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Gefährliche Lücken: Wie der Gender Data Gap das Leben von Frauen gefährdet
Der Gender Data Gap beschreibt die systematische Lücke in der Erfassung und Nutzung geschlechtsspezifischer Daten. Diese Lücke führt dazu, dass Frauen in vielen Bereichen ihres Lebens benachteiligt werden, weil Forschung und Entwicklung häufig auf Daten beruhen, die überwiegend von männlichen Körpern und Bedürfnissen ausgehen (1). Ein paar alltägliche Beispiele: Viele Produkte sind für den durchschnittlichen Mann ausgelegt, was Frauen das Leben erschweren kann. So sind Smartphones (2) und Klaviertastaturen (3) auf größere Handgrößen ausgelegt, wodurch sie für Frauen schwerer zu bedienen sind. Stimmerkennungssoftware erkennt weibliche Stimmen weniger gut, was u.a. bei digitalen Meetings zu Benachteiligungen führen kann (4). Auch in der Gestaltung öffentlicher Räume wird von einer männlichen Norm ausgegangen, beispielsweise durch die für Frauen zu niedrige Temperatur in Großraumbüros (5) oder auch Haltegriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln, die für durchschnittlich große Frauen zu hoch angebracht sind und dadurch für sie ein höheres Verletzungsrisiko mit sich bringen (6).
Die Folgen dieser Datenlücke gehen jedoch weit über alltägliche Unannehmlichkeiten hinaus. In einigen Fällen kann der Gender Data Gap sogar lebensgefährlich werden. Ein besonders gravierendes Beispiel hierfür sind Auto-Crashtests. Diese Tests werden mit Dummys durchgeführt, die in Größe und Gewicht (1,75 cm; 78 kg) dem durchschnittlichen männlichen Körper nachempfunden sind (7). Die Sicherheitssysteme wie Airbags, Gurte und die Sitzeinstellungen in Fahrzeugen werden dementsprechend auf diesen männlichen Standardkörper ausgelegt. Als Ergebnis haben Frauen bei Unfällen ein höheres Risiko in Autos eingeklemmt zu werden und erleiden im Gegensatz zu Männern eher Verletzungen wie Becken- oder Wirbelsäulenverletzungen (8). Sie erfahren außerdem bis zu dreimal häufiger ein Schleudertrauma (9) und haben damit insgesamt eine höhere Wahrscheinlichkeit bei einem Autounfall schwere Verletzungen zu erleiden (9) und zu sterben (10).
Es gibt keine gesetzlichen Verpflichtungen, Crash-Tests zur Zulassung eines Autos auch mit Dummys durchzuführen, die dem weiblichen Körper nachempfundenen sind (9). Einige Firmen verwenden inzwischen die sogenannte „5%-Frau“. Die weibliche Anatomie bleibt bei diesen Dummys aber weiterhin unberücksichtigt, womit die „5%-Frau“-Dummys einfach nur etwas kleiner und leichter sind als die klassischen 50%-Männer-Dummys. Damit repräsentieren sie eher einen kleinen Mann als eine durchschnittliche Frau (9). Astrid Linder hat 2013 mit dem Modell EvaRID den ersten Dummy für Crashtests entwickelt, der wirklich einem durchschnittlichen weiblichen Körper nachempfunden ist. Dieser Dummy unterscheidet sich zum Beispiel im Körperschwerpunkt, dem Becken- und Torso-Aufbau sowie dem Muskel- zu Fettanteil von ihrem männlichen Pendant (11).
Mit diesem weiblichen Dummy wurden Sicherheitstestungen durchgeführt, woraufhin festgestellt werden konnte, dass die erhöhte Wahrscheinlichkeit für Schleudertraumata bei Frauen auf eine schwächere Nackenmuskulatur zurückzuführen ist, die aber im Design des Sitzes – ebenso wie die abweichende Sitzposition durch eine andere Statur – nicht berücksichtigt wurde (11).
Das Wissen um die Sicherheitslücke und das Vorhandensein eines weiblichen Dummys allein reichen jedoch nicht aus. Die Zulassungs-Vorschriften müssten angepasst werden, damit geschlechtsspezifische Daten in der Automobilbranche aktiv genutzt werden. Ohne diese Vorschrift bleibt es unwahrscheinlich, dass der Eva-Dummy o. Ä. freiwillig eingesetzt werden, da dies zu einer starken Kostenerhöhung bei der Durchführung der Crashtests führt (10). Immerhin gibt es einen kleinen Lichtblick: Toyota führt neben den verpflichtenden physischen Crashtests auch Computersimulationen für die Sicherheitstestung durch. Dabei verwendet das Unternehmen seit November 2024 nicht nur das gängige männliche Modell und die sogenannte „5%-Frau“, sondern auch ein Modell, das den Körperbau einer durchschnittlich großen und schweren Frau simuliert (12). Außerdem ist die Insassensicherheit in neueren Automodellen insgesamt gestiegen, wovon alle Personen unabhängig ihres Geschlechts profitieren konnten (10). Dennoch besteht weiterhin eine erhöhte Verletzungsgefahr für Frauen. Um solche Datenlücken zu schließen und für zukünftige Forschung zu vermeiden, wäre es wichtig, mehr Daten zu erheben, die nicht der männlichen Norm entsprechen und die erhobenen Daten auch unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte auszuwerten.
References
1. Criado-Perez C, Singh S. Unsichtbare Frauen: wie eine von Männern gemachte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert / Caroline Criado-Perez. Aus dem Englischen von Stephanie Singh. München: btb; 2020. 494 p.
2. Gustafsson E, Johnson PW, Hagberg M. Thumb postures and physical loads during mobile phone use - a comparison of young adults with and without musculoskeletal symptoms. J Electromyogr Kinesiol. 2010;20(1):127–35. eng. doi:10.1016/j.jelekin.2008.11.010 Cited in: PubMed; PMID 19138862.
3. Boyle R, Boyle R. Hand Size and the Piano Keyboard: Literature Review and a Survey of the Technical and Musical Benefits for Pianists using Reduced-Size Keyboards in North America [Internet] [cited 2025 Apr 5].
Available from: https://t1p.de/a8r40
4. Bajorek J. Voice Recognition Still Has Significant Race and Gender Biases. Harvard business review [Internet]. 2019 [cited 2025 Apr 5].
Available from: https://hbr.org/2019/05/voice-recognition-still-has-significant-race-and-gender-biases?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed%3A+harvardbusiness+%28HBR.org%29
5. Chang TY, Kajackaite A. Battle for the thermostat: Gender and the effect of temperature on cognitive performance. PLoS One. 2019;14(5):e0216362. eng. doi:10.1371/journal.pone.0216362 Cited in: PubMed; PMID 31116745.
6. Schweizerische Eidgenossenschaft Bundesamt für Verkehr BAV. Schweizer Sicherheitsbericht: Öffentlicher Verkehr und Schienengüterverkehr [Internet] [cited 2025 Apr 5]; [34 p.]. Available from: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-95984.html
7. Linder A, Svedberg W. Review of average sized male and female occupant models in European regulatory safety assessment tests and European laws: Gaps and bridging suggestions. Accid Anal Prev. 2019;127156–62. eng. doi:10.1016/j.aap.2019.02.030 Cited in: PubMed; PMID 30884388.
8. Nutbeam T, Weekes L, Heidari S, Fenwick R, Bouamra O, Smith J, Stassen W. Sex-disaggregated analysis of the injury patterns, outcome data and trapped status of major trauma patients injured in motor vehicle collisions: a prespecified analysis of the UK trauma registry (TARN). BMJ Open. 2022;12(5):e061076. eng. doi:10.1136/bmjopen-2022-061076 Cited in: PubMed; PMID 35504646.
9. Linder A, Svensson MY. Road safety: the average male as a norm in vehicle occupant crash safety assessment. Interdisciplinary Science Reviews. 2019;44(2):140–53. doi:10.1080/03080188.2019.1603870
10. Frye H, Ko D, Kotnik E. Intersectional Science Policy. JSPG. 2021;18(04). doi:10.38126/JSPG180410
11. Linder A, Holmqvist K, Svensson MY. Average male and female virtual dummy model (BioRID and EvaRID) simulations with two seat concepts in the Euro NCAP low severity rear impact test configuration. Accid Anal Prev. 2018;11462–70. eng. doi:10.1016/j.aap.2017.05.029 Cited in: PubMed; PMID 28622848.
12. Toyota motorcorporation & Toyota central R&D Lab., INC. Total Human Model for Safety (THUMS): AF50 Version 7.1 Occupant Model [Internet]. 2024 [cited 2025 Apr 5]; [181 p.]. Available from: https://global.toyota/en/newsroom/corporate/32665896.html englisch.