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Geschichte des Instituts für experimentelle Therapie Marburg

Zur Beachtung: Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um eine Darstellung aus dem Jahr 1930.

Auszug aus dem gleichnamigen Aufsatz Hans Schmidts aus: Forschungsinstitute: ihre Geschichte, Organisation und Ziele; unter Mitwirkung zahlreicher Gelehrter herausgegeben von Ludolph Brauer. Hamburg: Paul-Hartung-Verlag, 1930, S. 101-105.

Das Institut für experimentelle Therapie 'Emil von Behring' in Marburg an der Lahn

Von Dr. Hans Schmidt, a.o. Professor an der Universität Marburg *)

[...]Im Jahre 1895 wurde der damalige Professor der Hygiene in Halle, EMIL VON BEHRING, auf den gleichen Lehrstuhl an der Philipps-Universität in Marburg an der Lahn berufen und übernahm dals Nachfolger FRÄNKELS die Leitung des Hygienischen Instituts der Universität. Um BEHRINGS Forschungstätigkeit durch den Lehrbetrieb nicht zu hindern, erhielten WERNICKE und später BONHOFF den Auftrag, als Abteilungsleiter Vorlesungen und praktische Kurse an seiner Stelle abzuhalten.

So konnte sich BEHRING völlig der experimentellen Abteilung des Instituts widmen und seiner Forschungstätigkeit dank ALTHOFFS tatkräftiger Unterstützung bald einen verhältnismäßig großen Rahmen geben.

Den fortschreitenden, ins Große strebenden Forschungsplänen BEHRINGS, die ihrer Natur nach sogleich den Weg in die Praxis gehen mußten, konnte diese Unterstützung jedoch keineswegs genügen. Er entschloß sich infolgedessen im Jahre 1896 unter erheblichen eigenen Opfern zur Errichtung eines Privatlaboratoriums auf dem Schloßberge in Marburg an der Lahn. So entstand in glücklicher Ergänzung des staatlichen Instituts eine gänzlich aus privaten Mitteln geschaffene wissenschaftliche Arbeitsstätte von beträchtlichem Ausmaß, für die die Höchster Farbwerke die Inneneinrichtung beisteuerten. Dieses Behringsche Privatlaboratorium, vom Beginn an für wissenschaftliche Forschung bestimmt, machte im Laufe der Zeit äußere Wandlungen durch, bewahrte aber stets seinen Charakter als reines Forschungsinstitut.

[...] Andeutungen müssen genügen, um darzutun, was Wissenschaft und praktische Medizin dem Institut und seinem Gründer zu danken haben.

Nachdem BEHRING seine Arbeiten über Diphtherie und Tetanus zu einem gewissen Abschluß gebracht hatte, widmete er sich zunächst der Erforschung und Bekämpfung der Tuberkulose. So waren es in erster Linie Arbeiten auf diesem Gebiet, die in den Jahren nach der Gründung des Laboratoriums auf dem Schloßberg durchgeführt wurden. BEHRING selbst sagt in Heft 5 seiner "Beiträge zur experimentellen Therapie" über diese seine Arbeitsstätte folgendes:

>> Mehr als 200.000 Liter von Bouillonkulturen sind hier verarbeitet worden. Die Küche für die Herstellung der Nährböden, der Brutraum, die Apparate für die Einengung und Trocknung des flüssigen Anteils der Kulturen sowie für die Gewinnung von Preßsaft aus den Bazillenmassen, für die Zerkleinerung der Bazillen, für die Herstellung vvon dialysierten und chemisch zerlegten Präparaten beanspruchen den meisten Raum in dem eigentlichen Laboratoriumsgebäude.<<
An gleicher Stelle berichtet BEHRING über die von ihm gemenischaftlich mit RÖMER und RUPPEL aus den Tuberkelbazillen gewonnenen Präparate, deren Isolierung nur durch die vollkommenen maschinellen Einrichtungen des Instituts möglich wurde: die Tuberkulo-Thyminsäure, das Tuberkulo-Lysin.

Das Schloßberg-Laboratorium wurde die Geburtsstätte der Tuberkulose-Schutzimpfung und, wie wir später sehen werden, auch der Diphtherie-Schutzimpfung.

In eigenen großen Stallungen wurde die Tuberkulose-Schutzimpfung von BEHRING selbst durchgeführt und nach seinem Beispiel auch an vielen anderen Orten großzügig betrieben. Aus BEHRINGS Bericht über die Organisation der Marburger Arbeiten geht hervor, wie damals die Fäden aus aller Welt auf dem Gebiete der Rinder-Tuberkulosebekämpfung im Schloßberg-Laboratorium zusammenliefen.

Ein Stab von Mitarbeitern stand ihm zur Seite. Neben seinem eigentlichen Assistenten RUPPEL, der das Privatlaboratorium leitete, waren es die Assistenten des Hygienischen Instituts, RÖMER, MUCH, VON LINGELSHEIM, KNORR, KITASHIMA und viele andere.

Als RUPPEL im Jahre 1902 seine Tätigkeit aufgab, entschloß sich BEHRING, mit einer in Marburg bestehenden Firma [= »Dr. Siebert und  Dr. Ziegenbein oHG«] ein Abkommen zu treffen, um den Weiterbestand des große Mittel erfordernden Schloßberg-Laboratoriums zu sichern. Den Höchster Farbwerken wurden die für die Einrichtung des Institutes gemachten Aufwendungen zurückerstattet und SIEBERT übernahm die Leitung des Laboratoriums, das sich nun wirtschaftlich auf den Vertrieb von Bovovaccin und Tetanus-Heilserum stützte. Es entstand auf diese Weise das "Behringwerk", das organisatorisch mit dem Schloßberg-Laboratorium verbunden war und mit ihm gewissermaßen eine Einheit bildete.

Die inzwischen weit über Deutschlands Grenzen hinausgehende Rinder-Schutzimpfung gegen Tuberkulose wurde weiter ausgebaut und die Prüfung zahlreicher Desinfektionsmittel, insbesondere des Wasserstoffsuperoxyds und des Formaldehyds, sowie die Herstellung von Nährböden aus Milch, Arbeiten über keimfreie Gewinnung und Konservierung von Milch und anderes mehr im Großen vorgenommen. Der Ruf des Instituts als hochmoderne wissenschaftliche Forschungsstätte zog damals zahlreiche Besucher aus nah und fern nach Marburg, besonders nachdem BEHRING im Institut das erste Ultramikroskop von SIEDENTOPF und ZSIGMONDY aufstellen ließ, das auf der Naturforscher-Versammlung in Kassel berechtigtes Aufsehen erregte. Das Institut verfügte des weiteren über hervorragende Apparate zur Bestimmung der Brechungsexponenten, der elektrischen Leitfähigkeit, der Viskosität und anderes mehr. Im Schloßberg-Laboratorium wurden Arbeiten über das Tuberkulin, die Tulase und das Tulaselaktin gleichfalls zum größten Teil ausgeführt, so daß sich die Mitarbeiter BEHRINGS über die Präparate, die Protokollführung und die Tierversuche stets informieren konnten. Eine weitere, Jahre erfordernde Arbeit des Instituts bestand in der Trennung eiweißartiger Teile von den /

[S. 103] fettigen und lipoiden Anteilen des Tuberkelbazillus mit Hilfe der verschiedensten Agenzien und der Prüfung der erhaltenen Produkte am tuberkulösen und normalen Meerschweinchen. Sie bildete die Grundlage für die späteren Partialantigene MUCHs.

Im Jahr 1912 nahm von BEHRING seine Diphtheriearbeiten wieder auf, um zu einer brauchbaren Methode für die aktive Schutzimpfung gegen die Diphtherie zu gelangen. Seine Arbeit galt also nicht mehr der Heilung der Diphtherie durch sein antitoxisches Heilserum, sondern der Vorbeugung durch aktive Immunisierung mit dem Diphtheriegift selbst. Hierzu mußte das Gift in langer, mühsamer Arbeit erst in eine Form gebracht werden, in der es seine Giftwirkung nur so weit entfalten durfte, daß es ohne Schädigung zur Immunisierung des Menschen tauglich war. Durch geeignet Bindung des Toxins an das Antitoxin wurde das schwierige Problem schließlich gelöst.

Mit diesem als 'T.A.' bezeichneten Präparat arbeiteten unter an seiner regsten Anteilnahme und Leitung eine Reihe von Klinikern und Praktikern wie ZANGEMEISTER, VIERECK, besonders SCHREIBER in Magdeburg u.a. Die Immunisierungserfolge wurden an eingesandten Blutproben vieler Hunderte von Kindern im Schloßberg-Laboratorium geprüft, wo BEHRING alle Vorgänge über die Schutzimpfung gegen Diphtherie auf das sorgfältigste kontrollierte.

Dann kam der große Krieg und mit ihm die Notwendigkeit, die Diphtheriearbeiten vor den Forderungen des Staates zurückzustellen. Im Auslande, besonders in Neuyork, hat man dann während des Krieges die von BEHRING geschaffene aktive Schutzimpfung in großem Maßstabe an Kindern durchgeführt.

Während des Krieges standen sowohl das Forschungsinstitut wie die Behringwerke ganz im Dienste der Heeresleitung als Herstellungsstätte für Tetanus-Heilserum und andere Impfstoffe, die in größtem Stile geliefert werden mußten.

Bereits im Jahre 1914 war das Behringwerk in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung unter der Bezeichnung 'Behringwerke' umgewandelt worden, die im Jahre 1920 die Form einer Aktiengesellschaft annahm.

So kam es, daß das ursprüngliche Privatlaboratorium BEHRINGs als Forschungsinstitut ein integrierender Bestandteil der Behringwerke wurde.

Die Fülle der Probleme, die mit der Herstellung von Heilserum und Impfstoffen verbunden sind, wirkten mitbestimmend auf die Forschung, und umgekehrt ergab die innige Zusammenarbeit wertvolle Ergebnisse und neue Anregungen für das Werk.

Am 31. März 1917 starb EMIL von BEHRING nach längerem Leiden.

Die wissenschaftliche Arbeit des Instituts ruhte nun bis zum Ende des Krieges.

Im Jahr 1919 übernahm FORNET für kurze Zeit die Leitung, schied jedoch bereits 1920 wieder aus, so daß erst mit UHLENHUTHs Eintritt im Juli 1921 die wissenschaftliche Arbeit da wieder aufgenommen werden konnte, wo BEHRING sie zurückgelassen hatte.

Mit UHLENHUTHs Berufung zum Leiter des Forschungsinstituts erhielt das bisherige Privatlaboratorium EMIL V. BEHRINGs zum ehrenden Gedenken an seinen Gründer die Bezeichnung Institut für experimentelle Therapie 'Emil von Behring'. 

Als Ausdruck der engen Zusammengehörigkeit von Werk und Forschung im Sinne BEHRINGs übernahm UHLENHUTH mit der Leitung des Instituts auch die wissenschaftliche Leitung der Behringwerke./

[104:] Nach dem Tode BEHRINGs ging der größte Teil seiner wissenschaftlichen Bibliothek, besonders die sehr umfangreiche Separatensammlung, in den Besitz des Instituts über, das in der Folge bestrebt war, seine Bücherei durch Ergänzungen und Neuanschaffungen auf eine ansehnliche Höhe zu bringen.

Sehr bald nach seinem Eintritt zog UHLENHUTH seinen früheren Schüler DOLD, der damals im Staatsinstitut für experimentelle Therapie in Frankfurt a. Main war, zu sich nach Marburg und gab ihm die Stellung als Abteilungskeiter des Instituts.

Unter UHLENHUTHs Leitung wurden erneut großzügige Arbeiten auf dem Gebiete der Bekämpfung der Rindertuberkulose durchgeführt; weitere Arbeiten galten der Erforschung der experimentellen Syphilis und der Virusschweinepest. Auf Grund der zuletzt genannten Arbeiten errichtenen die Behringwerle in Eystrup an der Weser ein großes Institut zum Studium der Virusschweinepest und zur Gewinnung von Schutzserum gegen diese Krankheit.

Als UHLENHUTH im Jahre 1923 einen Ruf auf den Lehrstuhl der Hygiene an der Universität Freiburg i. Breisgau Folge leistete, übernahm an seiner Stelle DOLD die Leitung des Instituts, in das H. SCHMIDT als Abteilungsleiter eintrat. DOLD baute einen Teil des Instituts zu einem Untersuchungsamt aus, um einerseits genügend Material für Zwecke wissenschaftlicher Forschung auf serologischem und bakteriologischem Gebiete zu erhalten, und anderseits die notwendige Verbindung des Instituts mit der Ärzteschafz enger zu gestalten. Auf einen möglichst engen Kontakt mit der Praxis war das Institut von jeher angewiesen, das es ohne tätige Mithilfe der Kliniker und praktischen Ärzte unmöglich ist, zu einem abschließendem Urteil über die Wirksamkeit vieler Sera und Impfstoffe zu gelangen.

Unter DOLDs Leitung wurde die praktische Vaccinetherapie in Kombination mit der unspezifischen Reizkörpertherapie zu einem Hauptarbeitsgebiet des Instituts. In diesem Zusammenhang wurde die Herstellung des Yatrens übernommen und in jahrelanger Arbeit vervollkommnet, wodurch sich eine bedeutende Erweiterung des Betriebes nach der rein chemischen Seite notwendig machte. Enge Zusammenarbeit mit dem Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten in Hamburg (MÜHLENS) schuf dann im Yatren 105 das zur Zeit beste, spezifisch wirkende Heilmittel gegen die Amöbenruhr.

Bei dem sich immer enger gestaltenden Zusammenarbeiten des Instituts für experimentelle Therapie 'Emil von Behring' mit der Produktionsstätte für Heilsera und Impfstoffe der Behringwerke erwies sich die räumliche Trennung auf die Dauer als unhaltbar, wenn nicht der Zusammenhang zwischen Forschungsinstitut und technischer Arbeitsstätte verloren gehen sollte. Aus diesem Grunde entschloß man sich im Jahre 1927, das Laboratoriumsgebäude auf dem Schloßberg aufzugeben und das Institut für experimentelle Therapie in den Gebäudekomplex der Behringwerke in Marburg zu verlegen.

Nun erst war die räumliche Zusammenarbeit wieder möglich geworden, wie sie in der ersten Zeit der Gründung des Instituts bestand und von BEHRING als unerläßlich notwendig betrachtet wurde.

Inzwischen war an dem Problem des Toxin-Antitoxin-Bindung intensiv weitergearbeitet worden. Neue Präparate in Gestalt der Toxin-Antitoxin-Flocken wurden als 'T.A.F.' für die Schutzimpfung eingeführt, und wiederum trat das Institut /

[105:] wie zu Behrings Zeiten in den Mittelpunkt der Betsrebungen zur aktiven Schutzimpfung gegen die Diphtherie. Dem Institut gelang es, angeregt durch Arbeiten der Amerikaner über das Scharlachproblem, in Verbindung mit den Behringwerken das erste wirksame deutsche Scharlach-Heilserum herzustellen. Als DOLD im Jahre 1927 einem Rufe als Abteilungsleiter an das Reichsgesundheitsamt in Berlin folgte, übernahm SCHMIDT die Leitung des Instituts für experimentelle Therapie 'Emil von Behring'.

Wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Institut für Infektionskrankheiten 'Robert Koch' sowie dem Tuberkulose-Forschungsinstitut in Hamburg-Eppendorf wurde in der Folgezeit angebahnt.

Aus dem BEHRINGschen Privatlaboratorium erwuchsen das Institut für experimentelle Therapie und die Behringwerke. Wissenschaftliche Forschung und Technik der Herstellung müssen nach BEHRINGs Auffassung eng miteinander verknüpft sein, um in lebendiger Wechselwirkung sich gegenseitig zu befruchten. So sieht das Institut für experimentelle Therapie 'Emil von Behring' auch heute [= 1930] eine seiner Hauptaufgaben in der Erfüllung dieser bewährten Grundsätze."

*) Der Verfasser Professor Dr. Hans Schmidt, geboren am 31. August 1882 in Düsseldorf, war von 1923 bis 1955 Leiter des Instituts für Experimentelle Therapie Emil von Behring in Marburg. 1940 wurde er zum außerordentlichen Professor für  das Fach Hygiene an der Universität Marburg ernannt, 1949 zum ordentlichen Professor und kommissarischen Direktor des Hygienischen Instituts. Schmidt erhielt zahlreiche Preise und Ehrenmitgliedschaften, u.a. der Königl. Medizinischen Gesellschaft Barcelona (1943). Weiterführende Literatur vgl. Grundmann, Kornelia: Schmidt, Paul Hans Karl Constantin, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 23, Duncker & Humblot, Berlin 2007, S. 190 f. (Digitalisat).