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WE 3: Silbenreduktion in deutscher Versdichtung

Vokalauslassungen und andere Arten der Elision sind in der spontanen Umgangssprache üblich, werden aber auch von Dichtern und Schriftstellern systematisch in der Komposition von Versdichtung eingesetzt, um euphonische Effekte zu erzielen. Dieses Projekt untersucht die Verwendung prosodisch motivierter Elisionen in deutscher Versdichtung und deren Rolle in der Rezeption.

Metrisch motivierte Elisionen ermöglichen es den Autoren, die Anzahl der Silben und die Position der Silbenprominenz zu kontrollieren. Sie unterstützen so regelmäßig alternierende Rhythmen, die die Echtzeit- Sprachverarbeitung bei den Rezipienten von Versen erleichtern. Diese kognitive Erleichterung – so argumentieren aktuelle psychologische Theorien der Ästhetik – löst eine positive affektive Reaktion aus, die von den Rezipienten als angenehm empfunden wird, was zu einem euphonischen Effekt führt und Verse ästhetisch ansprechender macht. Markierte Auslassungen von Vokalen, die zu seltenen und ungewöhnlichen Wortformen mit komplexen Konsonanten-Clustern und anderen phonotaktischen Hindernissen führen, stören kognitive Prozesse der Sprachverarbeitung. Übermäßig störende Instanzen lösen eine negative affektive Reaktion aus, die von den Rezipienten als unangenehm empfunden wird, was zu einem kakophonischen Effekt führt und Verse ästhetisch weniger ansprechender macht.

In diesem Projekt nutzen wir öffentlich zugängliche Korpora, Ressourcen und Werkzeuge, um diese "poetische Lizenz" formal zu analysieren und zu beschreiben (ausgelassene Segmente, metrische Kontexte, resultierende Silbenstrukturen und prosodische Konsequenzen), die Prinzipien aufzudecken, die ihre Verwendung bestimmen, und ihre Grenzen auszuloten. Wir verwenden experimentelle Methoden (intuitive Urteile, Eye Tracking, EEG), um zu untersuchen, wie Vokalauslassungen kognitive Prozesse und ästhetische Ergebnisse bei der Rezeption von Versen beeinflussen. Dabei nutzen wir die hohe zeitliche Auflösung und die Multidimensionalität von Blickbewegungen und elektrophysiologischen Maßen, um eine verfeinerte Version von Opitz' Behauptung aus dem 17. Jahrhundert zu testen, dass die übermäßige "Zusammenziehung der Silben die Verse widerwärtig und unangenehm zu lesen" macht. Dieser mehrschichtige Ansatz verknüpft Verallgemeinerungen über formale Muster stilisierter Sprache mit den kognitiven Prozessen der Wahrnehmung, des Verstehens und des ästhetischen Urteilens und trägt so zur Theoriebildung über die Grenzen der Literatursprache hinaus bei.