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Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung

Foto: Hanfstaengel
Die Brüder Wilhelm und Jacob Grimm regten mit ihren Märchen und Sagen eine Vielzahl von Erzählsammlungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert an, die in Marburg dokumentiert sind (Lithographie von Hanfstaengel nach Radierung von Ludwig Emil Grimm, 1829)

In den umfangreichen Beständen des Zentralarchivs der deutschen Volkserzählung sind Erzählungen aus Sammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts transkribiert und sowohl regional als auch nach Motiven erschlossen; Varianten der Märchen sind nach dem international gültigen Verzeichnis von Anti Aarne und Stith Thompson (AaTh) verzeichnet, Sagen, Legenden, Schwänke und Alltagserzählungen nach einem eigenen Marburger Index.

Unter den Sammlungen des Instituts für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität befindet sich als reichhaltiger alter Bestand das Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung. Darin wurden die handschriftlichen Sammlungen von Volkserzählungen, von Märchen, Sagen, Legenden, Anekdoten, Schwänke etc. zusammengeführt, die seit dem frühen 19. Jahrhundert entstanden waren. Angeregt durch die Kinder- und Hausmärchen und die Deutschen Sagen der Brüder Grimm, sind in fast allen europäischen Ländern populäre Erzählstoffe aufgezeichnet worden.

Was erzählten sich die Menschen in der Zeit vor dem Aufkommen der Massenmedien, um zu unterhalten und unterhalten zu werden? Es waren schaurige und heitere, traurige und böse Geschichten. Darin wurden Motive aufgegriffen und weitergetragen, die etwa in den Volksbüchern des Spätmittelalters und in der Chronikliteratur der frühen Neuzeit festgehalten waren, aber auch mündlich überliefert wurden. Mit dem von Wilhelm Grimm entwickelten Märchenstil, aber auch mit einer engeren Definition der Sage wurden die Erzählgenres geformt, an denen sich alle späteren Sammlungen orientierten: das Märchen, das sich zum Träumen von einer besseren, gerechteren Welt eignet, das nicht Erfahrungswissen vermittelt, sondern die Phantasie anspricht und die Überwindung von Not und Elend, des Bösen und der Unterdrückung poetisch schildert. Die Sage eignet sich dagegen oft zum Gruseln, sie soll scheinbar jene Dinge erklären, die den Leuten rätselhaft schienen – lange zurückliegende Ereignisse, historische Relikte wie Burgruinen oder Naturerscheinungen wurden gedeutet, auf das Handeln von Rittern, Hexen oder des Teufels bezogen. Sagen sind daher oft an konkrete Örtlichkeiten geknüpft. Auch heute finden sich noch solche Stoffe, die Urban Legends, die mit Glaubwürdigkeitsanspruch als Zeitungssagen oder in sozialen Netzwerken kursieren. Dann die Legende als Erzählung von Heiligen und vom Wirken Gottes; ähnlich der Sage konnten die Motive übertragen werden und finden sich daher in verschiedenen Heiligenviten (wie das Rosenwunder der hl. Elisabeth). Und schließlich der Schwank, in dem lustige Streiche, oft ausgeübt mit List, Witz oder auch Gewalt, der Unterhaltung dienten und zum Lachen anregten, nicht selten auf Kosten einzelner Berufe oder Minderheiten.

Im Marburger Erzählarchiv sind fast 100.000 Belege dieser Erzählgenres aus mündlicher Überlieferung enthalten. Darin spiegelt sich die breite, reichhaltige Fülle von Witz und Humor in der deutschsprachigen Schwanküberlieferung, die Widerständigkeit und Protestkultur aus dem deutschen Vormärz, die Verarbeitung von historischen Krisenerfahrungen wie der Teuerung in den Notjahren nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora 1815 oder der Hungerjahre vor der Revolution 1848, aber auch die Konstruktion von Vorurteilen wie der Judenfeindschaft der Emanzipationszeit, Wertungen und Disziplinierungsstrategien (vom guten und vom schlechten Mädchen: Frau Holle), die im Nationalsozialismus instrumentalisiert und rassistisch ausgedeutet werden konnten.

Um die von den Brüdern Grimm angestoßenen, überall in Europa aufgenommenen Sammlungen in ihrer immensen Materialfülle dokumentieren und auswerten zu können, wurde auf dem Internationalen Erzählforscherkongress 1935 in Lund die Gründung nationaler Erzählarchive angeregt. Auch die Gründung des Zentralarchivs der deutschen Volkserzählung geht auf diese Anregung zurück, doch wird darin zugleich die zeitgenössische Einbindung in die Wissenschaftsorganisationen des „Dritten Reichs“ deutlich, die eine kritische institutionengeschichtliche Betrachtung voraussetzen.

 Siegfried Becker

Literaturhinweise:

Siegfried Becker: Zur Geschichte und Perspektive der Erzählforschung. Ein Bericht über Bestand und Aufgaben des Zentralarchivs der Deutschen Volkserzählung. In: Zeitschrift für Volkskunde 86 (1990), S. 203-215.

Ders.: Das „Zentrale“ am Archiv der Volkserzählung. In: Christoph Schmitt (Hrsg.): Volkskundliche Großprojekte. Ihre Geschichte und Zukunft. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Rostock. (Rostocker Beiträge zur Volkskunde und Kulturgeschichte 2) Münster - New York - München - Berlin 2005, S. 63-72

Ders.: Erinnerungsarbeit und Vergessen. Märchen, Märchenforschung und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Harlinda Lox, Sabine Lutkat (Hrsg.): Vergessen und Erinnern im und mit Märchen. Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen. (Veröffentlichungen der Europäischen Märchengesellschaft 44) Krummwisch bei Kiel 2019, S. 131-151