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WE 2: Vokalreduktion und Vokalverlust in deutschen Dialekten: Strukturelle Kohärenz und Kognition

Aus diachroner Perspektive ist die Reduktion unbetonter Endsilben von V > ə > Ø ab dem Althochdeutschen wohl einer der wichtigsten morphophonologischen Prozesse mit Auswirkungen auf die prosodische Struktur von Wörtern. Die unterschiedlichen Endsilbentypen wie volle, reduzierte oder apokopierte Silben sind in den deutschen Dialekten immer noch zu finden. Das übergeordnete Ziel des Projekts ist die Untersuchung der Verteilung verschiedener Formen wortfinaler reduzierter Silben in deutschen Dialekten und ihre Auswirkungen auf die Sprachverarbeitung. Es sollen Einblicke in die historische Entwicklung der Vokalreduktion und des Vokalverlustes gewonnen werden und hierzu  zwei Forschungsstränge verfolgt werden: (i) in einer geolinguistischen Analyse soll ein Dialektkorpus systematisch auf Produktionsmuster wie Schwa-Apokope und Schwa-Synkope untersucht werden und (ii) in Wahrnehmungsstudien die Präferenzen für wortprosodische Muster bei Hörern aus verschiedenen Dialektgebieten mittels Messung ereigniskorrelierter Potentiale (EKPs) untersucht werden. 

Die Hauptziele des ersten Teils des Projekts sind es, Regionen zu identifizieren, die anfälliger für oder robuster gegen Vokalreduktion sind, sowie phonologische und morphologische Kontexte zu bestimmen, in denen Vokalreduktion stattfindet. Wortformen aus Dialektgrammatiken, Dialektatlanten und Sprachkorpora sollen mit Techniken der räumlichen Statistik analysiert werden. Es ist anzunehmen, dass es in allen großen Dialektgebieten räumlich kohärente Unterschiede in der Reduktion finaler Silben gibt, die unterschiedliche Phasen der Sprachgeschichte widerspiegeln. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass es innerhalb aller großen Dialektgebiete Variation in der Produktion finaler Silben gibt. Es soll daher für jeden Dialekt ermittelt werden, auf welcher Stufe des historischen Pfades (von Vollvokal zu Schwa bis Apokope) er sich befindet (Grad der strukturellen Kohärenz).

Im zweiten Teil des Projekts wird die Wahrnehmung unterschiedlicher Reduktionsgrade untersucht. Eine zentrale Frage ist hierbei, ob die Verarbeitung und Wahrnehmung einer Wortform in Abhängigkeit von der Art der phonetischen Realisierung der finalen Silbe (keine Reduktion, Reduktion zu Schwa und Apokope) mehr oder weniger herausfordernd sind. In einer EKP-Studie soll die implizite Evaluation verschiedener Reduktionsformen bei Probanden aus Dialektregionen mit unterschiedlichen Reduktionsformen (hochdeutsche Dialekte im Wallis, im obersächsischen Raum, Ostfriesland) untersucht werden. Die Akzeptanz der verschiedenen Formen soll Aufschluss darüber geben, welche kognitive Rolle Vokalreduktionen oder Vokalverluste spielen, ob sie die Wortverarbeitung begünstigen oder behindern. Unterschiede in der synchronen Verarbeitung verschiedener Wortformen wiederum haben das Potential, Sprachwandelphänomene zu erklären und zu ergründen, welche Prozesse für die typologischen Entwicklungen unterschiedlicher prosodischer Wortformen verantwortlich sind.