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Impfung

Anfang der 90er Jahre konnte nach Einführung eines neuen Masernimpfstoffes in Westafrika gezeigt werden, dass Mädchen und Jungen unterschiedlich auf den Impfstoff reagieren: Während die Sterblichkeit bei Mädchen doppelt so hoch war wie zuvor, spielte die Wahl des Impfstoffes bei den Jungen keine Rolle (1). Aufgrund dieser Beobachtung wurde der Masernimpfstoff in diesem Fall zurückgezogen (2). Später wurde festgestellt, dass die erhöhte Sterblichkeit nur bei Mädchen auftrat, die nach der HTMV einen DTP-Lebendimpfstoff, und nicht bei Mädchen, die HTMV nach ihrer letzten DTP-Dosis erhalten hatten. Die Wechselwirkung zwischen HTMV und DTP-Impfstoff wurde durch „non-specific effects“ (NSE) erklärt, die für die Gesamtmortalität bei Mädchen verantwortlich sein sollten (3). So wurde in epidemiologischen Studien beobachtet, dass Lebendimpfstoffe (z.B. Windpocken, Masern, etc) die Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen unabhängig von der Impfung erhöhen und so die Gesamtmortalität stärker vermindern, als durch die Verhinderung der Infektionen, gegen die die Impfung gerichtet war (4). Im Gegensatz dazu scheinen Totimpfstoffe (z.B. DTP-Impfung, Hepatitis B virus, H1N1 Influenza) die Anfälligkeit für Impfungs-unabhängige Infektionen vor allem in Frauen erhöhen. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass die negativen Effekte die positiven überwiegen, sodass in der Summe die Gesamtmortalität bei Frauen erhöht ist (4).

Die oftmals niedrige Inzidenz von Nebenwirkungen führt dazu, dass diese sich in Zulassungsstudien meist nicht erkennen lassen, sodass nach Marktzulassung weitere Studien folgen, um diese zu erkennen. Sie wären auch geeignet, geschlechtsspezifische Zusammenhänge zu erkennen. Dafür müsste das biometrische Studiendesign allerdings auf diese potenziellen Unterschiede abgestimmt werden, was nach wie vor nicht immer bedacht wird, wie die Diskussion um die COVID-Impfstoffe gezeigt hat: Nach Einführung des Impfstoffes zeigten sich unterschiedliche Impfreaktionen bei Frauen und Männern und in verschiedenen Altersgruppen (5). Nur ein Fünftel der analysierten 4420 klinischen Covid-19 Studien, die im Zeitraum Januar 2020 bis Januar 2021 veröffentlicht wurden, berücksichtigte das Geschlecht in der Analyse und Auswertung (6). Auch andere soziodemografische Parameter wie ethnische Herkunft sind in klinischen Covid 19 Studien oft unterrepräsentiert (7).

Seit 2004 ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Sponsor*innen bei Studien nach dem  Arzneimittelgesetz (AMG) bestätigen, dass die gewählte Geschlechterverteilung geeignet ist, geschlechtsspezifische Unterschiede zu erkennen (8). Bei klinischen Studien liegt bis dato keine gesetzliche Regelung vor. Lediglich drei Förderinstitutionen (Stand 2019) stellen Anforderungen bezüglich Geschlechteraspekten an die Antragstellenden (9), darunter die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG): „Zur Verbesserung der Qualität der Forschung und zur Vermeidung „blinder Flecken“ regt die DFG an, Geschlecht und/oder weitere Vielfältigkeitsdimensionen auch im Forschungsinhalt angemessen zu berücksichtigen.“ (10).  (Link!) Den Antragstellenden wird eine Checkliste zur Verfügung gestellt, anhand derer die Relevanz von Geschlecht/Vielfältigkeit im jeweiligen Forschungsvorhaben überprüft und festgestellt werden kann. (11). Bei Einschlägigkeit muss dieses gemäß Leitlinie der DFG bereits bei Antragstellung für ein Forschungsvorhaben dargelegt werden (12). 

 

Referenzen:

1. Aaby P, Knudsen K, Whittle H, Lisse IM, Thaarup J, Poulsen A, Sodemann M, Jakobsen M, Brink L, Gansted U. Long-term survival after Edmonston-Zagreb measles vaccination in Guinea-Bissau: increased female mortality rate. The Journal of Pediatrics. 1993;122(6):904–8. doi:10.1016/S0022-3476(09)90015-4 Cited in: PubMed; PMID 8501567.

2. Aaby P, Benn CS, Flanagan KL, Klein SL, Kollmann TR, Lynn DJ, Shann F. The non-specific and sex-differential effects of vaccines. Nature reviews. Immunology. 2020;20(8):464–70. doi:10.1038/s41577-020-0338-x Cited in: PubMed; PMID 32461674.

3. Aaby P, Jensen H, Samb B, Cisse B, Sodemann M, Jakobsen M, Poulsen A, Rodrigues A, Lisse IM, Simondon F, Whittle H. Differences in female-male mortality after high-titre measles vaccine and association with subsequent vaccination with diphtheria-tetanus-pertussis and inactivated poliovirus: reanalysis of West African studies. Lancet (London, England). 2003;361(9376):2183–8. doi:10.1016/S0140-6736(03)13771-3 Cited in: PubMed; PMID 12842371.

4. Benn CS, Fisker AB, Rieckmann A, Sørup S, Aaby P. Vaccinology: time to change the paradigm? The Lancet. Infectious diseases. 2020;20(10):e274-e283. doi:10.1016/S1473-3099(19)30742-X Cited in: PubMed; PMID 32645296.

5. Ling RR, Ramanathan K, Tan FL, Tai BC, Somani J, Fisher D, MacLaren G. Myopericarditis following COVID-19 vaccination and non-COVID-19 vaccination: a systematic review and meta-analysis. Lancet Respir Med. 2022;10(7):679–88. doi:10.1016/S2213-2600(22)00059-5 Cited in: PubMed; PMID 35421376.

6. Brady E, Nielsen MW, Andersen JP, Oertelt-Prigione S. Lack of consideration of sex and gender in COVID-19 clinical studies. Nat Commun. 2021;12(1):4015. doi:10.1038/s41467-021-24265-8 Cited in: PubMed; PMID 34230477.

7. Xiao H, Vaidya R, Liu F, Chang X, Xia X, Unger JM. Sex, Racial, and Ethnic Representation in COVID-19 Clinical Trials: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Intern Med. 2023;183(1):50–60. doi:10.1001/jamainternmed.2022.5600 Cited in: PubMed; PMID 36469312.

8. Deutscher Bundestag. 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG). 2004. 

9. Aldin A, Clever K, Skoetz N, Meyer G. Die Variable „Geschlecht“ im Forschungsprozess: Anforderungen in den Antragsrichtlinien von Förderinstitutionen im Gesundheitswesen [The "gender" variable in the research process: Requirements contained in the application guidelines of funding institutions in the health sector]. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2020;158-15910–5. ger. doi:10.1016/j.zefq.2020.11.003 Cited in: PubMed; PMID 33257268.

10. Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Relevanz von Geschlecht und Vielfältigkeit in der Forschung; 2024 [cited 2024 Aug 15]. Available from: https://www.dfg.de/de/grundlagen-themen/entwicklungen-im-wissenschaftssystem/vielfaeltigkeitsdimensionen#333282

11. Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Relevanz von Geschlecht und Vielfältigkeit in der Forschung Checkliste für Antragstellende zur Planung von Forschungsvorhaben. In: [cited 2024 Aug 15]. Available from: https://www.dfg.de/resource/blob/174152/f546a4da69b6552edd76cc422667deee/checkliste-data.pdf

12. Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Leitfaden für die Antragstellung - Projektanträge [Internet]. 03/24 [cited 2024 Oct 1]. Available from: https://www.dfg.de/resource/blob/168312/599de0d17fe6300d445bfaf9dabacbc9/54-01-de-data.pdf

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