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Projekt C3 - Variation und Wandel der morpho-syntaktischen Referenz

PI und Ko-PI: Prof. Dr. Fleischer, Prof. Dr. Dohmas , Prof. Dr. Fischer
Promovierende: Christin Schütze

Forschungskontext

Dieses Teilprojekt behandelt die grammatische und kognitive Repräsentation in der Verarbeitung sprachlicher Äußerungen anhand von Untersuchungen zur Referenz anaphorischer Possessivpronomen der 3. Person Singular. Im Deutschen kongruiert das Possessivpronomen der 3. Person Singular mit dem Genus des Possessors:

  • der Bruder ᵢ … sein ᵢ Buch
  • die Schwester ᵢ … ihr ᵢ Buch

Jedoch finden sich sogar im Standard-Deutschen immer wieder Belege, bei denen das Possessivpronomen sein auf Feminina bezogen ist (Fleischer 2022):

  •  die Sache ᵢ geht seinen ᵢ Weg (Duden Grammatik 2016: 275)

Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass sein bezüglich Genus unterspezifiziert ist. Korpusanalysen legen nahe, dass genus-insensitives sein in erster Linie bei Inanimata auftritt. Allerdings finden sich auch Belege bei Feminina, die auf männliche Personen bezogen sind, etwa:

  • Die Brillis sind von Diego Maradonas Ohren nicht wegzudenken. Die Fußballlegende ᵢ ist für seinen ᵢ Ohrschmuck bekannt. (Spiegel-Online; Fleischer 2022: 279)

An der Grammatik-Gesellschaft-Schnittstelle bieten sich bei Diskordanzen zwischen grammatischer Genuskategorie und sozialem Geschlecht interdisziplinäre und multimethodische Forschungsansätze an.

Aktuelles Promotionsprojekt

Arbeitstitel: Akzeptanz und Verarbeitung der Referenz genus-variabler Possessivpronomina bei epizönen Personenbezeichnungen

Ziele

Mit Hilfe von Akzeptanz- und EEG-Studien soll untersucht werden, inwiefern sich die für den modernen Standard festgestellte Animatheits-Restriktion in einem Verletzungsparadigma feststellen lässt.

Dabei liegt der Fokus auf der Gegenüberstellung von inanimaten Nomen und Personenbezeichnungen, die geschlechterübergreifend verwendet werden können. Solche Epikoina können in anaphorischer Referenz grammatisch kongruent mit ihr oder aber semantisch bzw. stereotyp übereinstimmend mit sein auftreten:

  • Die Sicherheitskraft ᵢ nimmt ihren ᵢ neuen Job sehr ernst.
  • Die Sicherheitskraft ᵢ nimmt seinen ᵢ neuen Job sehr ernst.

In derlei Fällen konkurriert das referenzielle Geschlecht mit der grammatischen Regel. Bei vorwiegend genderbasierter Pronominalisierung (Thurmair 2006) würden Kongruenzrestriktionen erfolgreich überschrieben werden; das Referenzverhalten unterläge außersprachlichen Informationsquellen geschlechtlicher Zuschreibungen.

Evidenz aus bewussten (Akzeptabilitätsurteile) und automatischen Reaktionen (Verarbeitungsmuster) auf variierende Referenz soll über die komplexe Interaktion von Genus und Geschlecht sowie die Konstruktion der Repräsentationen von Humanbezeichnungen Aufschluss geben.

Methoden

Eine Fragebogenstudie überprüft zuerst die Akzeptanz der Referenz genus-(in)kongruenter Possessiva bei epizönen Personenbezeichnungen und Inanimata in Abhängigkeit der Belebtheit, der linearen Distanz (s. Binanzer et al. 2022) sowie Eigenschaften der Possessa (Genus/Numerus) als potenzielle Einflussfaktoren.

Anschließend wird eine EEG-Studie zur Untersuchung kognitiver Verarbeitungsprozesse beim Verständnis dieser Strukturen durchgeführt, die die kontrollierten Stimuli der Vorstudie in experimentellem Setting zur Evozierung von ERP-Daten nutzt. Methodisch angelehnt ist dieser genderlinguistische Ansatz mit neurolinguistischem Verfahren an die Arbeit von Irmen et al. (2010) und Misersky et al. (2019).

Begleitend erfolgt eine Bewertungsabfrage der Geschlechtertypikalität der verwendeten epizönen Personenbezeichnungen, mittels der der Grad an Typikalität der Nomina erhoben werden soll (Misersky et al. 2014). Dies gilt ebenso als Einflussfaktor auf die Akzeptanz und Verarbeitung der jeweiligen Art der Kongruenz der Referenz (s. Irmen & Kurovskaja 2010 und Irmen et al. 2010).

Vorarbeiten

Eine qualitativ fundierte, reichhaltige Datenbasis für den Forschungsgegenstand liefert die Korpusstudie von Fleischer (2022) zu vorranging Inanimata im Femininum, die mit genus-insensitivem Possessivpronomen sein auftreten. Zur Typikalitätsbewertung epizöner Personenbezeichnungen im Deutschen haben Steriopolo und Schütze (erscheint 2023) bereits eine Auswahl an geschlechterneutralen femininen Nomina einschätzen lassen. Seit Beginn des Projekts werden die benötigten Stimulusmaterialien konzipiert.

  • Binanzer, Anja, Sarah Schimke & Silke Schunack (2022): Syntaktische Domäne oder lineare Distanz – welcher Faktor steuert semantische Kongruenz im Kontext von Hybrid Nouns und Epikoina in stärkerem Maß? In: Diewald/Nübling (Hrsg.): Genus – Sexus – Gender (Linguistik – Impulse und Tendenzen 95). Berlin (u.a.): de Gruyter. 193-218.
  • Fleischer, Jürg (2022): „Qualität hat seinen Preis“: Genus-insensitives sein im Gegenwartsdeutschen. Linguistische Berichte 271. 251-288.

  • Irmen, Lisa & Julia Kurovskaja (2010): On the semantic content of grammatical gender and its impact on the representation of human referents. Experimental Psychology, 57(5), 367-375.

  • Irmen, Lisa, Daniel V. Holt & Matthias Weisbrod (2010): Effects of role typicality on processing person information in German: Evidence from an ERP study. Brain research 1353, 133-144.

  • Misersky, Julia et al. (2014): Norms on the gender perception of role nouns in Czech, English, French, German, Italian, Norwegian, and Slovak. Behavior research methods 46.3. 841-871.

  • Misersky, Julia, Asifa Majid & Tineke M. Snijders (2019): Grammatical gender in German influences how role-nouns are interpreted: Evidence from ERPs. Discourse Processes, 56(8), 643-654.

  • Thurmair, Maria (2006): ‚Das Model und ihr Prinz‘. Kongruenz und Texteinbettung bei Genus-Sexus-Divergenz. Deutsche Sprache: ds, 34. 191-220.

  • Steriopolo, Olga & Christin Schütze (ersch. 2023): Feminine grammatical forms as gender-fair language in German: A gender typicality study of role and profession nouns. In: Benjamin Fagard & Ana Margarida Abrantes (Hrsg.) Language and Gender. NA.

Bezüge zu anderen Projekten

Morpho-syntaktische Prozesse und Variationen stehen ebenfalls in Projekt C2 im Vordergrund. Semantische Analysen mentaler Repräsentationen finden sich darüber hinaus im Projekt C4, zu dem in dieser Hinsicht eine Verknüpfung besteht.