25.06.2021 Exklusive Mitflugzentrale in Zeiten des Klimawandels

Zugvögel helfen nur bestimmten Pflanzenarten, in den Norden abzuwandern

Pech für den Roten Hartriegel (Cornus sanguinea): Da die Pflanze nur im Herbst Früchte trägt, in deren Inneren Samen stecken, kann sie die Mönchsgrasmücke (Sylvia Atricapilla), die dann auf dem Weg gen Süden ist, bestenfalls in wärmere Breiten verteilen. Foto: Luis Ojembarrena
Foto: Luis Ojembarrena
Pech für den Roten Hartriegel (Cornus sanguinea): Da die Pflanze nur im Herbst Früchte trägt, in deren Inneren Samen stecken, kann sie die Mönchsgrasmücke (Sylvia Atricapilla), die dann auf dem Weg gen Süden ist, bestenfalls in wärmere Breiten verteilen.

Mit Hilfe von Zugvögeln in den Norden umziehen, wenn es im Süden durch den Klimawandel zu warm wird – eigentlich eine tolle Idee für wenig mobile Pflanzen. Eine neue Studie mit Marburger Beteiligung im Fachjournal „Nature“ zeigt nun, dass das entgegen bisheriger Annahmen aber lediglich bei wenigen Pflanzenarten funktionieren dürfte. Demnach reisen nur die Samen derjenigen Pflanzenarten als blinder Passagier bei Zugvögeln nordwärts mit, deren Fruchtperiode sich mit dem Frühjahrszug überschneidet. Zudem liegt die Last der potenziellen Ausbreitung der Pflanzen in kühlere Gefilde auf den Federn einiger weniger paläoarktischer Vogelarten.

Der Klimawandel bringt es mit sich, dass Pflanzen ihre Verbreitungsgebiete in den Norden verlagern müssen, um in ihrer klimatischen Komfortzone zu bleiben. Die meisten Samen werden im Radius von einem Kilometer um die Ursprungspflanze ausgebreitet – von allein schaffen es die Pflanzen daher nur, sich über kurze Strecken auszubreiten. Hier kommen die Milliarden an Zugvögeln als Mitflugzentrale für Samen ins Spiel. Die Vögel könnten – so die Theorie – Samen über weite Strecken transportieren und den Pflanzen helfen, neue Gebiete im Norden zu besiedeln.

Soweit die Idee. Ob das aber auch in der Praxis funktioniert, hat ein Team von 18 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dreizehn europäischen Forschungseinrichtungen unter Leitung der Universität Cádiz überprüft. Aus Marburg ist die Naturschutzbiologin Professorin Dr. Nina Farwig beteiligt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konzentrierten sich auf Pflanzenarten mit fleischigen Früchten, weil diese besonders durch Zugvögel gefressen und ausgebreitet werden und ein wichtiger Bestandteil gemäßigter und mediterraner Waldgebiete sind. Die Forscherinnen und Forscher ermittelten in dreizehn Wäldern innerhalb Süd-, Mittel- und Nordeuropas, von welchen Vogelarten solche Pflanzen gefressen werden und wo die Pflanzensamen daher potenziell an anderer Stelle wieder ausgeschieden werden könnten.

Das Ergebnis ist ernüchternd: „Nur 35 Prozent der Pflanzenarten mit fleischigen Früchten werden von Zugvögeln gefressen, die auf der Rückkehr aus den Überwinterungsgebieten sind und danach nordwärts weiterfliegen", sagt Mitverfasser Dr. Jörg Albrecht vom Forschungszentrum Senckenberg Biodiversität und Klima. "Bei über achtzig Prozent dieser Pflanzenarten aber waren die Vögel, die wir beim Fressen beobachtet haben, auf dem Weg in den Süden, also genau dahin, wo es die Pflanzen noch wärmer haben“, führt er aus. „Hinzukommt, dass die Vögel während des Zugs in ihre Überwinterungsgebiete im Süden ungefähr dreimal so viel fressen wie auf ihrer Reise in ihre Brutgebiete im Norden.“

Aber es gibt noch ein zweites Problem: Nicht nur fliegen weniger Pflanzensamen gen Norden als Richtung Süden, sondern es werden auch nur bestimmte nah verwandte Arten mit speziellen Eigenschaften transportiert. Nur wenn eine Pflanze im Frühjahr Früchte trägt, in deren Inneren Samen stecken, können diese auch von Zugvögeln gefressen werden, die gerade aus den Überwinterungsgebieten nach Norden in ihre Brutgebiete ziehen. Daher werden potenziell nur Samen von Pflanzenarten nach Norden transportiert, deren Fruchtperiode sich mit dem Frühjahrszug überschneidet, wie beispielsweise Wacholder und Efeu.

Zusätzlich hat das Team noch eine weitere Entdeckung gemacht: Die Pflanzenarten werden fast ausschließlich von paläoarktischen Vögeln gefressen und ausgebreitet. Diese Vögel haben ihr Winterquartier in Südeuropa oder Nordafrika und kehren früher als afro-paläarktische Zugvögel zurück, die weiter südlich überwintern. Einige Arten, die auf dem europäischen Kontinent im Allgemeinen sehr häufig und zahlreich vorkommen, haben bei der Ausbreitung gen Norden sogar eine absolute Schlüsselrolle inne. Für die Pflanzen mit fleischigen Früchten in den Wäldern des Mittelmeerraums ist das die Mönchsgrasmücke und in den Wäldern der gemäßigten Breiten die Amsel.

„Zugvögel helfen tatsächlich Pflanzen mit dem Klimawandel Schritt zu halten, aber eben nur einer Minderheit und nur bestimmten Arten“, kommentiert Albrecht die Ergebnisse. "Dieser Filter wird die Bildung der neuen Pflanzengemeinschaften in nördlichen Gebieten stark beeinflussen und könnte in der neuen Heimat Ökosystemleistungen, wie zum Beispiel die Produktion von Pflanzenbiomasse und den Aufbau ökologischer Lebensgemeinschaften auf höheren Ebenen der Nahrungskette beeinträchtigen. Zudem ist diese Form der Ausbreitung besonders an einzelne Vogelarten gebunden, von denen einige im Mittelmeerraum sowohl legal als auch illegal stark bejagt werden. Das macht den Transport störanfälliger als die Verbreitung durch viele Vogelarten." (Pressetext: Sabine Wendler, Forschungszentrum Senckenberg)