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 „Er lebte nur seiner Musik ...“ – Hermann Stephani als Gründer des Marburger Musikwissenschaftlichen Seminars und Collegium musi­cum1

Von Sabine Henze-Döhring

Seit den Anfängen der Marburger Universität zählte Musik zum Kanon der Fächer2, jedoch nicht als eigenständige akademische Disziplin. Musik diente vielmehr fächerübergreifend zur künstlerischen Bildung, bei der die praktische Musikausübung gegenüber der musikhistori­schen und musiktheoretischen Unterweisung einen sehr hohen Stellenwert einnahm.3 Wie andernorts auch waren diese Aufgaben, als das Fach Ende des 18. Jahrhunderts in Marburg institutionalisiert wurde, einem Universitäts-Musicus, seit 1846 einem Universitätsmusikdi­rektor (UMD) übertragen. Zuletzt, von 1895 bis 1920, hatte dieses Amt eines „reinen“ UMD Gustav Jenner (1865–1920) inne, ein Schüler Brahms’, der sich seinem Selbstverständnis nach zuerst und vor allem als Komponist sah.4 In dem hier zu betrachtenden Zeitraum waren es zwei Persönlichkeiten, die der Marburger Musikwissenschaft sowie dem Musikleben der Stadt Profil verliehen: Hermann Stephani (1877–1960) und Herbert Birtner (1900–1942).

1. Das Musikwissenschaftliche Seminar und seine Vertreter

Unmittelbar nach dem Tod Gustav Jenners, der seit seiner Berufung 1895 zum UMD und Dirigenten des akademischen Konzertvereins für die „Musik an der Universität“ verantwort­lich war und den Bereich Musikgeschichte mit Vorlesungen zu ausgewählten Themen abdeckte (seit 1900 als Titularprofessor), wandte sich die Philosophische Fakultät mit Schrei­ben vom 16. November 1920 an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung.5 Wie es dem Trend der Zeit entsprach, bemühte man sich langfristig um die Etablierung des noch jungen Faches „Musikwissenschaft“. Man suche eine Persönlichkeit, die nicht die „längst veraltete(n) Stellung des Musikdirektors als einer neben dem Zeichen-, Fecht- und Tanzlehrer rangierenden Kraft“ einnahm, sondern „ein(nen) Mann, [...] der seiner Vorbildung und Fähigkeit nach geeignet ist, für das Fach

Foto: Hessisches Musikarchiv
Hermann Stephani

der Musikwissenschaft sich zu habilitieren.“ Als am 7. Februar 1921 einstimmig die Entscheidung zu Gunsten von Hermann Stephani fiel6 und dieser im selben Jahr seine Stellung auch antrat7, hatte man in der Tat für Marburg „ein(en) Mann“ gewonnen, welcher die hochgesteckten Erwartungen mehr als zu erfüllen versprach: Stephani war 1902 an der Universität München im Fach Psychologie von Theodor Lipps pro­moviert worden8 und hatte sich nach verschiedenen Positi­onen als Chor- und Orchesterdiri­gent 1906 als Organist und Kirchenmusikleiter in Eisleben beruflich niedergelas­sen. Die Her­vorhebung dieser musikprakti­schen Tätigkeit ist deswegen von Belang, da sie in Marburg in mehr oder weniger gleicher Richtung fortge­führt wurde. Im Hinblick auf die Etablierung des Faches Musikwissenschaft übertraf Stephani ohne Zweifel aller Erwartungen. Bereits am 12. November 1921, nur wenige Monate nach seiner Ernennung, habilitierte er sich in Marburg9 (Antrittsvorlesung am selben Tag), erhielt 1922 einen remunerierten Lehrauf­trag, gründete das Collegium musicum (instrumentale)10, reorganisierte den Chor, wurde 1925 Direktor des von ihm neugegründeten „Musikwissenschaftlichen Seminars“, führte 1927 das Fach Musik­wissenschaft als Hauptfach ein und wurde noch im selben Jahr zum ao. Professor ernannt.11 In diese Zeit fiel auch seine Ernennung zum Staatli­chen Musikfach­berater. Die 1931 ange­strengten Bemühungen der Philosophischen Fakultät, Stephani auf den Posten eines „beam­teten Musikdirektors“ zu heben, da er eine nur „beschei­dene, zu den Anforderungen seiner Stellung kaum im Verhältnisse stehende Vergütung bezieht und keinerlei Pensionsansprüche besitzt“12, waren erfolglos. Stephani blieb dem Musik­wissenschaftlichen Seminar als nichtbe­amteter ao. Prof. bis 1942, als er 65 wurde, ver­bunden und wirkte von Mai 1942 bis Mai 1945 auf jährlichen Antrag als Lehrbeauftragter.13 Am 1. Mai 1937 war er, ohne jemals ein Amt zu übernehmen, der NSDAP beigetreten, 1939 dem NS-Dozentenbund.

Herbert Birtner war nach seiner Promotion 192414 bei Theodor Kroyer und seiner bis 1927 anschließenden Assistentenzeit in Leipzig 1928 nach Heidelberg umgezogen, wo von diesem Jahr an Heinrich Besseler als ao. Prof. lehrte. Er habilitierte sich jedoch im Februar 1930 nicht in Heidelberg, sondern in Marburg15 und wirkte dort bis zu seiner Ernennung zum ao. Prof. im Jahre 1938 als Dozent für Musikwissenschaft. Seit 1935, dem Jahr seiner Ernennung zum Leiter der „Landschaftsstelle für Musik in Kurhes­sen“, richtete sich sein fachliches Augen­merk, wie er schreibt, auf den „Ausbau der landschaftlichen Arbeit“.16 1940 wechselte er auf die neu eingerichtete Professur (Extraordinariat letztendlich auf Ent­scheidung des Ministerial­rats Frey im Reichserziehungsministe­rium17) nach Graz. Birtner war 1933 der SA beigetreten und 1938 im Dienstrange eines „Scharführers mit der Betreuung des Referates für Kultur und Feiergestaltung bei der Standarte J 11“ in Marburg beauftragt. Seit 1937 war er Parteianwär­ter18. 1942 wurde er in den Kriegsdienst einberufen und fiel noch im selben Jahr in Russland.

2. Die akademische Lehre

Stephani wie auch Birtner setzten sich für das Musikwissenschaftliche Seminar wie für das Collegium musicum mit großer Energie ein. Stephani war auf dem Gebiet der Musikpsycho­logie ausgewiesen, Birtner galt als ein vorzüglicher Fachmann für die Musik des 15. bis 17. Jahrhunderts. Betrachtet man die Vorlesungsverzeichnisse aus dem Zeitraum 1935 bis 194519, so ergibt sich in etwa folgendes Bild: Stephani sowie auch Birtner unterrichteten die Fächer Musik und Musikwissenschaft jeweils in Personalunion (erstmals mit der Berufung Hans Engels 1946 zum Ordinarius sowie Kurt Utz’ 1948 zum UMD wurde dieser Zustand aufgeho­ben). Während die Vorlesungen (in der Regel überblicksartig und oft „für Hörer aller Fakul­täten“) sowie die Übungsstunden des Collegium musicum instrumentale (Stephani) und Col­legium musicum vocale (bis 1940 Birtner) unter der Rubrik „Kunst, Bauforschung, Musik“ verzeichnet sind, werden die musikwissenschaftlichen Übungen gesondert als Veranstaltun­gen des Musikwissenschaftlichen Seminars ausgewiesen. Die Vorlesungsverzeichnisse dokumentieren ferner, dass Marburg voll im Trend der Musikwissenschaft nach dem ersten Weltkrieg lag.20 Gegenstand der Betrachtung ist (von seltenen Ausnahmen wie zum Beispiel Josquin oder Monteverdi im Bereich der von Birtner vertretenen älteren Musik abgesehen) einzig und allein die „deutsche“ Musik mit Vorlesungen zu Bach, Mozart oder Beethoven, zu Klassik und Romantik, zum deutschen Lied, zu Oper und Musikdrama (Stephani), zur Kir­chenmusik (Stephani), zuweilen explizit unter dem Thema „Geschichte und Wesen der deut­schen Musik“ (Birtner). Marburg war damit weitaus weniger als andere Musikwissenschaftli­che Institute vom „Zeitgeist“ geprägt, der sich im wesentlichen in Lehrveranstaltungen zum Thema „Musik und Rasse“ oder zum Thema Volks- und/versus Kunstmusik niederschlug.21 Nicht eine einzige der Marburger musikwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen widmet sich dem Aspekt der „Rasse“, so wie dies etwa in München, Heidelberg oder Köln der Fall war.22 Eher selten standen „systemkonforme“ Themen wie „Volkslied und Kunstlied“ (Stephani, Birtner) oder „Das Lied des deutschen Volkes“ (Stephani) auf dem Programm. Dass Birtner den Vorstellungen eines Musikwissenschaftlers „der Zeit“ entsprach, lässt sich indirekt aus seiner – wie bereits erwähnt – 1940 auf ministeriale Weisung erfolgten Berufung auf das neu­gegründete Extraordinariat für Musikwissenschaft nach Graz ablesen. Wie aus einer Stellung­nahme des Reichserziehungsministeriums zu seiner politischen Haltung hervorgeht, galt er als „aufgeschlossen u. einsatzwillig“23. Dass ihm wichtige Ämter auch außerhalb der Universität angetragen wurden (Leiter der „Landschaftsstelle für Musik in Kurhessen“ mit dem in dieser Zeit von Kassel nach Marburg überführten Kurhessischen Volksliedarchiv, Vorsitzender der Neuen Schütz-Gesellschaft), unterstreicht diesen Eindruck einer in der Sache engagierten, karriereorientierten Persönlichkeit.

3. Stephanis „Großkonzerte“ 1922–1945

Stephani, bei der „Machtergreifung“ Mitte fünfzig, konnte sich ohne Rücksicht bzw. – kor­rekter formuliert – Hoffnung auf Absicherung seiner beruflichen Existenz freier als Birtner bewegen und blieb über die Zeiten hinweg seinen wohl um die Jahrhundertwende festgelegten Prinzipien treu. Sein Ideal war die „deutsche“ Musik von Bach bis Bruckner, ihre klangliche Vergegenwärtigung sein Lebensziel, wo, unter welchen Bedingungen und in welcher Position auch immer. Mit diesem „Lebensplan“ war er beruflich angetreten, und er verfolgte ihn bis zum abrupten Ende seines Wirkens im Jahre 1945. Stephani brachte seine Marburger Ambi­tion, formuliert aus seiner Sicht unmittelbar nach dem „Zusammenbruch“, wie folgt auf den Punkt: „Meine beiden Amtsvorgänger Prof. Dr. h.c. Richard Barth und Prof. Dr. h.c. Gustav Jenner waren durch Brahms’ Fürsprache nach Marburg gekommen und hatten hier eine Hochburg der Brahmspflege errichtet. Ich begann sogleich mit einer betonten Bruckner-Pflege, bemühte mich um einen Brücken-Bau von Marburgs klassizistischer Grundhaltung zur damaligen Gegenwartsmusik und verankerte die Chortätigkeit in jährlich 4 Großaufführun­gen. Die letzte deutsche Matthäus=Passion vor dem Zusammenbruch erklang zu Marburg waährend [!] Fliegeralarms am 11. März 1945; mit ihr nahm ich Abschied von der mir lieb gewordenen Amtstätigkeit.“24

Die auffällige Formulierung „letzte deutsche Matthäus-Passion“ deutet darauf hin, dass Stephani, als er diese Lebensrückschau hielt, offensichtlich in der Vorstellung befangen war, nicht nur der Krieg sei verloren, das nationalsozialistische Regime beendet, sondern zugleich das Ende der „deutschen“ Musik gekommen. Politisch hatte er sich nicht betätigt. Im Zusam­menhang seines Entnazifizierungsverfahrens brachte er eine Reihe „unbelasteter“ Zeugen bei, die ihm schriftlich bestätigten, dass er ein „unpolitischer“ Mensch sei und „nur seiner Musik lebte“.25 Stephani hatte in seinem Meldebogen geltend gemacht: „Nur durch Eintritt in die Partei wurde es mir möglich, was Berufskollegen ohne Pgzugehörigkeit verboten wurde: meine seit 1905 regelmässig durchgeführten grossen Kirchen-Aufführungen von Kantaten, Oratorien, Messen, der Matthäuspassion bis zum 11. März 1945 unangefochten durchzufüh­ren.“26 Wie aus der Klageschrift vom 10. September 1946 hervorgeht, folgte die Spruchkam­mer seiner Argumentation, stufte ihn in Gruppe IV als Mitläufer ein, als der sich Stephani auch selber sah, und legte ihm eine Geldbuße von 400 RM auf. Der Gedanke, dass es für einen Außenstehenden seltsam vorkommen musste, dass er in den letzten Wochen vor dem „Zusam­menbruch“ offensichtlich nichts Wichtigeres kannte als die alljährliche Aufführung der Mat­thäus-Passion auch in dieser Situation, kam Stephani nicht in den Sinn. Er nahm das Urteil mit dem Argument an, er sehe mit dem Urteil anerkannt, dass „meine Lebensarbeit eine wirk­lich rein sachliche gewesen und geblieben ist“ und er in den letzten Jahren unter „erschwer­testen Verhältnissen [...] die großen Kirchenaufführungen für die breiteste Allgemeinheit“ durchgesetzt habe, „die fast im gesamten übrigen Deutschland schließlich völlig zum Erliegen gekommen waren.“27

Versucht man nun, Stephanis Wirken als Leiter des Collegium musicum instrumentale und des Marburger Konzertchors erstens in Verbindung mit seinem künstlerischen Programm einer Modernisierung zu sehen, zweitens vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Kulturpolitik, so ergibt sich ein unerwartetes Bild. Die Untersuchung fußt auf der Auswertung der Konzertprogramme und Kritiken aus dem Nachlass Stephani28 sowie den Ankündigungen und Besprechungen der Konzerte in der Oberhessischen Zeitung.29 Das Material wurde zunächst unter dem Aspekt geprüft, ob Stephani tatsächlich Ernst gemacht hatte mit der „Modernisierung“ des Marburger Musiklebens; es stellte sich sodann die Frage, was er unter der „Gegenwartsmusik“, die er Marburg nahebringen wollte, verstand, die internationale „Moderne“ (Stravinskij z. B.) oder aber die genuin „deutsche“ Musik der 20er und 30er Jahre. In einem zweiten Schritt wurde untersucht, ob sich die von Stephani verantworteten Konzert­programme nach der „Machtergreifung“ änderten (abgesehen von der Entfernung der „ver­botenen“ Werke) und – wenn ja – in welche Richtung.

Stephanis Tätigkeit als Konzertveranstalter umfasste in der Regel jährlich vier Großveranstal­tungen mit dem Chor des Konzertvereins und dem Orchester erst der „Musikfreunde“, seit 1924 des Collegium musicum, verstärkt um auswärtige Kräfte (bis dahin gab es lediglich ein größeres Kirchenkonzert jährlich). In den frühen 20er Jahren wurden diese Veranstaltungen vom Marburger Konzertverein getragen, danach auf eigenes Risiko – oft mit Verlusten ver­bunden – von Stephani. Nach der „Machtergreifung“ wurde der Konzertverein dem Kampf­bund für deutsche Kultur unterstellt, seit 1935 war die N. S. Kulturgemeinde „Kraft durch Freude“ Träger der Konzerte. Die Frage, in welche Richtung Stephani aufbrach, um seinen Anspruch, die Marburger Bürger nach der Ära Jenner mit der Musik der „Gegenwart“ zu kon­frontieren, ist schnell beantwortet: Die „modernen“ Werke sind mehr oder weniger an einer Hand abzuzählen, mit Ausnahme Felix Draesekes aus Anlass seines 100. Geburtstags (1935) in der Zeit vor 1933 aufgeführt worden (sie beziehen sich mithin nur auf die ersten zehn Jahre von Stephanis Tätigkeit) und ohne Ausnahme „deutscher“ Provenienz: Es handelt sich mit Ausnahme einiger weniger Werke von Stephani selbst konkret um: Anton Bruckner (3., 4., 7. und 8. Symphonie, Te Deum), Felix Draeseke (Vorspiel zu seiner Oper „Herrat“, Requiem), Joseph Haas (Sinfonische Suite „Tag und Nacht“), Hugo Kaun (3. Symphonie), Gustav Mahler (4. Symphonie), Arnold Mendelssohn (Violinkonzert op. 88, Passionskantaten), Max Reger (Romantische Suite op. 125, „Komm, Trost der Welt“, für Bariton, Chor und Orches­ter), Richard Wagner (Vorspiele zu „Tristan und Isolde“ und „Meistersinger“), Richard Strauss („Tod und Verklärung“, „Don Juan“). Wie mühelos zu ersehen, verstand Stephani unter Musik der „Gegenwart“ nicht Kompositionen der Moderne oder Avantgarde, sondern sogenannte „spätromantische“ Werke des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts allein und ausschließlich deutscher Provenienz. Stephanis Horizont im Blick auf „Gegenwartsmusik“ war – um es ebenso nüchtern wie respektvoll auf den Begriff zu bringen – begrenzt. Dennoch muss ihm zugute gehalten werden, dass er dieses Repertoire zum Teil erstmals in Marburg zu Gehör brachte. Wenn er in den frühen 30er Jahren auch diese Initiative einer bescheidenen Modernisierung restlos einstellte und sich nun vollauf wieder auf Bach („Matthäuspassion“, „Weihnachtsoratorium“, „h-Moll-Messe“), Händel („Herakles“, „Judas Makkabäus“ und „Jephta“), Haydn („Die Jahreszeiten“), Mozart (Symphonien, Requiem), Beethoven (Sym­phonien, Missa solemnis) und letztlich eben doch wieder auf Brahms (Symphonien, „Deut­sches Requiem“) konzentrierte, so mag das auf Zugeständnissen gegenüber den Marburgern beruhen; mit Ausnahme von Arnold Mendelssohn und Gustav Mahler, der in Marburg im übrigen nur ein einziges Mal zu Gehör kam, war keiner seiner „Modernen“ während der Nazizeit unerwünscht. Da Stephani auf den ersten Blick und seinem eigenen Selbstverständ­nis nach von 1933 bis 1945 nichts anderes tat, als das „klassische Erbe“ deutscher Symphonik und geistlicher Musik zu „pflegen“, hatte er sich – mit Ausnahme seiner textlichen Eingriffe in Mozarts Requiem sowie der Bearbeitung von Händels „Judas Makkabäus“ und „Jephta“ – nach dem Krieg nichts vorzuwerfen. Bevor dieser sehr heikle Komplex ins Blickfeld der Betrachtung rückt, sei noch Stephanis weiteres Wirken als Konzertveranstalter umrissen.

4. Marburg und die „Alte Musik“

„Frischer Wind“ kam in das Marburger Musikleben durch die Gründung des Musikwissen­schaftlichen Seminars und den Jubiläumsbau mit dem neuen Konzertsaal, der am 6. Dezem­ber 1931 mit einem Konzert des Musikwissenschaftlichen Seminars (Corelli, Vivaldi, Bach, Händel) offiziell eingeweiht wurde.

Zwischen 1932 und 1945 veranstalteten Stephani und das Seminar eine Vielzahl von Konzerten, die sich unter anderem dadurch auszeichneten, dass sie signifikant häufig historisch ausgerichtet, zuweilen thematisch gebunden waren („Das ritterli­che Spanien“, „Altenglische Gesellschaftsmusik“, „Grand siècle: Die Musik des 17. Jahrhun­derts in Frankreich“; Zeitgenössischer Liederabend mit Werken Pfitzners, Regers und Stepha­nis usw.) wobei zu berücksichtigen ist, dass sich auf diesem Gebiet im Rahmen der Konzerte des Musikwissenschaftlichen Seminars vor allem Herbert Birtner große Verdienste erwarb. Damit gerät nun ein weiterer Aspekt in den Blick, die Frage nach Stephanis, aber auch Birtners Verhältnis zur „alten“ Musik bzw. zur Laienmusik als „Gemeinschaftskunst“, dem Scharnier zur Musikausübung des NS-Regimes.

Wie sich aus der detaillierten Auswertung der Programme ergibt, standen sowohl Stephani als auch Birtner der Laienmusikbewegung, wie sie sich nach dem ersten Weltkrieg etabliert hatte und unter dem Nationalsozialismus politisch funktionalisiert worden war, uninteressiert gegenüber.

Beide widmeten sich allein und ausschließlich der „Kunstmusik“; das galt vor allem auch für die Musik vom späten Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert, der sich besonders Birtner, auf diesem Gebiet auch wissenschaftlich ein Spezialist, musikpraktisch annahm. Seit 1933 gab er mit dem von ihm aufgebauten Collegium musicum vocale Konzerte mit dem Anspruch, Einblick in die Musik vergangener Epochen zu geben und Werke der jeweiligen Meister (Palestrina, Orlando di Lasso; italienische und deutsche Chorlieder des 16. Jahrhun­derts etc.) zu Gehör zu bringen, oder er bespielte im Rahmen von Abenden mit „Alter Kla­viermusik“ das neu angeschaffte Cembalo des Musikwissenschaftlichen Seminars, auch dies zum Zwecke der „originalen“ Wiedergabe der fraglichen Werke.30 Stephani), so kann man zusammenfassend sagen, erwarb sich großes Ansehen als Künstler wie auch  als  selbstloser  Organisator – keinen  anderen Schluss lassen seine Aktivitäten und die öffentliche Resonanz darauf zu. Das gilt in den weni­gen Jahren seines Marburger Wirkens auch für Birtner. Stephanis bedeutende Stellung inner­halb der Universität und der Stadt insgesamt ist ablesbar aus den Würdigungen aus Anlass seines 80. Geburtstages am 23. Juni 1957.31

5. Stephani und „Der Feldherr“

Stephanis Bekanntheitsgrad weit über Marburg hinaus gründet in seiner Bearbeitung von Händels Oratorien. In dieser Hinsicht, in der er in der musikwissenschaftlichen Forschung auch heute noch eine Rolle spielt, war er in der Tat ein überregional wirkender Repräsentant der Marburger Universität. Alle einschlägigen Quellen zur Vertiefung dieses Komplexes, der kursorisch in zahlreichen Abhandlungen zum Thema „Musik im NS-Staat“ unter Nennung Stephanis vorkommt32, befinden sich im HMA.

Auf diesem Gebiet wurde Stephani unmittelbar nach dem Krieg persönlich angegriffen. Der Vorwurf richtete sich auf die Änderung bereits der Titel („Der Feldherr“ statt „Judas Makka­bäus“ bzw. „Das Opfer“ statt „Jephta“) bzw. auf die Tilgung jüdisch-alttestamentarischer Begriffe. In der „verschriftlichten“ Rechtfertigung seines Tuns33, versuchte Stephani glaub­haft zu machen, nur durch diese Änderungen habe er die Oratorien und Mozarts wie Brahms’ Requiem-Vertonungen während des Nazi-Regimes aufführen können: „Vor dem Zugriff der Gestapo schütze [!] ich Mozarts Requiem, indem ich statt ‚quam olim Abrahae’ ‚quam tu credentibus’ singen ließ, in Brahms’ Requiem statt ‚Herr Zebaoth’ „O Herre Gott’, bei Händel statt ‚Jehovas Arm’ ‚des Herren Arm’, statt ‚Israel’ „Vaterland’, statt ‚Zion hebt’ ‚freudig hebt’. [im Original Absatz] Um aber nun jene beiden alttestamentarischen Oratorien vor völ­liger Erloschenheit zu retten, ersetzte ich, wie bereits 1907 in Eisleben in Chor No 12 (vgl. Textbuch) das Wort ‚Judas’ durch ‚Feldherr’ und nannte Händels letztes Werk ‚Jephta’ ent­sprechend dem Sinne seiner ergreifenden Handlung ‚Das Opfer’. [im Original Absatz] Die Aufforderung des Propagandaministeriums an mich, den christlichen Kern der Händelorato­rien durch Namen der griechischen Mythologie zu ersetzen, lehnte ich ab. [im Original Absatz] In solcher nun endgültig ins Ueberparteiliche, Ueberzeitliche, Uebervolkliche erho­benen Betitelung meiner Bearbeitungen von bereits 1904 bzw. 1911 aber ist es mir vergönnt gewesen, jene beiden Gipfelschöpfungen Händels dem Konzertleben wiederzugeben, ohne die gewaltigen religiö­sen Kräfte, die sie ausstrahlen, auch nur im allerleisesten anzutasten, und ihren erhabenen ethischen und künstlerischen Gehalt in über 100 seitdem erfolgten Neuauf­führungen im Bewusstsein der Gegenwart wiederum zu verankern.“ Mit dieser Rechtferti­gungsaktion begab sich Stephani in einen Dschungel von Halbwahrheiten, den zu lichten nun überaus interessant ist.

Von der „Aufforderung des Propagandaministeriums“ und seiner Weigerung kann Stephani nur geträumt haben34, denn die Reichsmusikkammer hatte die originale Aufführung der Händel­schen Oratorien ausdrücklich genehmigt.35 Am 5. September 1934 richtete Stephani eine Anfrage an Gustav Havemann (Vorsitzender des Reichskartells der deutschen Musiker­schaft) und Fritz Stein (Amt für Chorwesen und Volksmusik innerhalb der Reichsmusikkam­mer) und plädierte dafür, 1935 (250. Geburtsjahr von Händel) Händels Oratorien aufzuführen, wobei er wie folgt argumentierte: "

Zum Aufbau einer allgemeinen musikalischen Volkskultur ist kaum eine Kost gesünder und unentbehrlicher als die Händelsche. Es wäre dankenswert, wenn Aengstlichen und Zweiflern autoritativ ausgesprochen würde, dass die Art wie Händel Weltgeschichte in überzeitlicher Perspektive gestaltet und sie in eherne Töne gießt, trotz alt­testamentarischer Stoffe, nein vielmehr gerade an ihnen eine urgermanische sittlich läuternde Kraft erweist, seine Schöpfungen also auch heute der Pflege in denkbar hohem Maße würdig sind.“36 Am 15. September 1934 erhielt Stephani vom Präsidenten der Reichsmusikkammer folgende Antwort: „Der Herr Präsident der Reichskulturkammer hat auf Anfrage entschieden, dass gegen die Aufführung Händelscher Werke, welche alttestamentarische Stoffe behandeln, nichts einzuwenden sei. Diesbezügliche Anweisungen sind bereits in den ‚Amtlichen Mittei­lungen der Reichsmusikkammer’ an ihre Untergliederungen ergangen.“37 Fritz Stein bestä­tigte diese Auskunft als persönliche Antwort Goebbels’ in dieser Angelegenheit in einem Brief an Stephani vom 20. September 1934.38 In der „Zeitschrift für Musik“ von 1936 hieß es mit Blick auf derart textentstellende Bearbeitungen, wie sie Stephani als einer von mehreren vorgenommen hatte: „Dieser übereifrige Dichter (gemeint ist Hermann Burte, ein weiterer „Judas Makkabäus“-Bearbeiter) scheint übersehen zu haben, dass die Reichsmusikkammer längst die Aufführung der Originaltexte zugelassen und dass Reichsminister Dr. Goebbels sich kürzlich mit scharfen Worten gegen diejenigen gewandt hat, die an Werken der Vergangen­heit einen nationalsozialistischen Maßstab anlegen.“39

Stephani hatte dem Oberstudiendirektor auch geflissentlich verschwiegen, dass er die beiden Oratorien je zweimal bearbeitete und die neuen Titel erst 1939 bzw. 1941 ins Spiel kamen. Der Sachverhalt stellt sich – knapp skizziert – wie folgt dar:

„Judas Makkabäus“

Erstmals bearbeitet 1904 unter dem Titel „Judas Makkabäus. Oratorium in drei Akten von G. F. Händel“ (erschienen Leipzig: Kistner & Siegel; bis 1933 150 Aufführungen, darunter in den Vereinigten Staaten);

ein zweites Mal bearbeitet 1939 unter dem Titel „Der Feldherr. Freiheits-Oratorium von G. F. Händel“ (erschienen Leipzig: Kistner & Siegel).
 

„Jephta“

Erstmals bearbeitet 1911 unter dem Titel „Jephta. Oratorium v. G. F. Händel“ (erschienen: Leipzig: Leuckart; bis 1941 insgesamt 150 Aufführungen);

ein zweites Mal bearbeitet 1941 unter dem Titel „Das Opfer. Oratorium von G. F. Händel“ (erschienen Leipzig: Leuckart).

 

Am Beispiel nun des „Judas Makkabäus“, der wegen des Titels „Der Feldherr“ besonders die Gemüter erregte, soll exemplarisch ausgeführt werden, wie kompliziert die Bearbeitungsge­schichte ist und wie differenziert es hier zu urteilen gilt. Die Grundrichtung der Bearbeitung war in der Tat bereits 1904 eingeschlagen; dennoch – das sei vorweggenommen – hatte die neuerliche Bearbeitung, wie sich aus dem Titel ebenso wie aus dem Aufführungskontext ergibt, alles andere als rein künstlerische Beweggründe zum Wohle Händels und seines Orato­riums.

Bis 1924 war „Judas Makkabäus“ mehrere Male in Stephanis erster Bearbeitung in Marburg zu Gehör gekommen und dann einige Jahre liegengeblieben. Am 3./4. Juli 1940 (Vor- und Hauptaufführung) kam erstmals „Der Feldherr“ zur Aufführung und wurde am übernächsten Tag in der „Oberhessischen Zeitung (Marburger Stadtzeitung)“ wie folgt besprochen: „Die Aufführung dieses Oratoriums bedeutet einen Höhepunkt im Musikleben unserer Stadt. Gerade in schwerer Zeit ist das kraftvolle Werk so recht zur Erbauung geeignet. Ein geknechtetes Volk schöpft aus dem Vertrauen zu einem starken Feldherrn neue Hoffnung, und unter seiner Führung erringt es im harten Kampf Sieg und Befreiung. Das war ein Stoff, wie ihn Händel liebte.“ Dass genau dieses Werk (besonders in der entschlackten Version von Stephani, wie der Rezensent ausführt) der augenblicklichen Situation passgenau entsprach, ja dass die Voraufführung genau an jenem Tag erfolgte, als in der „Oberhessischen Zeitung“ auf der Titelseite der Sieg über Frankreich hymnisch gefeiert wurde („Einer der größten Siege: Der Feldzug in Frankreich“), dass es am Schluss eines Berichtes vom 20./21. Juli 1940 in der­selben Zeitung über eine Feier im Reichstag aus diesem Anlaß heißt: Göring habe am Schluss „den Dank des deutschen Volkes zum Ausdruck (gebracht) den es dem Führer und Feldherrn (Hervorhebung von S. H.-D.) Adolf Hitler schuldet, der es wieder aus der Nacht zum Licht geführt hat“ – dieses Zusammentreffen von Aufführung in der 1939 neubearbeiteten Gestalt, Kriegsverlauf und öffentlicher Darstellung desselben vermag natürlich nicht zu belegen, dass Stephani planvoll kalkulierte hatte. Die propagandistische Funktion des Ganzen liegt jedoch auf der Hand (eine weitere Aufführung des „Feldherrn“ hat es im übrigen bis 1945 in Marburg nicht mehr gegeben; im Juli 1941 [erneut 1944] brachte Stephani Händels „Jephta“ unter „Das Opfer“ heraus).

Am Beispiel nun des I. Akts soll punktuell Stephanis Bearbeitungstechnik verdeutlicht wer­den. Zur Vergegenwärtigung des Kontextes im Blick auf die Originalversion von Händel/Thomas Morell 1747 wird kurz der Inhalt dieses Aktes skizziert: „Die Israeliten beklagen den Tod ihres Führers Mattatias. Sie bitten Gott, ihnen einen Nachfolger zu schicken, der sie aus der Unterdrückung befreit und ihnen die Freiheit wiedergibt. Simon, einer der Söhne des Mattatias und Hoherpriester, verkündet, Gott habe seinen Bruder Judas Makkabäus als neuen Heerführer auserkoren. Judas verspricht dem jüdischen Volk Frieden und Freiheit.“40

Bereits 1904 reduzierte Stephani den alttestamentarischen Kontext, und zwar, wie er 1908 schreibt, zur „Herausarbeitung eines einheitlich geschlossenen, innerlich, aber in lebensvoller Gegensätzlichkeit aufgebauten Volksdramas [...]:

I. Akt: Wehklagen um den Untergang der Freiheit, Verzweiflung, Aufrichtung, Ermannung, Gebete. Führerwahl. Freiheitsträumen. Auszug: Sieg oder Tod!

II. Akt: Szene auf der Wahlstatt [!]: Todesernst – wilde Kampflust. Letzte Anfeuerung vor der Schlacht.

III. Akt: Opfer, Vorahnung der Zurückbleibenden. Siegesbotschaft. Erschütternder Eindruck. Jubelnder Empfang, Einzug der Sieger. Dankgebet. Freiheits- und Friedensglück.“41

Mit dieser dramaturgischen Reduktion der Einzelgeschehen zu dieser Hauptlinie zusammen fiel der Aspekt der „Enthistorisierung“ oder „Entstofflichung“ (bezeichnend der Terminus „Walstatt“):  „Und von selbst ergibt sich die Anregung, Namen, deren Träger uns die Hand­lung nicht nahebringt, zu beseitigen, in den jüdischen Geschehnissen das Allgemein-Mensch­liche zu betonen, endlich den Text selbst nachzubessern.“42

Vergleicht man nun Zeile für Zeile Georg Gottfried Gervinus’ Übersetzung, die Stephani vor­gelegen hat, erst mit der Bearbeitung von 1904, schließlich mit jener von 1939, so ergibt sich ein erstaunliches, für die Forschung auch neues Bild: Die „Tilgung“ des jüdisch-alttestamen­tarischen Handlungskontextes erfolgte bereits 1904 und erfuhr in der Fassung von 1939 lediglich eine Radikalisierung der noch vor dem ersten Weltkrieg eingeschlagenen Richtung, indem er z. B. das Wort „Israel“ durch „Vaterland“ ersetzte.

An einem einzigen Beispiel, in Chrysanders Ausgabe43 Nr. 9 (Rezitativ und Arie des Simon) und Chor Nr. 10 (in Gervinus’ Übersetzung), sei dieser Sachverhalt belegt:

Simon Rezitativ 1904: Hoherpriester; 1939: Seher
(Sofern nicht anders angegeben, sind die Fassun­gen von 1904 und 1939 identisch)
Ich hör’, ich hör’ der Gottheit Ruf in mir, bleibt [1939: statt „Gottheit Ruf“: Gottesruf]
Die zwischen hehren Cherubim bleibt [1939: der in der hehren Engel Schar]
Im Strahlenglanz sich offenbart bleibt
Auf Israel‘s bedrängt Gebet O glaubt: aus Leidensnacht und Not
Hat Gott geneigt ein gnädig Ohr: wird führen Gott zum Licht sein Volk empor.
Fortan sei Maccabäus euer Haupt; Wohlan! Wählt Makkabäus euch zum Haupt
[1939: Wohlan! Der Helden Besten wählt zum Haupt!]
Judas kämpft die Gefangnen frei bleibt [1939: Erkämpfe die Gefangnen frei]
Und führt uns kühn zum Siege an. bleibt
Arie
Auf, tapfre Schaar! Ein heilig Gut, Auf, tapfre Schar! / Zum Gottesstreit
Der Ruhm des Herrn heischt euren Muth. Mit frommem Mut, / Mit freud’gem Herzen seid bereit!
Zu dem Kampf für den Tempel, das Volk und das Land Für die heiligen Güter, für Volk und für Land
Wird machtvoll Jehova euch stärken die Hand. Wird Gott, der Allmächt’ge, euch stärken die Hand!
Chor
Wohlan, wohlan, wir stehn gereiht, bleibt
Judas, zum Kampfe dir bereit. In starker Wehr.
Feldherr! Feldherr! Feldherr!
Führ’ uns zur Walstatt
Ins Waffengetos
Zu rüst’gem Streit!

Wie deutlich zu ersehen, hat Stephani in der Fassung von 1939 lediglich die allerletzten alt­testamentarischen Namen und Wörter noch ersetzt, den biblischen Kontext nun ebenfalls restlos eliminiert und ins allgemein Religiöse übertragen (z. B. Ersetzen des Hohenpriesters durch „Seher“). Daher konnte er auch im Brustton der Überzeugung nach dem Krieg behaup­ten, die anrüchige „Feldherr“-Stelle sei bereits in der Version von 1904 enthalten. Er übersah dabei, dass durch die nun radikale „Entstofflichung“ (um in Stephanis Denkmodell zu bleiben) das Werk in absolut jeder Situation, in der ein „geknechtetes Volk“, wie es in der oben zitier­ten Rezension heißt, auf „Erlösung“ durch einen „Führer“ hofft, propagandistisch funktionie­ren konnte und es im vorliegenden Fall ja auch tat. Ob Stephani das beabsichtigt hatte oder nicht, ist für die Wahrnehmung seiner Bearbeitung ohne Belang. Insofern hat auch er seinen Tribut an den Zeitgeist freiwillig/unfreiwillig geleistet.44 Er war ein Nationalist, politisch wie ästhetisch fest verwurzelt in der Tradition des späteren 19. Jahrhunderts. Er, der 1877 Gebo­rene, stand wie so viele seiner Generation dem „neuen“ Regime innerlich letztlich wohl fern, wollte jedoch nicht wahrhaben, dass die Kulturpolitik der Nazis unter zum Teil neuen, zum Teil radikalisierten Prämissen das aufgriff und in den Dienst ihrer Propaganda stellte, was er selbst beim Anbruch des Jahrhunderts wohl tatsächlich als Beitrag zur zeitgemäßen Händel-Pflege verstand. Ob dies auch für ihn noch 1939 galt, ist jedoch mehr als fraglich.

Literatur

Birtner, Herbert: Joachim a Burck als Motettenkomponist, Diss. Leipzig 1924 (Masch.).

Birtner, Herbert: Studien zur niederländisch-humanistischen Musikanschauung, Marburg 1930 [Masch.], Teildruck Heidelberg 1930.

G[reiss], S[iegfried]: Dank an Hermann Stephani, in: Geist und Leben. Blätter für Wissen­schaft, Geist und Kultur, Beilage zur „Oberhessischen Presse", Juni 1957.

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Nagel, Anne Christine (Hg.): Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte, Stuttgart: Steiner 2000.

Pietzsch, Gerhard: Zur Pflege der Musik an den deutschen Universitäten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Wittenberg - Frankfurt a. O. - Marburg - Königsberg - Jena - Helm­stedt - Herborn - Göttingen), in: Archiv für Musikforschung 7 (1942), S. 90-110, 154-169.

Potter, Pamela: Die deutscheste der Künste. Musik und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart: Klett-Cotta 2000.

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Stephani, Hermann: Der Charakter der Tonarten, Regensburg: Gustav Bosse Verlag 1923.

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1 Der vorliegende Aufsatz erschien in: Germanistik und Kunstwissenschaften im "Drit­ten Reich". Marburger Entwicklungen 1920-1950 hg. v. Kai Köhler, Burghard Dedner und Waltraud Strickhau­sen. München: K. G. Saur-Verlag 2005 (Academia Marburgensis, Bd. 10), S. 83-95.
Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

2 Pietzsch 1942, S. 157 f.

3 Zur Situation der Musikwissenschaft an den deutschen Universitäten während Weimarer Republik und Drittem Reich s. Potter 2000 (amerikanische Originalausgabe New Haven, London: Yale University 1998), S. 122–164.

4 Sein umfangreiches kompositorisches Œuvre (Autographe, Abschriften, Erstdrucke) ist Teil des Jenner-Nach­las­ses im Hessischen Musikarchiv (HMA) der Universität Marburg. Die historisch-kritische Ausgabe seiner Werke erfolgt im Verlag Schott. Im Nachlass des HMA sind auch einige seiner Kollegs (u. a. über Schuberts „Die schöne Müllerin“) überliefert.

5 Der Vorgang ist dokumentiert in den „Akten Königl. Universität Marburg, betreffend: Universi­täts=Musikdirektor 423/13, 1920-1931“, Bestand 305a, acc. 1975/79, Nr. 670 des StA Marburg.

6 StA Marburg, Bestand 305a, acc. 1975/79, Nr. 670 (wie Fußnote 4).

7 Wie aus den Akten (StA Marburg, Bestand 305a, acc. 1975/79, Nr. 670 [wie Fußnote 4]) hervorgeht, hatte Stephani gleichzeitig einen Ruf nach Göttingen erhalten, sich jedoch für Marburg entschieden, da ihm dort die Möglichkeit zur Habilitation eingeräumt worden war.

8 Thema seiner Dissertation: „Das Erhabene insonderheit in der Tonkunst und das Problem der Form im Musika­lisch-Schönen und –Erhabenen“ (Stephani 1903, Privatdruck, 1907).

9 Thema der Habilitationsschrift: „Der Charakter der Tonarten“ (Stephani 1923).

10 Diese und alle weiteren Angaben zu Stephanis beruflicher Tätigkeit folgen den Dokumenten in seiner Personal­akte der Universität („Privatdozent Dr. Stephani“), Bestand 307d, Nr. 193 des StA Marburg. Die Behauptung, Herbert Birtner habe 1930 das Collegium musicum gegründet (Potter 2000, S. 128), bedarf mithin der Korrektur. Wie Birtner in der von Potter zitierten Quelle (s. Anlage 2 zu seinem Antrag an den Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung auf Zusatz zu seiner Lehrauftragsvergütung vom 17.2.1938, überliefert in: Akte ehem. BDC, RK, Birtner, Herbert, Bundesarchiv, Abteilung Berlin) ausführt, gründete er 1930 „das Collegium musicum vocale, das der praktischen [Textverlust: Erar]beitung alter Musik dient“.

11 StA Marburg, Bestand 305a, acc. 1975/79, Nr . 670 (wie Fußnote 4).

12 Schreiben des Kurators der Universität vom 16.10.1931 an den Rektor, den Senat der Universität sowie an den Dekan der Philosophischen Fakultät, in StA Marburg, Bestand 305a, acc. 1975/79, Nr . 670 (wie Fußnote 4). – Eine Umfrage bei sämtlichen preußischen Universitäten über die rechtliche Stellung des Musikdirektors bzw. Professors der Musikwissenschaft, die auf den Antrag hin erfolgt war, führte zu dem Ergebnis, dass nur im Aus­nahmefall das Fach von einem Extraordinarius (Kiel und Breslau; der „persönliche“ Ordinarius in Breslau war aus seiner früheren Tätigkeit als Schullehrer pensionsberechtigt) vertreten wurde und etwa nur die Hälfte der Vertreter der ao. Prof./UMD-Stellen den Beamtenstatus hatten (die Kölner Universität erhielt 1932 ein Ordina­riat). Stephani wurde auch kein Ruhegehaltsanspruch zuerkannt, da dies rechtlich unzulässig gewesen wäre. Man sagte ihm jedoch zu, seine Ruhestandsregelung wohlwollend zu prüfen.

13 Alle einschlägigen Dokumente (Anträge etc.) befinden sich in Stephanis Personalakte (s. Fußnote 9).

14 Thema der Dissertation: „Joachim a Burck als Motettenkomponist“ (Birtner1924).

15 Thema der Habilitationsschrift: „Studien zur niederländisch-humanistischen Musikanschauung“ (Birtner 1930). – Die Angaben über die Lebensdaten folgen Birtners eigenhändig unterzeichnetem Lebenslauf als Anlage 1 seines Antrags an den Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung auf Zusatz zu seiner Lehrauftragsvergütung vom 17.2.1938, überliefert in: Akte ehem. BDC, RK, Birtner, Herbert, Bundesarchiv, Abteilung Berlin. Die Angaben in den einschlägigen Lexika („Riemann Musik Lexikon“ 1959, S. 168, und „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ 1999, Sp. 1677 f.) weichen in mehreren Punkten ab.

16 Akte ehem. BDC, RK, Birtner, Herbert, Bundesarchiv, Abteilung Berlin (wie Fußnote 14).

17 Mitgeteilt von Rudolf Flotzinger (Referat „Drei Fallbeispiele zum Tagungsthema aus Österreich“ im Rahmen der Internationalen Tagung „Musikwissenschaft im Nationalsozialismus und in faschistischen Regimen. Kultur­politik – Methoden – Wirkungen“ (Engers, 8. bis 11. März 2000), hier zitiert nach dem Tagungsbericht von Thorsten Hindrichs und Christoph Hust (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de).

18 Akte ehem. BDC, RK, Birtner, Herbert, Bundesarchiv, Abteilung Berlin (wie Fußnote 14).

19 Ausgewertet anhand der Exemplare im Bestand der Universitätsbibliothek Marburg.

20 Siehe hierzu Potter 2000, besonders S. 251-290.

21 Siehe hierzu ebd., besonders Kap. 6.

22 Siehe hierzu ebd., S. 150 ff.

23 Handschriftlicher Aktenvermerk im Zusammenhang der Bewilligung seines Antrags (Akte ehem. BDC, RK, Birtner, Herbert, Bundesarchiv, Abteilung Berlin; s. Fußnote 14) am 8.4.1938. In einem Gutachten der Gaulei­tung Kurhessen der NSDAP vom 16.7.1937 urteilt Kurt Düring über ihn: „Er stellt sich dazu [gemeint ist die musikalische Ausgestaltung der Feste, S. H.-D.] freudig und gern zur Verfügung wie er sich überhaupt aufge­schlossen und bereit zu allen Arbeiten zeigt. Dennoch scheint mir das nat.soz. Erlebnis bei ihm keineswegs zur letzten treibenden und gestaltenden Kraft seines Lebens geworden zu sein. Seine Geisteshaltung ist im Grunde ästhetisch-exklusiv und von starker intellektueller Prägung, sodass in Gesprächen und Diskussionen nat.soz. Ideen leicht in ihr Gegenteil abgebogen werden“ (Akte ehem. BDC, RK, Birtner, Herbert, Bundesarchiv, Abtei­lung Berlin; wie Fußnote 14).

24 Maschinenschriftlicher, eigenhändig unterzeichneter Lebenslauf Hermann Stephanis (undatiert, 1 ½ S., im Bestand V [Nachlass Hermann Stephani] des HMA).

25 Dieses Zitat, zugleich „Motto“ des vorliegenden Beitrags, stammt aus der „Bescheinigung“ Ernst Wagners (Bisheriger Leiter des Durchführungsamtes der Stadt Marburg) vom 2.11.1946; überliefert in Stephanis „Entna­zifizierungsakte“ im HHStA Wiesbaden, Abt. 520 MaB 4892; AZ: Mst 2096.46). Stephani reichte dieses und weitere „Entlastungsgutachten“ erst ein, nachdem er die Klageschrift erhalten und anerkannt hatte. Die Spruch­kammer kam dann in ihrem Spruch vom 31.10.1946 zu folgendem Ergebnis: „Prof. Stephani ist eine unpoliti­sche Persönlichkeit, die völlig der Musik und der Musikwissenschaft lebt und auf diesem Gebiete Hervorragen­des geleistet hat. Seine Vorlesungen waren frei von jeder NS-Politik, vor allem auch der NS-Kulturpolitik; jüdi­sche Künstler behandelte er in seinen Kollegs genau so objektiv wie sog. ,arische’. Dem unkünstlerischen, zu Propagandazwecken ausgenutzten Musikleben der NS-Zeit trat er energisch entgegen.“

26 HHStA Wiesbaden, Abt. 520 MaB 4892; AZ: Mst 2096.46, Meldebogen (wie Fußnote 24).

27 Brief Stephanis an die Spruchkammer vom 28.10.1946 (HHStA Wiesbaden, Abt. 520 MaB 4892; AZ: MSt 2096.46; wie Fußnote 24). Pia Maier geht davon aus, daß Stephani im Berufungsverfahren, hätte er es ange­strengt, in die Gruppe der Entlasteten heruntergestuft worden wäre (Maier 1997, S. 97; ich danke Frau Dr. Waltraud Strickhausen für die Mitteilung der entsprechenden Passage).

28 Komplett überliefert im HMA (Bestand V). Ich danke meiner stud. Hilfskraft Stefan König für die mühevolle Aufarbeitung dieses umfangreichen Materials.

29 Diese entsagungsvolle Arbeit wurde von meiner stud. Hilfskraft Stefan Horlitz geleistet, dem ich ebenfalls zu Dank verpflichtet bin.

30 Eine größere Besprechung eines solchen Konzerts erfolgte in der „Oberhessischen Zeitung“ vom 23.1.1936.

31 Greiss 1957.

32 Erwähnt seien in diesem Zusammenhang nur Prieberg 1982, S. 352 f., und Potter 2000, S. 280.

33 Es handelt sich um einen Brief an „Herr(n) Oberstudiendirektor Dr. Steinmeyer“ vom 19.7.1945 als Protokoll eines Gespräches über diesen Gegenstand am selben Tag (Durchschlag überliefert im Bestand V des HMA [Nachlass Stephani]).

34 Es finden sich in den Akten keinerlei Spuren eines solchen Vorgangs, den Stephani zudem ideal im Zuge sei­nes Entnazifizierungsverfahrens hätte beibringen können.

35 Potter 2000, S. 280 und Quellennachweis S. 387.

36 Brief im Archiv des Musikwissenschaftlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg.

37 Ebd.

38 Ebd.

39 Zitiert nach Prieberg 1982, S. 351.

40 Zitiert nach Marx 1998, S. 137.

41 Stephani 1908, S. 6.

42 Ebd.

43 Judas Maccabäus. Oratorium von Georg Friedrich Händel, hg. v. Friedrich Chrysander (= Georg Friedrich Händel’s Werke, Bd. XXII, Leipzig: Breitkopf & Härtel [1866]).

44 Im Dokumentenband Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus (Nagel 2000), S. 342 f., ist ein Brief des Rektors Zimmerl an den Reichserziehungsminister vom 31.5.1938 abgedruckt, der als für Stephani belastend angesehen werden könnte, wenn man den Kontext nicht berücksichtigt. Stephani musste seine vielköp­fige Familie im Unterschied zu den Ordinarien und verbeamteten Universitätsangehörigen von seinem Lehrauf­trag und geringen anderen Einkünften finanzieren. Während Birtners Antrag auf Förderung bewilligt worden war (s. Fußnote 22), wurde Stephanis mit der Begründung abgelehnt: „Der Bewerber wird als ein absolut unpoliti­scher Mensch geschildert, der auch an den tagespolitischen Hochschulfragen kein Interesse bezeugt. Infolge dieses Mangels an politischer Aktivität erfüllt der Genannte nicht die Voraussetzung für eine Förderung“ (Nagel 2000, Fußnote 60). In Anbetracht von Stephanis immensen Leistungen hat sich Zimmerl noch einmal eingesetzt und dabei Argumente beigebracht, die sich in Kenntnis der Fakten und Schriften nicht halten lassen. Stephani hat auch auf dieses Schreiben hin keinerlei Unterstützung bekommen.