20.05.2020 Zugang zu Westfernsehen beeinflusste Wahlen

Marburger Sozialwissenschaftler analysierten TV-Signalstärke und Wahlergebnisse nach der Wiedervereinigung

Die Signale des Berliner Funkturms reichten nicht überall hin: Marburger Forscher analysierten, wie sich der Empfang von Westfernsehen auf Wahlergebnisse nach der Wiedervereinigung auswirkte.
Foto: Colourbox (Armin Staudt)
Die Signale des Berliner Funkturms reichten nicht überall hin: Marburger Forscher analysierten, wie sich der Empfang von Westfernsehen auf Wahlergebnisse nach der Wiedervereinigung auswirkte.

Alles so schön bunt hier: Wer zu DDR-Zeiten Westfernsehen empfangen konnte, wählte nach der Wiedervereinigung anders als Mitbürgerinnen und -bürger ohne Westempfang – die Stimmenanteile für Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums waren in Gemeinden mit Westempfang herabgesetzt. Das haben Marburger Sozialwissenschaftler herausgefunden, indem sie Wahlergebnisse mit der Signalstärke des westdeutschen Fernsehens ins Verhältnis setzten. Die Forschergruppe veröffentlicht ihre Ergebnisse im „Journal of Comparative Economics“.

Der Marburger Ökonomieprofessor Tim Friehe untersuchte mit seinen Koautoren Florian Neumeier und Helge Müller, wie sich TV-Konsum auf Wahlen auswirkt.
(Foto: Dr. Hannes Rusch)
Der Marburger Ökonomieprofessor Tim Friehe untersuchte mit seinen Koautoren Florian Neumeier und Helge Müller, wie sich TV-Konsum auf Wahlen auswirkt.

Führen freie Medien zu mehr Demokratie? Folgt man bisherigen sozialwissenschaftlichen Arbeiten, so ist der Zusammenhang nicht eindeutig. „Frühere Untersuchungen zeigen, dass der Zugang zu freien Medien nicht automatisch eine Gefahr für autoritäre Regime mit sich bringt“, sagt Professor Dr. Tim Friehe. Die älteren Studien erforschten jedoch, wie sich der Medienkonsum unmittelbar auf die Politik auswirkt; „das Augenmerk unserer neuesten Analyse liegt hingegen auf den langfristigen Effekten“, erläutert der Marburger Volkswirt, einer der Autoren der Fachveröffentlichung.

Vor der deutschen Wiedervereinigung konnte man in der Deutschen Demokratischen Republik nicht überall westliche Fernsehprogramme empfangen – ein Umstand, den Friehe und seine Koautoren Dr. Helge Müller und Dr. Florian Neumeier als natürliches Experiment nutzen. Der Zugang zum Westfernsehen hing insbesondere von geografischen Gegebenheiten ab: Die unzugänglichen Gebiete lagen entweder zu weit von den Sendemasten in der Bundesrepublik entfernt oder befanden sich jenseits von Bergen, die die Signale blockierten.

Etwa 85 Prozent der DDR-Bevölkerung konnte Westfernsehen empfangen; die restlichen 15 Prozent kannten nur ostdeutsches Fernsehen. „Das DDR-Fernsehen diente als Propagandainstrument zugunsten der kommunistischen Führung und gegen die BRD“, konstatieren die Autoren; „die westdeutschen Programme blieben hingegen relativ frei von politischer Einflussnahme und boten einen ungeschützten Blick auf Ost und West.“

Friehe, Müller und Neumeier greifen auf Daten zur Signalstärke des westdeutschen Fernsehens in einzelnen DDR-Gemeinden zurück, die sie zu den Wahlergebnissen nach der Wiedervereinigung in Bezug setzen. Als Ergebnis halten die Verfasser fest: „Regionen, in denen vor der Wiedervereinigung westdeutsche Fernsehprogramme verfügbar waren, weisen sowohl für links- als auch für rechtsextreme Parteien deutlich geringere Stimmenanteile auf. Man kann also mutmaßen, dass das ostdeutsche Fernsehen bei einigen DDR-Bürgerinnen und -bürgern eine demokratie- oder kapitalismusfeindliche Einstellung nährte.“

Das Autorenteam bezieht auch Umfragen aus der Wendezeit ein, die politische Aussagen erhoben. Demnach fürchteten die Befragten die Folgen der Wiedervereinigung weniger und neigten nicht so stark zu Ausländerfeindlichkeit, wenn sie Zugang zu westdeutschem Fernsehen hatten. „Unsere Ergebnisse stützen somit die Vorstellung, dass der Zugang zu freien Medien die politischen Einstellungen beeinflusst“, schlussfolgern die Verfasser.

Professor Dr. Tim Friehe lehrt Finanzwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Dr. Florian Neumeier arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wirtschaftsforschungs-Institut ifo. Dr. Helge Müller war Wissenschaftler an der Philipps-Universität Marburg und ist jetzt als Datenanalyst und Statistiker bei einem Softwareunternehmen tätig.

Originalveröffentlichung: Tim Friehe, Helge Müller & Florian Neumeier: Media's Role in the Making of a Democrat: Evidence from East Germany, Journal of Comparative Economics 2020, DOI: https://doi.org/10.1016/j.jce.2020.04.004