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Molekulare Chiralität und Paritätsverletzung

Die molekulare Chiralität wurde vor gut 150 Jahren von Louis Pasteur entdeckt. Jacobus van’t Hoff und Joseph Le Bel entwickelten unabhängig voneinander das Modell des tetraedrischen Kohlenstoffs, um die von Pasteur beobachtete molekulare Chiralität zu erklären.

Seither hat die molekulare Chiralität zur Entdeckung einer ganzen Reihe von neuen Effekten beigetragen. So wurde das erste Experiment zur chemischen Kinetik von Ludwig Ferdinand Wilhelmy anhand der Untersuchung der Rohzuckerinversion mit Hilfe eines Polarimeters durchgeführt. Die Untersuchung der Temperaturabhängigkeit dieser Reaktion führte Svante Arrhenius schließlich zur Entwicklung der Arrheniusbeziehung. Der quantenmechanische Tunneleffekt wurde 1927 von Friedrich Hund am Beispiel chiraler Verbindungen erstmalig formuliert (und damit vor Georgi Gamov, der diesen erst zwei Jahre später am Beispiel des alpha-Zerfalls diskutierte).

Wir interessieren uns ganz speziell für chirale Systeme, weil darin die Parität, die Symmetrie bezüglich einer Inversion aller Koordinaten am Ursprung, gebrochen ist. Dies gibt uns hervorragende Möglichkeiten, fundamentale Verletzungen dieser Symmetrie auf der Ebene der Elementarteilchen zu untersuchen.

Früher hatte man angenommen, dass die fundamentalen Wechselwirkungen – Gravitation, elektromagnetische Wechselwirkung, schwache Wechselwirkung und starke Wechselwirkung – nicht zwischen rechts und links unterscheiden, also alle Wechselwirkungen in einer gespiegelten Situation genau gleich sind. Seit 1957 weiß man jedoch, dass dies nicht für die schwache Wechselwirkung gilt. Dies wurde in den von den Theoretikern und Nobelpreisgewinnern Chen Ning Yang und Tsung-Dao Lee vorgeschlagenen Experimenten zum beta-Zerfall des Isotops Cobalt-60 eindrucksvoll gezeigt. Die schwache Wechselwirkung ist demnach paritätsverletzend.

Für die Chemie von Verbindungen mit stabilen Kernen wäre das zunächst weniger interessant. Aber seit Ende der 1960er Jahren wurde die elektromagnetische Wechselwirkung mit der schwachen Wechselwirkung zur sogenannten elektroschwachen Wechselwirkung in dem heutigen Standardmodell der Elementarteilchen vereinigt. Diese Vereinigung der Kräfte bewirkt, dass nun auch in Molekülen mit stabilen Kernen spannende Konsequenzen zu erwarten sind. Und für chirale Moleküle sind die vorhergesagten Effekte besonders eindrucksvoll: So sind die Enantiomere eines chiralen Moleküls nicht mehr energetisch gleichwertig, sondern unterscheiden sich in einem kleinen Energiebetrag, der sogenannten paritätsverletzenden Energiedifferenz. Seit knapp 50 Jahren wird versucht, die Energiedifferenz spektroskopisch zu messen, aber bisher ist das noch nicht gelungen. Wir können aber mit unseren theoretischen Methoden geeignete Moleküle und vorteilhafte experimentelle Zugänge vorhersagen, um diesen Effekt erstmalig zu messen.

Auf dem Weg dahin, kümmern wir uns auch um die Frage nach der absoluten Konfiguration von chiralen Molekülen. Zusammen mit dem Team um Markus Schöffler, Reinhard Dörner und Horst Schmidt-Böcking aus Frankfurt und weiteren Kooperationspartnern haben wir mit der Coulombexplosion, einem geschickten massenspektrometrischen Experiment, erstmals direkt die absolute Konfiguration von chiralen Molekülen in der Gasphase bestimmen können. Und dies sogar auf der Ebene von einzelnen Molekülen.