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Unser Forschungskonzept

Zu sehen ist eine Grafik. In der Mitte der Grafik ist ein Kreis. Im Zentrum des Kreises steht "Inszenierung religiöser Atmosphäre". Vom Zentrum ausgehend ist der Kreis in vier gleichgroße Teile aufgeteilt. Jedes Viertel ist beschriftet. Die Beschriftungen lauten (1) "Göttlichkeit erfahrbar machen", (2) "Autorität und Glaubwürdigkeit erzeugen", (3) "Gruppenidentität stärken" und (4) "Hierarchien und Machtstrukturen vermitteln". Der Kreis wird umrandet von vier Pfeilen, die jeweils von einem Viertel ausgehend zum nächsten Viertel weisen und somit die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Vierteln verdeutlichen sollen. 
Drei Pfeile deuten von außen auf den Kreis: einer von links, einer von rechts und einer von oben. Im linken Pfeil steht: "Handlungen", im oberen Pfeil steht "Räume" und im linken Pfeil steht "Eindrücke".

Die Forschungsprojekte unseres Graduiertenkollegs sollen sich an gemeinsamen Themenfeldern und Forschungsfragen orientieren. Auf diese Weise können Querverbindungen zwischen den einzelnen Vorhaben und Forschungsgebieten bemerkbar werden.

Thematisch und methodisch gehen wir mit Radermacher (2018, 2020) von drei großen Feldern der religiösen Atmosphäre aus: die Räume (materielle Dimension), die Handlungen (soziokulturelle Dimension) und die Eindrücke (psychologische Dimension).

Im Hinblick auf die Erforschung antiker Kulturen werden wir unter „Räumen“ primär religiös bestimmte Lokalitäten oder Topographien verstehen, die archäologisch erschlossen (oder noch zu erschließen) sind, Architekturen (oder deren Relikte) sowie damit assoziierte Kultgegenstände und anderes Inventar, also materielle Zeugnisse, die Hinweise zur Inszenierung religiöser Atmosphäre geben können. Mit „Handlungen“ ist in diesem Zusammenhang das Ensemble von Aktionen gemeint, das die Erzeugung einer religiösen Atmosphäre sowohl ermöglicht als auch realisiert: einerseits die vorbereitenden Aktivitäten religiöser Experten, andererseits die Kulthandlungen selbst, namentlich die performativen Sprechakte und rituellen Abläufe, die durch schriftliche Quellen überliefert sind und durch Abgleich mit den entsprechenden archäologischen Befunden Bestätigung finden oder aber relativiert werden müssen. Hinsichtlich der „Eindrücke“ wird es vor allem darum gehen, die Wirkungen näher zu bestimmen, die als Effekt bei den Inszenierungen religiöser Atmosphäre intendiert waren: Emotionen, physische oder psychische Reaktionen, die durch die Inszenierung hervorgerufen werden sollten und die sich durch „räumliche“ oder materielle Zeugnisse sowie durch Schriftquellen zumindest indirekt erschließen lassen.

  • Räume

    Räume sind in unserem Kontext gebaute oder umbaute sakrale Orte, intentional für Kultpraktiken errichtete Architekturen samt aller darin befindlichen Gegenstände und einschließlich ihres von anderen Funktionen abgegrenzten Außenbereichs; es sind dauerhafte repräsentative Gebäude (Tempel, Kirche, Moschee, Synagoge etc.), gewaltige Konstruktionen wie die Tempelanlage in Assur, der Pergamonaltar oder die Hagia Sophia, aber auch kleinere, unscheinbare Heiligtümer, Gebetsnischen, Schreine an der Straßenecke oder Stelen an Wegkreuzungen, des Weiteren Pilgerwege oder Prozessionsstraßen, Theater, Friedhöfe oder Gerichtsstätten. Durch entsprechende Zuschreibungen können auch Haine, Höhlen oder Grotten, Hügel oder Bergspitzen zu Räumen werden, die für religiöse Inszenierungen tauglich sind. Räume bilden die materielle Voraussetzung für die Inszenierung religiöser Atmosphäre, die nur in einem den Kultbedürfnissen angemessenen und religiös definierten Ambiente hervorgerufen und entfaltet werden kann. Räume sind demnach unverzichtbarer Bestandteil der religiösen Inszenierung, doch sind sie mehr als nur Schauplätze, Bühne und Kulisse: Sie sind in einem architektonischen Sinne auch Akteure, die Gerüche und Düfte verbreiten, Kultbilder in Szene setzen und Glocken oder Kultmusiken zur Klangwirkung verhelfen, die für eindrucksvolle Lichteffekte sorgen, die den Beteiligten bestimmte Plätze zuweisen, gewisse Körperhaltungen einfordern, haptische Enge und Weite vermitteln und entsprechend Blicke (und Erwartungen) ausrichten; durch monumentale Größe demonstrieren sie Macht und Reichtum eines von den Göttern begünstigten Herrschers oder Stadtstaates; durch Innenarchitekturen, deren Bedeutung nur Eingeweihten verständlich ist, vermitteln sie mystische Gemeinschaft. Alle diese Räume können auf ihre spezifischen inneren und äußeren Arrangements, auf ihre topographischen Beziehungen wie auf das urbane oder landschaftliche Umfeld hin untersucht werden: Welche Positionen nehmen die Räume religiöser Inszenierung gegenüber anderen Funktionsräumen ein?
    Welche Rolle spielen sie im architektonischen Zusammenhang? Wie sind die Räume ausgestattet (in Bezug auf Boden-, Wand- und Deckenbeschaffenheit, Mobiliar, Stoffe, Geschirr, Nahrungsmittel, Bilder, Kultgerät etc.)? Welche Zu- und Ausgänge gibt es, wie sind diese proportioniert? Welche Bewegungsabläufe werden vorgegeben? Wie ist der Lichteinfall? Wo (und wohin) verlaufen Blickachsen? Wie ist die Akustik? Welche Gerüche sind wahrnehmbar? Wie werden diese in spezifische Richtungen gelenkt? Was lässt sich über Temperatur, Sauerstoffgehalt, Feuchtigkeit des Raumes sagen? Welche prominenten religiösen Orte werden architektonisch zitiert? Doch auch noch andere Räume sind hier in Betracht zu ziehen: etwa spirituelle Räume, die sich (wie in der Frühzeit des Christentums oder des Islam) allein durch rituelle Verrichtungen oder das gemeinschaftliche Gebet konstituieren (indem man auf einen eigens für sakrale Handlungen bestimmten religiösen Funktionsraum bewusst verzichtet), oder auch imaginäre Räume, die wie im griechischen oder römischen Theater durch performative Sprechakte hervorgerufen werden oder wie der Jerusalemer Tempel in den Psalmen oder in den hymnischen Beschreibungen der Hagia Sophia sich durch die literarische Evozierung einer religiösen Atmosphäre in der Vorstellung der Rezipienten bilden oder auch durch Rauschdrogen evoziert werden.

  • Handlungen

    Unter Handlungen werden alle Aspekte gefasst, die einen aktiven Bezug zur Realisierung einer religiösen Atmosphäre aufweisen. Dazu gehören zunächst die in den Räumen durchgeführten Kulthandlungen und Rituale, die einen religiösen Raum auszeichnen, des Weiteren auch sprachliche Äußerungen wie Lesungen, Beschwörungen, Eidesformeln oder Gebete, die zur religiösen Inszenierung beitragen, und natürlich die Akteure, die diese kommunikativen Handlungen vorbereiten und vollziehen. Handlungen innerhalb einer religiösen Atmosphäre weisen vielfache Überschneidungen zum Ritual auf. Tatsächlich werden sich für die Untersuchungen zur Inszenierung religiöser Atmosphäre auch einschlägige Begriffe der Ritualforschung als hilfreich erweisen. Neben den Ritualexperten, welche die traditionell vorgeschriebenen Abläufe und das erforderliche Dekor der Kulthandlungen kennen und diese sachkundig ausführen, sind die Ritual-Klienten zu berücksichtigen, an denen entsprechende Handlungen unmittelbar vollzogen werden, da sie davon Aufnahme und Einbindung in besondere, höhere religiöse Mysterien oder aber lebensentscheidende Vorzeichen oder auch Heilung von einem Gebrechen erwarten; des Weiteren Ritual-Teilnehmer, die einer politisch-religiösen Zeremonie (wie dem Frühjahrsfest in Assur oder den römischen Triumph- oder Trauerzügen) eher passiv beiwohnen, aber auch als zuschauendes Publikum interagieren und somit für den performativen Charakter solcher Rituale unverzichtbar sind. Das umfangreiche Spektrum umfasst Akteure und Aktionen, die von altorientalischen Mundöffnungsritualen und den feierlichen Prozessionen im Hethiter-Reich über die Aufführung attischer Tragödien und die hellenistische Inszenierung von Orakeln und Mysterien bis zu den frühchristlichen Mahlfeiern und den juristischen Ritualen in der Spätantike reichen. Das spezifische Interesse des GRK wird insbesondere jenen Handlungen gelten, die vornehmlich der Generierung religiöser Atmosphäre dienen, somit sozialen Interaktionen, die vor allem die Rahmung des Rituals, seine Ästhetik, seine performative Wirkung betreffen. Neben den besonderen sprachlichen und musikalischen Ausdrucksformen gehören dazu auch Kleidung und Körperhaltung, Choreographie und performative Elemente aller Art. Zugleich wird nach den Ritualskripten, die der Inszenierung religiöser Atmosphäre zugrunde liegen, nach ihren medialen Techniken sowie nach ihrer Tradition (oder einem gezielten making of tradition) und somit nach ihrer Validität zu fragen sein, die sich nicht zuletzt in der sozialen Akzeptanz der Inszenierung zeigt.

  • Eindrücke

    Das Themenfeld der Eindrücke beinhaltet die sensorische Wahrnehmung und psychische Verarbeitung der religiösen Atmosphäre. Diese zielt primär auf emotionale Ein- und Zustimmung der an den Kulthandlungen beteiligten Akteure und Zuschauer und damit zugleich auf eine kollektive Übereinstimmung, die auch im politischen Sinn ein gruppenspezifisches Gemeinschaftsgefühl hervorrufen soll. Die Inszenierung religiöser Atmosphäre zeichnet sich vor allem durch ästhetische Qualitäten aus, ihre Suggestionskraft beruht auf visuellen, akustischen und olfaktorischen Stimulanzen, zu denen auch Rauschmittel gehören können; sie bedient sich dabei medialer Techniken, die möglicherweise auch in anderen sozialen Kontexten eine Rolle spielen. Aufgrund des performativen Charakters der Inszenierung religiöser Atmosphäre richtet sich das Forschungsinteresse sowohl auf die Sinneseindrücke und Emotionen, die durch die Inszenierung hervorgerufen werden sollen, als auch auf die tatsächliche Rezeption derer, die als Akteure, in Haupt- oder Nebenrollen oder auch als teilhabende Zuschauer an den Kulthandlungen beteiligt sind. Allerdings lässt sich die Wirkung religiöser Atmosphäre nur mittelbar erschließen. Die Analyse von Räumen und Handlungen dürfte Hinweise und teils auch konkrete Auskünfte über das politische Umfeld, über die spezifischen religiösen Funktionen und somit auch über die Intentionen sowie über die Zielgruppen der Inszenierung geben. Einigen Quellen, die allerdings einer sorgfältigen und kritischen Lektüre bedürfen, lassen sich Reaktionen auf die Inszenierung
    religiöser Atmosphäre entnehmen, was implizit auch Rückschlüsse auf die Emotionen der Ritualteilnehmer zulassen könnte. Gefühlsgeladene Äußerungen wie in den Psalmen, in der griechischen Tragödie oder auch in jenen Passagen, in denen der jüdische Historiker Josephus den römischen Triumphzug als Abschluss des judäischen Krieges beschreibt, haben vorwiegend rhetorischen Charakter, sind daher nur bedingt als subjektive Ausdrucksformen zu verstehen, können aber über die idealtypische, religiös postulierte, sozial erwartete oder auch politisch eingeforderte Emotionalität der Rezipienten Auskunft geben. Darüber hinaus bietet die Integration naturwissenschaftlicher Expertise aus dem Bereich der Lebenswissenschaften die Möglichkeit, die Diskussion um universelle Grundkonstanten und kulturspezifische Charakteristika im Bereich der Sinneswahrnehmungen und Emotionen über eigene zielgerichtete Fragestellungen (etwa mit Blick auf halluzinatorische Eindrücke, die durch Verwendung von Drogen hervorgerufen werden) in die Gesamtuntersuchung einzubeziehen und nach Möglichkeit durch eigene Forschungsergebnisse zu bereichern.

Die genannten Themenfelder sollen insbesondere im Hinblick auf vier leitende Forschungsfragen untersucht werden, die alle Projekte adressieren werden, so dass über vergleichbare Parameter Analogien und Unterschiede sowie dia- wie synchrone Querverbindungen zwischen den einzelnen Vorhaben und Forschungsgebieten deutlich konturiert werden; dabei steht zu erwarten, dass aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen, der spezifischen Quellenlage und der methodischen Ausrichtung der beteiligten Disziplinen sich individuelle Schwerpunktsetzungen ergeben. Auch sollen die Forschungsfragen dazu dienen, über das Themengebiet des GRK im engeren Sinn hinausführende Perspektiven zu eröffnen.

  • Wie wird „Göttlichkeit“ erfahrbar gemacht?

    Die beteiligten Disziplinen erforschen Kulturen, deren Lebenswelt von göttlichen Mächten bestimmt wird, so dass religiöse Vorstellungen und Praktiken in allen sozialen, politischen und künstlerischen Bereichen eine prominente Rolle spielen. Die religiöse Atmosphäre, die zu besonderen Gelegenheiten generiert wird, ist zugleich Ausdruck und Medium göttlicher Präsenz. Zu fragen wäre, in welcher Form und durch welche Techniken die Gottheiten dabei sinnlich erlebbar gemacht werden. Wie werden Räume gestaltet und verändert, um Gottheiten sichtbar und wahrnehmbar zu machen? Welche Rolle spielen in diesem Kontext
    Kultbilder? Wie sind die rituellen Sprechakte und Handlungen beschaffen, durch die man die Gottheiten in Erscheinung treten lässt? In welchem Verhältnis steht die Inszenierung von religiöser Atmosphäre zur Inszenierung göttlicher Erscheinung? Welche Interaktionen zwischen den göttlichen und menschlichen Akteuren zeichnen sich dabei ab? Performative Sprechakte, Lichteffekte, Düfte und musikalische Klänge dürften vor allem den atmosphärischen Rahmen göttlicher Präsenz gebildet haben. Gerade die zu erwartende Vielfalt der fachspezifischen Befunde (hethitische Gebetsformeln, Orakelsprüche griechischer Kultbilder, christliche Einsetzungsworte, Prozessionen mit Götterbildern, Kultinventar im Gerichtssaal, juristische Spruchformeln, material remains) könnte dazu beitragen, den Blick auf die eigenen Forschungsgegenstände zu schärfen. Ergänzend ließe sich fragen, inwieweit die Erscheinung oder die Präsenz der Gottheit von einer gelungenen Inszenierung religiöser Atmosphäre abhängt und welche Folgen eine misslungene Inszenierung haben könnte.

  • Wie werden Autorität und Glaubwürdigkeit erzeugt?

    Die Doppelfrage zielt auf zwei entscheidende Aspekte religiöser Atmosphäre, die einerseits qua Tradition Autorität beansprucht, diese aber durch überzeugende Inszenierung immer wieder unter Beweis stellen muss. Zugleich dienen Inszenierungen von religiöser Atmosphäre wesentlich dazu, dem Ritual Legitimität, den dabei interagierenden Personen Autorität und den vollzogenen Kulthandlungen Glaubwürdigkeit zu sichern. Die Untersuchungen sollten daher insbesondere performative, rhetorische, persuasive oder suggestive Elemente der Inszenierungstechniken berücksichtigen. Die Autorität einer Kulthandlung wie auch die Glaubwürdigkeit religiöser Atmosphäre beruhen wesentlich auf traditionsgebundener Wiederholung (selbst wenn diese Tradition erst nachträglich gesetzt worden sein sollte); die rituelle Affirmation und Regenerierung von politischen Einrichtungen, sozialen Ordnungsmustern oder moralischen Gesetzen kann daher nur gelingen, wenn die Atmosphäre selbst und ihre Inszenierung die bestehende und sozial akzeptierte Tradition zu aktualisieren vermag. Die Ästhetik und die Gestaltung religiöser Räume, die Ausstattung der sakralen Szenerie, die Performanz der Akteure, namentlich der Protagonisten der Kulthandlung, die rituellen Sprechakte und die Klangfiguren, die sie begleiten, sind für die Überzeugungskraft der religiösen Atmosphäre ebenso bedeutsam wie umgekehrt die atmosphärischen Settings für das Ansehen, die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Kulthandlung und ihrer Akteure. Dabei sind auch die jeweils mehr oder weniger prononcierten Grenzziehungen zur alltäglichen Lebenswelt in den Blick zu nehmen: Welche markanten, von gewöhnlicher Kommunikation abgesetzten Sprachformen sichern die Wirkmächtigkeit von Beschwörungen und Liturgien? Wie wird die Autorität der handelnden religiösen Spezialisten (etwa durch Kleidung, Haartracht, Körpermerkmale, Platzierung im Raum etc.) hervorgehoben? Ebenso gilt die Frage nach Generierung und Sicherung von Autorität und Glaubwürdigkeit den Modalitäten religiöser Zuschreibung: Welche Gründe führen zur Bestimmung von Orten (in offener Landschaft oder in urbanen Zentren) als Heiligtümer? Wie erfolgen die entsprechenden Selektions- und ggf. auch Aushandlungsprozesse? Wie werden die religiösen Zuschreibungen jeweils begründet? Auf welche Autoritäten beruft man sich dabei? Erfolgt eine Einbettung in Kosmogonien oder Kosmologien und/oder ein Rekurs auf mythische Vorzeiten? Auch hier werden die Antworten unterschiedlich ausfallen. Religiöse Legitimation kann durch die Rückführung aller Gesetze und Kultpraktiken auf die jeweilige Gottheit als höchste und einzige Autorität erfolgen, aber auch durch aitiologische Mythen, die beispielsweise die Entstehung eines bestimmten Kults erklären. Sie kann sich durch eine elaborierte Mythologie legitimieren, durch Einbeziehung besonderer Naturräume, durch Nachahmung vorbildlicher Tempelbauten oder Kultbilder wie auch durch Berufung auf die performativen Sprechakte eines Religionsgründers.

  • Wie wird Gruppenidentität gestärkt?

    Wie das Ritual selbst dient die Inszenierung religiöser Atmosphäre dazu, bestimmte Gruppenidentitäten zu generieren und zu affirmieren, von neuem bewusst und erlebbar zu machen und gegenüber anderen Gruppen und Identitäten zu konturieren. Religiöse Gemeinschaftserlebnisse sind immer die der kollektiven Selbstvergewisserung. Gemeinsam ausgeführte Kultpraktiken wie Gebet und Gesang, choreographische Bewegungen oder Prozessionen, rituelle Handlungen, die auf einen zentralen Punkt (Kultbild, Altar), einen bestimmten Zielort (externes Heiligtum) oder auf die handelnden Kultprotagonisten ausgerichtet sind, tendieren dazu, unter den Akteuren ein religiös bestimmtes Gemeinschaftsgefühl sowohl hervorzurufen als auch zu erneuern, und dies gilt auch für die Gemeinschaft der mehr oder weniger interagierenden, jedenfalls immer auch emotional teilhabenden Zuschauer einer prominenten Kulthandlung. Gerade die Wiederholung traditioneller Kulthandlungen mit bekannten performativen und rezitativen Elementen und nur geringer Varianz steigert Gefühl und Bewusstsein einer Gruppenidentität. Die religiöse Atmosphäre als Bühne, Hintergrund und Rahmung eines Rituals, welche Autorität und Glaubwürdigkeit der Kulthandlung wesentlich durch ihre emotionalen Komponenten – durch Einstimmung von einzelnen Akteuren und Gruppen – sichert, dürfte sowohl auf das Gemeinschaftsgefühl im Allgemeinen als auch auf die Bildung und Erneuerung von Gruppenidentitäten eingewirkt haben. Welches aber sind die Vorkehrungen und Techniken, die dazu beitragen? Gibt es Inszenierungen von religiöser Atmosphäre, die speziell darauf abzielen, Gruppenidentitäten zu generieren oder zu re-generieren? Welche Rolle spielen dabei andere, konkurrierende, auszugrenzende Gruppen und Gruppenidentitäten? In diesem Kontext ist zu beachten, dass dergleichen Gruppenidentitäten sich auch in Abgrenzung zu älteren oder alteritären Religionen konstituieren; das gilt beispielsweise für die literarische Einstimmung auf den Tempelbesuch (oder für dessen hymnischen Nachklang) im Alten Israel, für hethitische Kataloge unterschiedlicher Götternamen, deren rituelles Verlesen die Identität der im Reich verehrten Gottheiten bestätigen soll, für das elitäre Bewusstsein der Eingeweihten in den Mysterienkulten wie für die Einschwörung auf ein einziges, einheitliches Christentum, das sich spirituell unter der Himmelskuppel der Hagia Sophia versammelt. Unter diesem Gesichtspunkt scheint ein interdisziplinärer Abgleich der Einzelprojekte von besonderem Interesse.

  • Wie werden Hierarchien und Machtstrukturen vermittelt?

    Eine weitgehende Verflechtung und gegenseitige Legitimierung von politischen, wirtschaftlichen und religiösen Strukturen lässt sich unbeschadet der jeweiligen Unterschiede in allen antiken Kulturen feststellen. Grundsätzlich tendieren Rituale und Kulthandlungen dazu, die bestehenden Herrschaftsstrukturen zu affirmieren; ihre zeitstrukturierende Wiederholung wie ihre zeitlose Wiederholbarkeit verweisen unter Berufung auf Traditionen, aitiologische Mythen und göttliche Gesetzgeber darauf, dass politische Macht und gesellschaftliche Hierarchie durch göttliche Satzung legitimiert sei. Die Inszenierung religiöser Atmosphäre mit ihren unterschiedlichen medialen Techniken, mit ihren performativen Elementen, ihren rituellen oder liturgischen Sprechakten und ihrer multi-sensorischen Ausgestaltung dient auch dazu, diesen Bezug sichtbar und erfahrbar zu machen und damit den jeweiligen politischen und sozialen Status quo als gottgegeben und daher unverändert fortdauernd zur Darstellung zu bringen: in den Massenspektakeln der römischen Triumphzüge im republikanischen oder später kaiserzeitlichen Rom, unter Einbeziehung quasi der gesamten Bevölkerung (sei es der Königsstadt Assur zum alljährlichen Frühjahrsfest, sei es der Polis Athen während der Großen Dionysien) oder aber mithilfe der religiösen Ausstattung von Gerichtssälen, mit der die gesetzgebende kaiserliche zugleich als göttliche Autorität ausgewiesen wird, die sich dann auf die Autorität eines jeden Richters überträgt. Darüber hinaus gilt die Fragestellung auch der städtischen Architektur und der antiken Urbanistik insgesamt: Wo und wie werden unter politisch-hierarchischen Gesichtspunkten religiöse Räume platziert? Wie ist ihr Verhältnis zur alltäglichen Lebenswirklichkeit der Menschen beschaffen? Religiöse Bauten werden häufig an prominenter, oftmals künstlich erhöhter Stelle errichtet und verfügen ungeachtet des notorischen Platzmangels in den städtischen Strukturen über weitläufige Räumlichkeiten. Welche Bedeutung haben diese Architekturen im Hinblick auf eine religiöse Atmosphäre, die bestehende Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck bringen und zugleich legitimieren soll? Wie werden die Bauten äußerlich gestaltet, um ihren politisch-religiösen Charakter und damit ihre Besonderheit zu betonen? Welche Ressourcen werden dafür eingesetzt? In welchen kulturellen Kontexten agieren politische Machthaber als religiöse Protagonisten? Welche Konsequenzen hat eine solche Personalunion für die Inszenierung religiöser Atmosphäre? Mit welchen ästhetischen Mitteln wirken Ritualexperten, ausgehend von religiösen Räumen, auch auf den öffentlich wahrnehmbaren Raum ein? Welche Bedeutung, welche Folgen hat das Scheitern einer solchen Inszenierung? Von Cassius Dio wird überliefert, dass Julius Caesar während seines Triumphzuges im Jahr 46 v. Chr., der ihn – den Nachkommen der Venus – als Liebling und Schutzbefohlenen der Götter präsentieren sollte, durch einen Achsenbruch von seinem Triumphwagen geschleudert worden sei. Auch wenn man die historische Wahrheit dieser Anekdote anzweifeln darf, dokumentiert doch der Text die Signifikanz der Inszenierung, die im Moment ihres Misslingens ins Gegenteil umschlägt und als böses Omen wahrgenommen wird.