09.12.2020 Kein Mut zur Lücke

Projekt SENCES untersucht Schlussfolgerungen des Gehirns – Förderung des Europäischen Forschungsrates von rund 2 Millionen Euro

Foto von Labor
Foto: Dr. Alejandro Gloriani
In Blickbewegungsexperimenten der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Alexander Schütz konnte bereits festgestellt werden, dass unser Gehirn gerne Informationen „dazudichtet“, anstatt Mut zur Lücke zu beweisen.

Der blinde Fleck, schlechte Sehkraft oder etwas steht im Weg – den Augen können bestimmte Details verborgen bleiben. Diese Lücken in der Sensorik kann das menschliche Gehirn aber offenbar nur schwer akzeptieren, deshalb denkt es sich die fehlenden Informationen kurzerhand dazu. Doch wie belastbar sind diese sogenannten inferierten Informationen und wie stark bezieht das Gehirn sie in seine Entscheidungsfindung mit ein? Diesen und weiteren Fragen geht der Marburger Psychologe Prof. Dr. Alexander Schütz gemeinsam mit seinem Team in SENCES nach. Das Projekt soll unter anderem weitere Erkenntnisse liefern, wie eine lückenlose Repräsentation unserer Umwelt konstruiert wird und inwiefern diese Prozesse für die Diagnose und Behandlung von Augenerkrankungen relevant sein können. Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) fördert das Vorhaben mit einem ERC Consolidator Grant in Höhe von knapp 2 Millionen Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren. Für Schütz handelt es sich bereits um die zweite Förderung des ERC – 2015 erhielt er einen ERC Starting Grant in Höhe von knapp 1,5 Millionen Euro.

„Die sensorische Information über unsere Umwelt enthält zahlreiche Lücken, die durch die Anatomie unserer Sinnesorgane, Schädigungen im Zuge von Augenerkrankungen oder durch Eigenschaften der Umwelt entstehen“, sagt Prof. Dr. Alexander Schütz vom Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität. So können wir zum Beispiel im blinden Fleck nichts sehen, weil sich dort keine Photorezeptoren befinden. Augenerkrankungen wie die altersbedingte Makuladegeneration können zu einer Schädigung der Photorezeptoren führen, so dass Gesichtsfeldausfälle entstehen. In der Umwelt sind Objekte außerdem häufig nicht vollständig sichtbar, da sie durch andere Objekte verdeckt werden. All diese fehlenden sensorischen Informationen werden durch das Gehirn ergänzt, um zu einer lückenlosen Repräsentation unserer Umgebung zu gelangen. „Weitestgehend unklar ist jedoch bislang, inwieweit das Gehirn diese inferierte Information im Vergleich zu sensorischer Information gewichtet und für Wahrnehmung, Metakognition und Handlungssteuerung benutzt“, sagt Schütz.

In vorangegangenen Untersuchungen konnten Schütz und sein Team zeigen, dass Probanden der inferierten Information mehr vertrauen als sensorischer Information an anderen Stellen. „Das ist ein paradoxes Ergebnis: Das Gehirn kommt gewissermaßen zu eigenen Schlussfolgerungen und vertraut diesen Schlussfolgerungen dann mehr als das, was die Augen tatsächlich abbilden“, sagt Schütz. Solch eine Dissoziation zwischen der tatsächlichen Qualität von Informationen und dem subjektiven Vertrauen könne durch gegenwärtige Wahrnehmungstheorien nur unzureichend erklärt werden.

Im Projekt SENCES („Sensation and inferences in perception, metacognition and action“) sollen diese Inferenzen daher systematisch untersucht und analysiert werden. „Wir vergleichen unterschiedliche Fälle, in denen fehlende sensorische Informationen durch inferierte Informationen ersetzt wurden und untersuchen sie hinsichtlich ihres Einflusses auf Wahrnehmung, Metakognition und Handlungssteuerung“, erläutert Schütz. Hierfür werden Wahrnehmungs- und Blickbewegungsexperimente, Elektrophysiologie und Modellierung sowie Untersuchungen mit Patientinnen und Patienten durchgeführt. Dafür kooperiert Schütz unter anderem mit Prof. Dr. Walter Sekundo und Dr. Anke Messerschmidt-Roth von der Augenklinik des Universitätsklinikums Marburg. „Mit unserer Arbeit möchten wir Erkenntnisse darüber gewinnen, wie eine lückenlose Repräsentation unserer Umwelt konstruiert wird und wie die vielen Lücken in der sensorischen Information ‚versteckt‘ werden“, so Schütz. Das Projekt soll außerdem Informationen liefern, inwiefern diese Prozesse auch für die Diagnose und Behandlung von Augenerkrankungen relevant sind.

„Prof. Dr. Schütz widmet sich einem äußerst spannenden Forschungsfeld, das weitere Erkenntnisse über die Mechanismen der Wahrnehmung bringt – Erkenntnisse, die auch in der Medizin Anwendung finden werden. Ich freue mich sehr, dass der Europäische Forschungsrat das Projekt mit einem Consolidator Grant fördert. Das ist eine tolle Auszeichnung für Professor Schütz und ein weiteres starkes Zeichen, dass die Universität Marburg auch auf europäischer Ebene Spitzenforschung leistet“, sagt Prof. Dr. Michael Bölker, Vizepräsident für Forschung und Internationales der Philipps-Universität. 

ERC Consolidator Grants

Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) bietet exzellenten Forscherinnen und Forschern aller Fachgebiete unterschiedliche Finanzierungsmöglichkeiten für innovative Projekte. So fördern die ERC Consolidator Grants herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich zwischen 7 und 12 Jahren nach der Promotion befinden, mit bis zu drei Millionen Euro.

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