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Musikhören und Musiksehen. Historische Wechselwirkungen vom 17. bis zum 21. Jahrhundert
Die Rolle des Sehens beim Musikhören hat Menschen, die Musik machen, komponieren, hören, reflektieren und vermitteln, über Jahrhunderte hinweg beschäftigt. Sie bestimmt mit darüber, was „Musik“ bedeutete und welcher Status ihr zuerkannt wurde. In dem historischen Prozess der Herausbildung des musikalischen Hörens als einer Kulturtechnik erwies sich die Separierung des Hörsinns gegenüber anderen Sinneswahrnehmungen wie dem Sehen als ein wirkungsvoller Mechanismus. Die Wechselwirkungen zwischen Hören und Sehen, intendiert oder nicht-intendiert, in spezifischen historischen Konstellationen besser zu verstehen, ist das Anliegen dieses Kooperationsprojekts. Ziel ist ein neues, multisensorisches Verständnis einer Geschichte des Musikhörens. Gegenstände des Projektes sind Hörsituationen, Medien, Diskursen und Strategien in der Geschichte und Gegenwart des Musikhörens. Im Zentrum steht die Frage, wie Musikhören als erlernbare Kunst des Zuhörens in Abgrenzung zum Sehen entstand und welche Rollen das „Musiksehen“ in diesen reziproken, historischen Prozessen spielte. Dabei gehen wir von der These aus, dass eine Geschichte des Musikhörens nur in Verbindung mit einer Geschichte des „Musiksehens“ zu verstehen ist, insofern Strategien für eine Entvisualisierung des Hörens oft zu ihrem Gegenteil, nämlich einer erneuten Visualisierung geführt haben. Der Begriff des „Musiksehens“ dient als Analysewerkzeug, um die Rolle der visuellen Wahrnehmung in Hörsituationen von Vokal- und Instrumentalmusik zu analysieren. Das Erkenntnisinteresse zielt also nicht auf audiovisuelle Gattungen wie Musiktheater und Musikvideo; vielmehr geht es um das Sehen als eine elementare phänomenologische Komponente des musikalischen Hörerlebens, wie sie besonders in artifiziell hergestellten, vermeintlich ‚reinen‘ Hörsituationen greifbar wird, aber auch um ihre kultur- und wissenschaftshistorischen Kontexte. Wir setzen unterschiedliche, bislang wenig beachteten Quellen in einen Dialog zueinander, darunter materielle Artefakte (Kompositionen, Bilder, Dekorationen, Architektur, digitale Formate), Praktiken (Aufführungen, Rituale, Anleitungen zum Hören und Sehen, Hörberichte) und theoretische Reflexionen (Wahrnehmungstheorie, Publikumssoziologie, Musikphilosophie). Den Kern des Projektes bilden drei exemplarische historische Konstellationen in der frühen Neuzeit, der Moderne und der Gegenwart und ihre Visualisierungs- bzw. Entvisualisierungsstrategien: (1) musikalische Räume und aristokratische Theaterbauten im 17. und 18. Jahrhundert, (2) die Konzertreformbewegung um 1900 mit ihren Bezügen zu den sozial- und humanwissenschaftlichen Wahrnehmungstheorien und (3) audiovisuelle Formate für Musikhörende im 20. und frühen 21. Jahrhundert. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe (4) wird die Teilprojekte integrieren und den Ansatz des Gesamtprojektes durch Einbeziehung weiterer Wissenschaftler:innen kulturvergleichend und epochenübergreifend vertiefen.
Teilprojekte
- Teilprojekt 1 (Marburg): „Unsichtbare Musiken und Revisualisierung in der musikalischen Hörgeschichte des 17. Und 18. Jahrhunderts"
Leitung: Prof. Dr. Anne Holzmüller, Mitarbeiter: Florian Giering, Studentische Hilfskraft: Magdalene Wetzel, Philipps-Universität Marburg - Teilprojekt 2 (Berlin): „Musiksehen zwischen Theorie und Praxis: Die Konzertsaalreform und die Sozial- und Humanwissenschaften, 1890-1940"
Leitung: Dr. Hansjakob Ziemer, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin - Teilprojekt 3 (Potsdam): „Hören, Sehen, Lesen – Audiovisuelle Formate für Musikhörende am Beginn des 21. Jahrhunderts"
Leitung: Prof. Dr. Christian Thorau, Mitarbeiterin: Julia Barreiro, Universität Potsdam
Termine
09. Mai 2025 - „Che fai tu, Eco, mentr’io ti chiamo?” Unsichtbarer Klang und politische Inszenierung in Hofkulturen der Frühen Neuzeit. Projektvorstellung beim Studientag Frühe Neuzeit, Universität Marburg
26./27. Juni 2025 - Workshop I – Arbeitsgruppe, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin
21. Oktober 2025 - ‚Das Auge ist der Feind des Ohres'. Hörästhetik, Licht- und Farbprogramm in den Wiener Dunkelkonzerten 1939–44, Beitrag zur interdisziplinären Ringvorlesung „Räume des Imaginären“, Universität Marburg, Prof. Dr. Anne Holzmüller
11. November 2025 - Vom mythischen Widerhall zum politischen imago? Echo im repräsentativen Raum der Frühen Neuzeit, Beitrag zur interdisziplinären Ringvorlesung „Räume des Imaginären“, Universität Marburg, Florian Giering M. A.
18.-21. März 2026 - Projektpräsentation beim 1st International Conference of the IMS Study Group Auditory History, Institut de recherche en Musicologie Paris
26./27. Juni 2026 - Workshop II – Arbeitsgruppe, musikwissenschaftliches Institut der Universität Potsdam
Einführende Literatur
- Holzmüller, Anne (2022): „Schönberg in den Gassen. Ansätze zu einer Geschichte des musikalischen Hörens“, in: Raoul Mörchen, Carsten Seiffarth (Hg.): Listening / Hearing, Mainz: Schott, S. 38–67.
- Holzmüller, Anne/ Fuhrmann, Wolfgang (Hg.) (2020): Zwischen Absorption und Überwältigung. Musikalische Immersion in der Diskussion (= Musiktheorie 35,1), Laaber: Laaber.
- Mitchell, W.J.T. (2005): „There Are No Visual Media“, in: Journal of Visual Culture 4, Nr. 2, S. 257–66.
- Thompson, John B. (2021): Book Wars: The Digital Revolution in Publishing. Cambridge, Madford, MA: Polity Press.
- Thorau, Christian/ Ziemer, Hansjakob (Hg.) (2019): The Oxford Handbook of Music Listening in the 19th and 20th Century, Oxford, New York: OUP. http://www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780190466961.001.0001/oxfordhb-9780190466961
- Thorau, Christian (2022): „Interactive Scores as Public Music Analysis”, in: J. Daniel Jenkins (Hg.): The Oxford Handbook of Public Music Theory, Oxford, New York: OUP. doi.org/10.1093/oxfordhb/9780197551554.001.0001
- Ziemer, Hansjakob (2008): Die Moderne hören. Das Konzert als urbanes Forum, 1890-1940, Frankfurt: Campus.