14.04.2021 Neues Projekt der Klassischen Philologie: Vorformen des Bildungsprogramms der Artes Liberales - Zwei gegensätzliche Konzepte bei den Pythagoreern und in der Sophistik

Die Artes liberales können als das bedeutendste Bildungsprogramm bezeichnet werden, das Europa hervorgebracht hat. Seine Bedeutung kommt zum einen aus dem außergewöhnlich langen Zeitraum, in dem es Grundlage der allgemeinen Bildung war. Nach Anfängen bei den Pythagoreern und in der Sophistik im 5. Jahrhundert v. Chr. hat Platon es zu einem wissenschaftlich fundierten System ausgebaut. In der Zeit zwischen 300 v. Chr. bis ca. 200 n. Chr. war es, konzentriert auf seine praktischen Aspekte, Grundlage der hellenistisch-römischen Bildung, seit etwa 200 n. Chr. griff man wieder auf die platonische Konzeption zurück und entwickelte ein kanonisches System der sieben freien Künste. In dieser Form (wenn auch nicht immer unter diesem Titel) war es in der Spätantike das führende Bildungskonzept, es wurde bei allem Wandel in Einzelpunkten in erstaunlich inhaltlicher Konstanz im persisch-arabischen Mittelalter und ebenso im lateinischen Westen weitertradiert, bevor es im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit wieder in einer der hellenistisch–römischen Phase verwandten Form restituiert und so schließlich zur Grundlage der heutigen philosophischen Fakultäten wurde.

Das Bildungsprogramm der Artes liberales ist aber nicht nur wegen seiner Dauer bedeutend, sondern auch wegen seiner Elastizität, die es möglich machte, dass es in ganz verschiedenen
Kulturen, in weit auseinander liegenden Regionen Europas und des Nahen Ostens und in den Religionen der heidnischen Antike, des Judentums, des Christentums und des Islam Anerkennung
finden und zur Grundlage der Erziehung und Bildung gemacht werden konnte. 

Obwohl in der neueren Forschung gesehen ist, dass die in den Artes-Fächern gelehrten Inhalte nicht erst mit ihrer kanonischen Institutionalisierung in der Spätantike und im Mittelalter beginnen, sind die Vorformen, die man bereits bei den Pythagoreern und bei den Sophisten des 5. Jhh.v. Chr. findet, nur ungenügend untersucht. Insbesondere die ganz unterschiedliche Wertung der Fächer, die später als Quadrivium, und der Fächer, die als Trivium bezeichnet wurden, ist viel zu wenig beachtet und ausgewertet. Denn diese fast gegensätzlichen Programme waren Anlass und Grundlage für unterschiedliche spätere Phasen in der Artes-Tradition, die ohne diese Vorformen aus sich heraus nicht leicht verständlich werden. Tatsächlich gibt es in der – ohnehin nicht allzureichen – Forschung kaum Hinweise auf die Unterschiedlichkeit dieser Traditionen. Das hat auch zur Folge, dass die bereits in den Anfangsphasen im 5. Jhh. geführten hoch differenzierten Sachdiskussionen und Theoriebildungen – in der Mathematik wie in Grammatik, Logik und Rhetorik – viel zu wenig untersucht sind. Die häufige Beschränkung auf die Einführungsschriften in die Artes aus der Spätantike und dem Mittelalter hat daher den Fehleindruck sehr begünstigt, es gehe in den Artes-Fächern nur um eine Art einführenden Unterrichts. Wäre es so, könnte man nicht einmal zu einer Erklärung für die außergewöhnlich lange Unterrichtsdauer in diesen Fächern ansetzen, die meist mindestens vier, oft aber sogar sechs Jahre betrug.

Antragsteller: Prof. Dr. Stefan Büttner (Wien), Prof. Dr. Arbogast Schmitt (Marburg/Berlin), Prof. Dr. Rainer Thiel (Jena)

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