Hauptinhalt
Forensische Phonetik

Inhalte:
- Was ist forensische Phonetik?
- Was machen forensische Phonetiker*innen?
- Sind Stimmen einzigartig? Gibt es "Stimmabdrücke"?
- Dialektologie in Marburg - Georg Wenker
- Forensische Phonetik in Marburg studieren
- Kontakt
- Literatur
Was ist forensische Phonetik?
"Forensisch" beschreibt die Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden in der Untersuchung und des Nachweisens von Fakten im gerichtlichen (strafrechtlich oder zivilrechtlich) Kontext.
"Phonetik" ist die Wissenschaft von Sprechlauten. Phonetiker*innen beschäftigen sich mit der Produktion und Transmission von Schallereignissen und wie diese wahrgenommen werden (Crystal, 2010; Kohler, 1977, S. 25).
Während sich die forensische Textanalyse mit schriftlichen Dokumenten auseinandersetzt, ist der Hauptfokus der forensischen Phonetik auf Audioaufnahmen oder der Stimme. In diesem Sinne kann die forensische Phonetik als Anwendungsbereich der Phonetik gesehen werden, der sich mit Lauten und Tönen beschäftigt, die für das Rechtssystem relevant sind.

Was machen forensische Phonetiker*innen?
In den frühern sechziger Jahren bestand die Arbeit von forensischen Phonetiker*innen hauptsächlich aus Sprecheridentifizierungen (French, 1994). Seitdem sind die Aufgaben allerdings sehr viel vielfältiger geworden. Heute umfasst die Arbeit von forensischen Phonetiker*innen Sprechervergleiche (voice comparison), Audiotranskription (audio transcription) sowie die Verbesserung der Qualität von Audioaufnahmen (audio enhancement). Andere, weniger häufige Aufgaben sind das Erstellen eines Sprecherprofils (speaker profiling), die Authentifizierung von Aufnahmen (audio authentication) und akustische Gegenüberstellungen (voice line-ups). Eine genaueren Beschreibung dieser Aufgaben findet sich in der nachstehenden Tabelle. Die tatsächliche Verteilung der Aufgaben kann bei jedem forensischen Team oder jeder forensischen Expert*in in Abhängigkeit von ihren Expertisen und vorhandenen Hilfsmitteln variieren. Ein Beispiel für ein solches Hilfsmittel ist das Dialekt Informationssystem am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas (DSA), was nachfolgend näher beschrieben wird (Schmidt, Herrgen, Kehrein & Lameli, 2008).
Hauptbereiche der forensischen Phonetik:
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Sprechervergleich (voice comparison)
Hierbei handelt es sich um einen Vergleich von zwei oder mehreren Sprachaufzeichnungen. Aufnahmen eines oder einer unbekannten Sprecher*in (z.B. im Fall von Bedrohung, Erpressung, Entführung) werden phonetisch analysiert und mit Sprachaufnahmen eines oder mehrerer Verdächtiger verglichen. Bei der Beurteilung von Gemeinsamkeiten in verschiedenen Aufnahmen muss einerseits die Konsistenz, mit der Merkmale produziert werden, andererseits die Spezifität solcher Merkmale beachtet werden. Konsistenz deutet auf die Ähnlichkeit der Merkmale hin. Die Spezifität eines Merkmals definiert deren Einzigartigkeit oder Besonderheit. Vergleich und Bewertung sprecherspezifischer Merkmale von Stimme, Sprache und Sprechweise in Hinsicht auf Identität oder Nicht-Identität der Sprecher*innen ist die Hauptaufgabe innerhalb der forensischen Phonetik.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Transkription (audio transcription)
Transkriptionen bestehen aus einer detaillierten Beschreibung der Inhalte einer Aufnahme. Diese umfassten nicht nur das Gesprochene, sondern auch non-verbales Material wie Weinen, Bellen, Türen, die sich schließen, Töne von einem Anrufbeantworter, Motorgeräusche, Schüsse, etc.
Traskriptionen dienen zwei Zwecken: 1) die forensische Untersuchung zu unterstützen: möglicherweise gibt es Videoaufnahmen von einem Auto, das zum Drogentransport genutzt wurde, oder eine Blackbox wurde von einem abgestürzten Flugzeug geborgen; 2) um als belastendes Beweismaterial vor Gericht verwendet zu werden (z.B. erwähnt die angeklagte Person möglicherweise eine Geldüberweisung auf einer Aufnahme).Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Verbesserung der Audioqualität (audio enhancement)
Die Audioqualität einer Aufnahme kann durch Hintergrundgeräusche und Verzerrungen, die beispielsweise durch schlechte Aufnahmeausrüstung oder -methoden sowie die Situation, in der die Aufnahme gemacht wurde, stammen können, geschwächt sein. Die akustische Verständlichkeit des Gesagten kann durch die Anwendung von digitalen Frequenzfiltern und hochwertigem Equipment verbessert werden. In einem ersten Schritt wird dafür spezialisierte Software verwendet, um die Spektralcharakteristika des Signals zu analysieren. Basierend auf dieser Analyse werden dann Filter erstellt, um beispielsweise die Intensität von bestimmten Frequenzen zu verringern (im Falle von störenden Geräuschen wie Netzbrummen, Wind oder Ventilatoren) oder um Sprechfrequenzen zu verstärken.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Sprecherprofil (speaker profiling)
Wenn eine Aufzeichnung der Täter existiert, die Polizei aber noch keinen Verdächtigen identifiziert hat, kann anhand der aufgezeichneten Stimme ein Profil erstellt werden. Hinweise bezüglich Geschlecht, Alter, Akzent und möglicher Herkunft, Bildungsgrad und sprechertypischer sprachlicher oder auch nicht-sprachlicher Angewohnheiten etc. sind für Ermittler*innen wichtige Hilfsmittel bei der Suche nach Verdächtigen.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Authentifizierung von Aufnahmen (audio authentication)
Die Authentifizierung von Aufnahmen bedeutet, zu untersuchen, ob die Aufnahme authentisch ist oder bearbeitet wurde. Authentifizierungsanalysen können außerdem beinhalten, wie eine Aufnahme gemacht wurde und welches Equipment dafür verwendet wurde.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Akustische Gegenüberstellung (voice line-up)
Falls Zeug*innen die Stimme des Täters gehört, aber das Gesicht nicht gesehen haben oder identifizieren können, wird eine akustische Gegenüberstellung durchgeführt. Um eine 'gerechte' Gegenüberstellung gewährleisten zu können, ist die phonetische Beratung bei der Vorbereitung und Durchführung äußerst wichtig.
Sind Stimmen einzigartig? Gibt es "Stimmabdrücke"?
Der Audrück "Stimmabdruck" oder "voice print" wird von forensischen Sprachexpert*innen, die die nicht-automatische auditorische/akustische Analysemethode verwenden, als problematisch angesehen. Es unterstellt, dass es einen einzigartigen und gleichbleibenden Stimmabdruck gibt, durch den man Individuen wie durch einen Fingerabdruck unterscheiden kann. Anders als bei Fingerabdrücken gibt es bei der Stimme allerdings Variabilität auf verschiedenen Ebenen des Sprachprozesses (Nolan, 1991). Manche können kontrolliert werden, wie beispielsweise die Art und Weise des Sprechens (z.B. formelle vs. informelle Sprache oder Sprachgeschwindigkeit), wohingegen andere als Konsequenzen der körperlichen Verfassung nicht veränderbar sind (z.B. kann Sprache durch eine Erkältung nasaler klingen).
In der Konsequenz wäre es inkorrekt, das Fazit einer Sprechervergleichsanalyse wie folgt zu formulieren: "Sprecher*in A, die man auf der Aufnahme X hört, ist Frau Blofeld". Stattdessen formulieren forensische Expert*innen ihre Ergebnisse (normalerweise) in Form von Wahrscheinlichkeiten, so wie es die Richtlinien des European Network of Forensic Science Institutes (ENFSI, 2015) empfehlen.
Wir sind Mitglieder der International Association for Forensic Phonetics and Acoustics (IAFPA). Die Vereinigung ist ein professioneller Zusammenschluss für Wissenschaftler*innen, die Stimmen, Sprache und Audioaufnahmen analysieren. Als Mitglieder folgen wir den IAFPA Standards für professionelles Verhalten und Verfahren, wie es in ihrem Code of Practice festgeschrieben wurde.
Dialektologie in Marburg - Georg Wenker
Ein Dialekt kann sowohl die Form einer kleinen Anzahl an dialektalen Charakteristika in einer ansonsten sehr standardnahen Varietät annehmen, bis hin zu einer großen Anzahl an Abweichungen von der Standardsprache als Dialekt im traditionellen Sinne. Im Falle eines Sprecherprofils kann eine detaillierte Analyse den Phonetiker*innen eine Idee geben, wo die Sprecherperson ihre Jugend verbracht, oder wo die ausländische Sprecherperson ihr Deutsch gelernt haben könnte.
Der Deutsche Sprachatlas in Marburg hat glücklicherweise die alten Dialektkarten von Georg Wenker (1852-1911) geerbt, einem Linguisten, der dialektale Informationen von ca. 40.000 verschiedenen Ortspunkten im deutschsprachigen Raum gesammelt hat. Die Wenker Datenbank wurde gemeinsam mit 30 anderen linguistischen Datenbanken über deutsche Dialekte, sowie zusätzlich einigen verwandten Sprachen wie Niederländisch oder Friesisch, in ein dialektologisches Informationssystem namens REDE (www.regionalsprache.de) aufgenommen.
Weist ein Sprecher dialektale Charakteristika auf, ist es mithilfe des REDE Systems ist es möglich, eine Region zu identifizieren, in der genau diese Charakteristika alle verwendet werden.
Forensische Phonetik in Marburg studieren
Möchtest du in Marburg forensische*r Phonetiker*in werden?
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Um einen Masterabschluss zu machen:
MA Sprechwissenschaft und Phonetik:
Im Master Sprechwissenschaft und Phonetik kann man forensische Phonetik als Schwerpunkt wählen. Der Studiengang bietet nicht nur Module mit dem Fokus auf forensische Phonetik an, sondern auch andere Kurse, wie z.B. akustische Phonetik und IPA-Transkriptionen werden aus einer forensischen Perspektive unterrichtet.Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Um für einen Kurzzeitaufenthalt in Marburg zu sein:
Nationale und internationale Studierende können ebenso im Rahmen eines Austauschprogramms (z.B. ERASMUS, ERASMUS+), als free mover, oder als Gasthörer*in für ein Semester nach Marburg kommen. Weitere Informationen können hier gefunden werden.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Kurse
Folgende Kurse, alle auf englisch unterrichtet, sind nützlich für Studierende mit forensischem Interesse:
MA-Sprechwissenschaft und Phonetik:
Forensic phonetics (Vorlesung: Forensische Phonetik 1)
Speaker recognition (Seminar: Forensische Phonetik 2)
ATH2 - narrow IPA-transcription of dialects/foreign languages (Tutorium: Transkription 1)BA-Sprache und Kommunikation:
ATH1 – Basics of IPA transcription (Tutorium: Wissenschaftliche Methoden in der Linguistik: ATH I)
Die Kurse werden nur im Sommersemester angeboten (Mitte April bis Mitte Juli. Die exakten Semesterzeiten finden Sie hier.
Kontakt
Bei Fragen zu Kursen oder Studiengängen sowie um sicherzugehen, einen Studienplatz zu bekommen, schreiben Sie eine Mail an Gea de Jong-Lendle: dejong@staff.uni-marburg.de. Es wird empfohlen, dies mit genügend Vorlauf vor dem geplanten Studienaufenthalt in Marburg zu tun, sodass uns genug Zeit bleibt, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen.
Für Sprachanalysen oder generelle Beratung, kontaktieren Sie bitte ebenfalls Gea de Jong-Lendle: dejong@staff.uni-marburg.de.
Literatur
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Einführend
- de Jong-Lendle G. (2022) Speaker Identification. In: Guillén-Nieto V., Stein D. (eds) Language as Evidence. Palgrave Macmillan, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-030-84330-4_9
- Gfroerer, S., and M. Jessen (2022). ‘Sprechererkennung und Tonträgerauswertung’, in Eckhart Müller and Reinhold Schlothauer and Christoph Knauer (eds), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung (3. überarbeitete Auflage). München: Beck, 2862-2890.
- Hollien, H. (1990) The Acoustics of Crime. Plenum Press: New York.
- Jessen, Michael (2012) Phonetische und linguistische Prinzipien des forensischen Stimmenvergleichs, Lincom: München.
- Künzel, HJK. (1987) Sprechererkennung. Grundzüge forensischer Sprachverarbeitung. Heidelberg.Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Weiterführend
- Hollien, H. (2002) Forensic Voice Identification. Academic Press: San Diego.
- Rose, P. (2002). Forensic Speaker Identification. Taylor & Francis: London.
- Nolan, F.J. (1997) Speaker recognition and forensic phonetics. In W.J. Hardcastle & J.Laver (eds.) The Handbook of Phonetic Sciences. Oxford: Blackwell. pp. 744-767