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Bremen, Hamburg, Verden

23. bis 28. Juli 2016

Neun Uhr morgens, ein warmer Sommermorgen irgendwo in Deutschland. Menschen steigen in einen Bus, jüngere Menschen vor allem, aber doch ein bunter Haufen, irgendwas um die 40 Personen. Einer fehlt, der Wecker hatte andere Pläne - wozu gibt’s die Deutsche Bahn. Einige tragen merkwürdige Einhorn-Shirts, andere haben gitarrenartige Instrumente dabei. Die meisten scheinen eine höhere Schulbildung genossen zu haben. Die Stimmung ist verhalten, aber nicht unfröhlich. Neun Uhr morgens ist vermutlich nicht die Wunsch-Uhrzeit jedes Studenten.
Die Reise führt offensichtlich gen Norden, wobei vorher das eng bekurvte Waldecker Land bezwungen werden muss. Eine Pause an der Raststätte, keine besonderen Vorkommnisse. Die ersten Wortspiele verlaufen größtenteils verheißungsvoll. Die Zimmerbelegung wird aufgeteilt, eine heikle Phase. Es scheint aber keine Zwischenfälle zu geben.
Bald taucht ein gewisses „Bremen“ auf, das wohl die erste Station darstellen soll. Die Verantwortungtragenden und die Babybauchtragenden waren mit dem Auto bereits vorgefahren und hatten eine äußerst annehmbare Jugendherberge aufgetan, die sogleich in Beschlag genommen wird. Die schlechte Nachricht: bei erstaunlichen 83 Grad im Schatten können die Zimmerfenster nicht richtig aufgemacht werden. Ein erster Dämpfer.

Frische Luft gibt’s in der Jugendherberge also nur auf der Terrasse. Die ist dafür umso gemütlicher und auch Kaltgetränke sind nicht fern. Da stört nur der Zeitplan, der zum Aufbruch auffordert. Es geht – seltsam genug – in eine Kirche am Markt. Auf dem Weg an einer Häuserwand in überdimensionalen Buchstaben: „SCHLESIEN POMMERN OSTPREUßEN.“ Kurze Irritation bei den Geschichtsstudenten: Hatten nicht die Preußen die Schlesier gepommert? Oder war das nur ein Vorpommern gewesen? 
Die Kirche liegt sehr zentral. Innen ist es fast wärmer als dunkel. Trotzdem stellen sich die Menschen in Reihen vor dem Altar auf, offensichtlich gibt es choreographische Vorerfahrung. Einer, der offensichtlich nicht mehr studiert, stellt ein Pult auf, es werden Töne gesungen. Aha, ein Chor also. Ein Chor auf Reisen. Das Programm wurde offensichtlich vorher geprobt, zumindest in Teilen. Erste Klänge durchzaubern den Raum. Langsam erkennt der Fachmann, dass da nicht irgendwas gesungen wird, sondern selten zu hörende Werke der Vor-, Früh-, Mittel-, Hoch-, Spät-, Fast-nicht-mehr-, Schon-wieder-fast-, Neo- und Überhaupt-gar-nicht-Romantik. Teilweise völlig abgefahrenes Zeug, die einem die enharmonischen Modulationen nur so um den Kopf schleudern. Der Chor wirkt routiniert, aber nicht abgenutzt. Die intersoziale Kommunikation scheint zu funktionieren, diese Menschen haben definitiv Spaß bei dem, was sie da tun. „Spaß“ ist auch zu lesen auf einem der einhornhaltigen T-Shirts, wo in Form einer Achtelnote verschiedene Schlagwörter zusammengefasst sind...“Singen“, „Tenor“, „Gemeinschaft“, weitere Floskeln. Aber es scheint ihnen Ernst damit zu sein.

Nach dem Singen soll man essen.
Es geht auf ein Pfannkuchenschiff auf der Lahn, die hier etwas breiter ist. Pfannkuchenschiff zwar nicht der Form nach, aber doch wenigstens inhaltlich. Die Belegschaft scheint mit der Dringlichkeit der Rohstoffaufnahme aufseiten der Choristen zunächst etwas überfordert, diese unterschätzen dann wiederum die innere Volumenexplosion sechseinhalb eilig verschlungener Pfannkuchen nebst üppiger Beilagen. Das rächt sich. Keine zwei Stunden später ist der gesamte Chor gefühlt im achten Monat.
Irgendwie geht es heim, und die meisten Hochbetten scheinen dem zusätzlichen Ballast standhalten zu können. Geschlafen wird trotzdem schlecht, es herrschen auch nachts Temperaturen um die 70° und 130-140% Luftfeuchtigkeit. Erste Stimmen fordern die Prügelstrafe für Schnarcher.

Foto: Stephan Tang

Der nächste Tag. Ein Sonntag, wie es scheint. Zu einer nur mit Mühe konkret zu benennenden Uhrzeit finden sich die Sänger auf der Orgelempore des Doms wieder. Erfrischend und belebend ist das Klima nicht gerade, dafür weckt „Rackedödäng-ke-diki-dong-chiki-chiki“ die Gemüter. Zumindest die derer, die des Frühklingonischen mächtig sind. Der Gottesdienst wird mitgetragen von einem aufmerksam-klangvollen Chor, der in der Schumann-Motette zu den Morgensternen greift. Coelerosa gratioso.
Dass die Innenstadt draußen anschließend seltsam leergefegt erscheint, ist schnell erklärt: der Amerikaner vergass Anno 1943 offensichtlich, den „On/Off“-Knopf einer fast tonnenschweren Bombe zu aktivieren, weswegen letztere, übrigens unweit der Jugendherberge, die letzten Jahrzehnte verschlief und nun überraschenderweise wieder auftaucht, zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Rote und ganz rote Zonen ziehen den Ring um den eigentlich ausflugswilligen und werbesingwütigen Chor immer enger, Pläne werden verworfen, eilige Telefonate geführt, banges Fragen macht die Runde: können die angesetzten Stadtführungen überhaupt stattfinden? Was machen wir statt Führung? Stadtführung? In der gespenstischen Quarantäne der menschenleeren Innenstadt kursieren verunsichernde Gerüchte: wird gleich Mauersbergers „Wie liegt die Stadt so wüst“ angestimmt? Und was passiert mit dem 754 Milliarden Hektotonnen Wein, die unter der Stadt gelagert sind? Es sollen nicht unedle Rebsorten darunter sein. Oder geht doch alles gut? Immerhin sind die Gastronomitäten leer und man rettet sich über den überhitzten Mittag. Einem der Stadtführer ist es gelungen, die Polizeiabsperrungen mit ganz ganz ganz höflichen Bitten zu durchbrechen, und so erquickt er die jungen Leute im Folgenden mit seiner von Anekdotenreichtum überstrahlten Eloquenz. Mit jeder Minute steigt die Dankbarkeit dafür, dass der Chor nicht auf eigene Faust die Weinflaschen zählen, die Elle messen, die Maus finden, den goldenen Hitler bewundern und als überhaupt allererste Gruppe das Hightech-Kloster aufsuchen muss. Ein voller Erfolg.

Nach Aufhebung des Bombennotstands und der glücklichen Zusammenführung (immerhin nicht ge-, sondern nur ver-sprengter) Einzelner rückt der erste nicht-liturgische Auftritt näher, in „Euer lieben Frauen“. Der erlebnisreiche Tag sowie das Bombenwetter haben aber anscheinend Spuren hinterlassen, womit im abendlichen Konzert die leichten Abzüge in der B-Note (aber auch bei einigen anderen Noten wie Gis, H, D, G, F, Des, A und Es) zu erklären sind.
Alles in allem aber ein gelungener Liederabend im Schatten der Bremer Stadtmusiker.
Zum Tagesausklang findet man sich im Friesischen Hof ein, der auf den zweiten Blick aber auch nicht höflicher als friesisch ist.

Foto: Stephan Tang

Nach erfolgreicher Fensteroffensive frisch erholt, wartet am nächsten Morgen für ein paar Auserwählte ein Ausflug auf die andere Lahnseite, wo eine namhafte Brauerei seit ca. 150 Jahren mehr oder weniger erfolglos versucht, Bier herzustellen. Eine Führung durch die Anlage weiht die Mitgekommenen in die Brunst des Kauens ein, wobei Kulturhistoriker ebenso auf ihre Kosten kommen wie Lebensmittelchemiker, die Interessantes über unwasserlösliche Inhaltsstoffe der Mälze lernen. Den krönenden Abschluss bildet, kaum noch zu hoffen gewagt, in einem offenbar eigens dafür angelegten Trinksaal die Verkostung verschiedener bierartiger Flüssigsubstanzen aus teilweise bunt etikettierten Flaschen. Manch einer fühlt plötzlich tiefsitzende Gewissheiten über die Trinkbarkeit verschiedener Marken wanken, andere wanken beinahe selbst nach dem ungewohnten weil teilweise erstmaligen „Genuss“ h omöopathischer Bierproben. Wiederum ein voller Erfolg, der für Manche durch eine erheiternde Rückfahrt im offenen Cabriolet (natürlich mit verantwortungsbewusst betrunkenem Fahrer) nochmal eine besondere Pointe bereithält.

Foto: Lukas Haag

Überraschenderweise kündigt sich danach ein Ortswechsel an, der mittels Bus in die etwas kleinere Neben-Hansestadt führt. Routiniert erfolgt der Transfer in die dortige Jugendunterkunft, sehr zentral gelegen, auf einem „richtigen“ „Berg“, mit eigenem Hausdrachen und – bei den als transpirationsfreudig bekannten Männer-8er-Zimmer helle Euphorie auslösend – mit unerbittlich verschlossenen Fenstern. Immerhin wird dieser Standortnachteil durch die Verfügbarkeit von insgesamt doch immerhin 3 Nasszellen für die circa 600 Bewohner des Flures mehr als kompensiert. Ein Ausklingen des Abends auf der frisch gezapften Terasse mit Blick auf den Lahnhafen versöhnen aber doch manchen Pessimisten. In Kleingruppen begeben sich auch nach Sonnenuntergang wagemutige Choristen noch in den Moloch, allerdings nicht ohne bleibende Schäden an Gemüt, Moral, Leib und Leber davonzutragen. 
Nach dem unverhofften Überleben der Nacht durch die Taktik der sogenannten Türöffnung steht am nächsten Vormittag offensichtlich einer der Höhepunkte an: in einem etwas zu groß geratenen und leicht übertrieben ausgestatteten Michelchen soll eine Mittagsandacht besungen werden.
Der Organist hupt sich von Spieltisch zu Spieltisch durch den Raum, die Ehrfurcht ist andächtig, die Besucher filmen nach Leibeskräften, und die Konzentration der Sänger ist überraschend stabil. Manch eines der romantischen Monumentalwerke lässt sogar auf die Teilnahme des Chores bei der nächsten „Intonationale“ in Calgary 2018 hoffen. Trotz leichter personeller Fluktuation bleiben die Grundpfeiler erkennbar: der Sopran kann sich mit bebender Blume an der Spitze behaupten, der Alt überrascht mit weitem Ambitus und spontaner Kreativität, der Tenor kompensiert die quantitative Unterlegenheit mit der rücksichtslosen Erhöhung des Gesamtpegeldrucks und der Bass hält sich mit stoischem Selbstbewusstsein und bedingungslosem Festhalten am Notentext unbeirrt an der Spitze der Nahrungskette.

Die Wege trennen sich nachmittags immer öfter, und in Kleingruppen werden die einschlägigen Sicht- und Kaufbarkeiten der Stadt abgeklappert. Manch Eine schafft es dem Vernehmen nach sogar, durch vorausschauende Planung und flexible Verkehrsmittelwahl innerhalb von 18 Stunden ohne Schonung der eigenen Ressourcen sämtliche 1.042 touristischen Erlebnismöglichkeiten mitzunehmen – eine beachtliche Großleistung. Einzelne seilen sich vom Großprojekt ab, Andere kommen hinzu, auch verdiente Veteraninnen, die sich aufopferungsvoll um das Rundherum der Auftritte und die Bespaßung der Auftretenden kümmern. Das Ganze wirkt jahrelang eingespielt.
Der musikalisch beste Auftritt wird am Abend in einem katholischen Dom aus dem Ärmel geschüttelt, als hätte man nie etwas anderes gemacht. Die ersten Taschentücher kullern im Publikum, als die Frauen eine herzbezaubernde Rose erwachen lassen. Das Rätselstück stellt jedoch wiederum keine Herausforderung für das zahlreich erschienene Stammpublikum dar, sodass die Strategen in den kommenden Sommersemestern die Messlatte für „bekannter Komponist“ deutlich werden tieferlegen müssen. Nach der vollbrachten Großtat, wiederum vervollkommnet durch ein stürmisch-exaltiertes Intermezzo des unter „Maestro“ firmierenden Chefs an der großen Hupe, geht es in eine sorgsam ausgewählte Burgerlokalität mit einer Speisekarte, in deren ersten vegetarischen Seiten selbst viele eingefleischte Carnivore hängenbleiben. Obwohl die Mitternacht naht, geht es für die meisten noch weiter in die dunklen Lichter der Großstadt, unter anderem zur Reeperbahn, die allerdings zur Enttäuschung Vieler seit Jahren nicht mehr fährt. So erkundet man zu Fuß die bunte Palette mit ihren reichhaltigen Angeboten an günstigen Kurzwohnraumetablissements, hochklassig blinkenden Konservenmusikbars, Glücksspielparadiesen, zwischenmenschlichen Zubehörläden und Genussmitteldepots.
Eine von vielen Möglichkeiten, sich bis kurz vor Sonnenaufgang dem maritimen Ambiente hinzugeben, bietet der Ausblick von der Vorplatzmauer der Jugendunterkunft mit Blick auf den Hafen in geselliger Runde mit einer liebevollen Auswahl regionaler Gerstenbrausen. Dass, wie es wohl ansonsten üblich zu sein scheint, nach Feierabend dieses Mal nicht in spontaner Unterbesetzung hochkarätiges Liedgut zu singen versucht wird, wird nur von den Wenigsten als Nachteil angesehen.

Aufkleber aus der alternativen Studentenbar:
„Gegen Sechs-Fis-Muss und Homophonie!“

Da der nächste Tag keinen Pflichttermin enthält, entstehen verschiedene Konzepte für den Zeitpunkt des Aufstehens. Die Meisten lassen sich auf die hier zu beachtlicher größe angestaute Lahn locken und ergötzen sich an den lokalkolorisierten Ausführungen des Hafenrundfahrtkapitäns. Der restliche Tag wird wiederum für verschieden Kleingruppenprojekte in der Stadt genutzt, die nicht nur durch ihre beachtliche Anzahl an E-Kirchen und Stadthallen, sondern auch durch das reichhaltige Angebot an Ahrens, Leckereck und Co. besticht. 
Für den Besuch einer Speicherstadthalle finden sich nach dem Abendessen nochmal ein Dutzend Choristen zusammen und werden in eine Welt des ausufernd fanatischen Hobbytums hineingezogen. In einer liebevoll ausgestatteten Bunkeranlage, gesteuert von offensichtlich arbeitslosen Informatikern, kann man sich hier eindrucksvoll davon überzeugen, wohin eine gefährliche Mischung aus Masochismus, zuviel Zeit und hoffnungslosem Größenwahn bei zuvor harmlosen Modellbaufreunden führen kann. Es bleibt zu befürchten, dass der blinkende Miniwahn in den kommenden Jahren selbst den letzten Winkel der Erde erreicht. Immerhin wird die Kosten- und Zeitplanexplosion beim Bau der Elbphilharmonie plausibel, als der zuvor kaum bekannte anspruchsvolle Klappmechanismus der kompletten Frontseite demonstriert wird.
Zum letzten Mal lockt das Nachtleben anschließend in die Jugendherberge, wo allerdings anstatt der frisch gezapften nur die in billige Flaschen verfüllte Veranda lockt. Dafür gibt es die volle Auswahl zwischen verschiedenartigen Zerstreuungsmöglichkeiten: hier reizt der peinlich-brisante Austausch von Intimitäten in lautstarker Runde, dort faszinieren fundierte Fachgesprächen über die Charakterzeichung in der 4. Star Trek-Staffel und auf der Terasse lockt erbauliches gitarrisiertes Singen liebevoll ausgewählter Werke im einstimmigen Stil der Nachkriegszeit. Die Entscheidung scheint nicht jedem leicht zu fallen.

Mit mehr oder weniger geheucheltem kulturhistorischem Interesse gesegnet, begeben sich am nächsten Vormittag einige Choristen ins sogenannte Kommunistenquartier, wo nicht nur etwas über Marx und Co. gelernt werden kann, sondern wo erstmals auch außerhalb von Gottesdienst und Konzert der Klang des Chores in den liebevollen Männergesängen von Karl Marx einen Anflug menschlicher Rührung hervorheben kann. 
Die Geschichte der Schult‘schen Kommune sowie ihre Ausstrahlung auf den musikalischen Fortgang aller mit ihr bekannter wichtiger Persönlichkeiten kommt in der ansonsten aber lobenswerten Führung durch das Marxhaus leider nicht vor.
Der letzte Wechsel der Örtlichkeit bringt den von der tagelangen Beanspruchung von Mensch und Material beginnend gezeichneten Chor wieder näher in Richtung Zivilisation. Das zwischen Vergehen a.d. Ära und Gewesen wunderschön im gemeinschaftlichen Tal Aller gelegene Verden beeindruckt nicht zuletzt mit seiner E-Kirche, bei der nur leider der einzige Turm etwas zu klein geraten ist. Die ausladende Fußgängerzone lockt einige Erkundungsfreudige aus der Reserve, nicht ohne allerdings das trügerische Wetter in plötzlichen Platzregen umschlagen zu lassen. Ein gastfreundlicher Empfang durch die Gemeinde und das Bewusstsein des letzten Auftritt erleichtern aber die präzise chirurgische Kurzprobe, und so wird das anschließende Konzert nochmal zu einer Sternschnuppe, in der sich alles zeigt, was diesen Chor ausmacht: herzerfrischende Tempi, kompromisslose Schalldruckoffensive, spontane tonartliche Kreativität, inhalstliche Kohärenz, zwischenmenschliche Geschlossenheit und das Bewusstsein, im offensichtlich coolsten Chor der Welt zu singen.