20.04.2023 Soziale Arbeit als koloniales Wissensarchiv?

Forschungsprojekt zum (post-)kolonialen Erbe Sozialer Arbeit gestartet

Unter der Projektleitung der Alice Salomon Hochschule Berlin forschen Wissenschaftlerinnen der Universität Hildesheim, der Philipps-Universität Marburg und der Hochschule RheinMain (HSRM) gemeinsam mit Vertreterinnen des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin zum (post-)kolonialen Erbe der Sozialen Arbeit in Deutschland. Das Forschungsvorhaben mit dem Titel „Soziale Arbeit als koloniales Wissensarchiv? Ein Geschichtslabor zum (post-) kolonialen Erbe Sozialer Arbeit als Modell historiographischer Lehrforschung“ wird in den kommenden vier Jahren vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Die Entstehung der modernen Sozialen Arbeit als Beruf fällt zeitlich mit der formalen Kolonialherrschaft Deutschlands zusammen. 1893, also zu der Zeit, als das Deutsche Reich sich gerade zur drittgrößten Kolonialmacht entwickelte, wurden aus dem radikalen Flügel der Berliner Frauenbewegung heraus die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit gegründet.
Viele Personen aus der Anfangszeit der Sozialen Arbeit waren zugleich in der kolonialen Bewegung aktiv. Diese historischen Verflechtungen prägten die frühe Phase der Professionsentwicklung der Sozialen Arbeit in erheblichem Maße mit, sind aber bisher noch nicht systematisch erforscht.

Erbe der Sozialen Arbeit in der Gegenwart

Die am Forschungsprojekt Beteiligten werfen nun im Hinblick auf die Gegenwart Sozialer Arbeit die Frage auf, wie die frühen, auch kolonial geprägten Orientierungen innerhalb der Profession tradiert wurden, inwiefern sie Brechungen erfahren haben und welche Alternativen ihnen vielleicht auch entgegengesetzt worden sind.

Dr. Dayana Lau, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Alice Salomon Archiv der Alice Salomon Hochschule Berlin und Leiterin des Forschungsprojektes erklärt: „Innerhalb der Frauenbewegung und der Sozialen Arbeit trafen Rassismus und Kolonialismus nicht gerade auf Widerstand. Soziale Arbeit konstituierte sich als weißer Raum, in dem eurozentrische Vorstellungen von sozialer Ordnung, Bildung, Arbeit und Familienleben handlungsleitend wurden. In Beschreibungen der Lebenswelten von Klient_innen finden sich zum Beispiel koloniale Narrative, indem sie als ‚fremd‘ und ‚unzivilisiert‘ dargestellt wurden.“

Das Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin (PFH) teilt seine Entstehungsgeschichte im Kontext der bürgerlichen Frauenbewegung mit der der ASH Berlin. Die Leiterin des Archivs, Sabine Sander: „Unsere Bestände lassen tiefe Einblicke in die bewegte Geschichte der sozialpädagogischen Ausbildung und Praxis zu. In welchen Formen sich darin die Kolonialgeschichte des Deutschen Reiches abbildet, ist bisher noch vollkommen unerforscht.“ Die Kulturreferentin des PFH Silke Bauer ergänzt: „Unsere Studierenden und Schüler_innen haben hier die einzigartige Gelegenheit, mit den wertvollen Archivdokumenten die Geschichte ihrer eigenen Ausbildungsstätte aufzuarbeiten. So kann es gelingen, Verbindungen zu ihren individuellen, gegenwärtigen Erfahrungen herzustellen.“

Prof. em. Dr. Susanne Maurer, Philipps-Universität Marburg, interessiert sich insbesondere für die Ambivalenzen in der historischen Entwicklung Sozialer Arbeit: „Hier trafen emanzipatorische Ideen und Impulse mit problematischen Ordnungspolitiken zusammen – ein kompliziertes Gefüge, das uns auch in der Gegenwart herausfordert.“ Maurer möchte zusammen mit Studierenden der Philipps-Universität Marburg auch auf regionale Spurensuche gehen: „In Frankfurt gab es um 1900 innovative Ansätze Sozialer Arbeit, die sich – wie im Fall von Bertha Pappenheim, einer wichtigen Protagonistin der jüdischen Frauenbewegung – teilweise auch mit transnationalen Bestrebungen verknüpften. Die zeitgenössischen Initiativen zur ‚Bekämpfung des Mädchenhandels‘ stellen für mich ein interessantes Beispiel für die Verquickung von kolonialen Bildern mit dem Engagement für eine Verbesserung der Lage von Mädchen und Frauen dar.“      

An der Hochschule RheinMain forscht Prof. Dr. Wiebke Dierkes zur Geschichte der Sozialen Arbeit: „Die Verstrickungen der Protagonistinnen der frühen Sozialen Arbeit in das koloniale Projekt werden in den hegemonialen Geschichtsschreibungen selten thematisiert“, kritisiert Dierkes. „Mit dem Forschungsprojekt wollen wir einen Beitrag zur selbstkritischen Historiographie von Profession und Disziplin Sozialer Arbeit leisten und danach fragen, wie sich rassistische und koloniale Perspektiven in Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit eingeschrieben haben“, erklärt Dierkes. „Ob und in welcher Weise diese Narrative und Praktiken bis heute tradiert und re-aktualisiert werden, ist insbesondere auch Gegenstand von Lehrforschungsprojekten, die mit Studierenden der Hochschule im Kontext des Projekts durchgeführt werden“, erläutert Dierkes.

An der Universität Hildesheim bilden Prof. Dr. Viola B. Georgi und Dr. Z. Ece Kaya das Forschungsteam. Dabei ist das Forschungsprojekt anschlussfähig an die Schwerpunkte der Diversity Education am Zentrum für Bildungsintegration, wo u.a. zur diskriminierungs- und rassismuskritischen Bildung geforscht und gelehrt wird. „Von besonderer Relevanz ist dabei ein fundiertes Wissen über die deutsche Vergangenheit bzw. ein kritischer Umgang mit Kontinuitäten von Rassismus in der migrationsgesellschaftlichen Gegenwart. Der Fokus des geplanten Kooperationsseminars für angehende Lehrer_innen liegt daher auf dem historischen Lernen unter besonderer Berücksichtigung der Verstrickung und Involvierung der deutschen Pädagogik in koloniale Machtverhältnisse und Praktiken. Wir schauen dabei auf die Kontinuitäten des kolonialen Denkens in Bildungsmedien, im Unterricht und im Schulalltag“, erklären Georgi und Kaya.

Lehrforschungsprojekte im kommenden Wintersemester

Im Projekt geht es insbesondere darum, die Rolle der Sozialarbeitsinitiativen im deutschen Kolonialismus aufzuarbeiten und Formen der (Re-)Produktion kolonialen und rassistischen Wissens in historischen Quellen der frühen Sozialen Arbeit zu analysieren. Das Herzstück bildet eine Reihe von mehrsemestrigen Lehrforschungsprojekten, die ab dem Wintersemester 2023/2024 in Studiengängen der beteiligten Hoch- und Fachschulen durchgeführt werden und deren Ergebnisse in Publikationen einer breiteren (Fach-)Öffentlichkeit bekannt gemacht werden sollen.