und Migration. Im Zentrum arbeiten Wissenschaftler*innen aus den Gesellschaftswissenschaften, der Sozialpsychologie und den Rechtswissenschaften zusammen.

Der Gründung des ZfK gingen die Arbeiten der Interdisziplinären Arbeitsgruppen für Friedens- und Abrüstungsforschung sowie die Einrichtung des deutschlandweit ersten Studiengangs für Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg Mitte der 1990er Jahre voraus. Die Gründung des ZfK 2001 diente dem Ziel, die Aktivitäten der Philipps-Universität in Forschung und Lehre im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung zu bündeln. Seit seinen Anfängen steht die wissenschaftliche Reflexion über Entstehung, Verlauf, Bearbeitung und Transformation von Konflikten im Mittelpunkt der Arbeit des ZfK. Das ZfK wuchs seitdem stetig – von einer Professur für Friedens- und Konfliktforschung zu mittlerweile circa 25 am ZfK tätigen Wissenschaftler*innen. Dazu kommen noch 13 externe Doktorand*innen sowie Gastwissenschaftler*innen, aktuell aus der Türkei, Südafrika, Zimbabwe, Rumänien und Finnland. Auch in der Lehre ist das ZfK einzigartig. Für die 35 Plätze des deutschsprachigen Masterstudiengangs zur Friedens- und Konfliktforschung gehen jährlich mehrere hundert Bewerbungen ein. Aktuell sind 187 Studierende in den Masterstudiengang eingeschrieben. Zudem gibt es einen englischsprachigen Masterstudiengang mit der Universität Kent.

Das ZfK versteht sich als interdisziplinäre Einrichtung an der Schnittstelle von Lehre, Forschung und Wissenstransfer im Feld der Friedens- und Konfliktforschung. Durch die auf dialogisches Lernen fokussierte Lehre sollen Studierende dazu befähigt werden, Konflikte systematisch zu analysieren und zu ihrer friedlichen Bearbeitung beizutragen. Durch die Erforschung und Vermittlung von Wissen zu komplexen Dynamiken von Konflikten und Friedensprozessen in unterschiedlichen Gesellschaften und Weltregionen will das ZfK zu einem besseren Verständnis über Konfliktursachen und nachhaltigen Friedensprozessen beitragen. Dazu wird die Forschung des ZfK in der Öffentlichkeit sowie mit verschiedenen politischen, zivilgesellschaftlichen und von Konflikten betroffenen Akteur*innen diskutiert. Der Transfer von Forschungsergebnissen, anwendungsbezogene Forschung sowie Beratung spielen eine wichtige Rolle, um aktiv zur Prävention und Transformation von Konflikten beizutragen.

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