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Arbeitsgebiete der Semitistik

Äthiopistik

Altäthiopische Handschrift des Täʾamrä Māryām (= Marienwunder)
Foto: Stefan Weninger

Die Äthiopistik als Teilgebiet der Semitistik beschäftigt sich mit den in Äthiopien und Eritrea gesprochenen semitischen Sprachen sowie ihrer Archäologie, Kultur, Geschichte und Religion. In Marburg liegt der Schwerpunkt der Äthiopistik in Erforschung und Lehre des Gǝʿǝz (Altäthiopisch). Die frühesten epigraphischen Zeugnisse stammen aus dem 3. Jh. n. Chr. und wurden zunächst in einer unvokalisierten Schrift geschrieben, die später, im 4. Jh., mittels diakritischer Zeichen zu einer Silbenschrift modifiziert wurde. Das Gǝʿǝz war die zentrale Sprache des Aksumitischen Reiches, das sich als Großmacht der Spätantike über Nordäthiopien, Eritrea und zeitweise auch über Teile des Sudan und Südarabiens erstreckte. Bereits um 370 n. Chr. bekehrte sich der äthiopische König Ezana zum Christentum, was Äthiopien zu einem der ältesten christlichen Länder der Erde macht.

Blick auf das Kloster Ḥayk bei Dessie (Äthiopien)
Foto: Stefan Weninger

Ins 13. Jh. fällt die Entstehung des Nationalepos Kǝbrä Nägäst „Herrlichkeit der Könige“, eines der schönsten und wichtigsten Werke der äthiopischen Literatur. Im Laufe der Zeit wurde das Gǝʿǝz als Kommunikationssprache vom Amharischen abgelöst, blieb jedoch bis ins 19. Jh. als Schriftsprache und bis heute als Liturgiesprache der äthiopischen und eritreischen orthodoxen Kirche in Gebrauch. Heute ist das Amharische der Sprecherzahl nach die zweitgrößte semitische Sprache und die Verwaltungssprache Äthiopiens. Es verfügt über eine sehr umfangreiche und sprachlich hochentwickelte Literatur.

Arabistik

Koransure aus dem Kairoer Koran von 1924 (Nachdruck)
Foto: Stefan Weninger

Der Arbeitsschwerpunkt Arabistik innerhalb des Fachgebiets Semitistik beschäftigt sich mit dem Klassisch-Arabischen, dem Mittelarabischen und den arabischen Dialekten der Gegenwart. Das Klassische Arabisch basiert auf der Sprache der vorislamischen Poesie, des Korans sowie historischer und juristischer Schriften. Einhergehend mit dem Vordringen des Islam drängte das Arabische die einheimischen Sprachen als Kultursprache zurück. Darüber hinaus verliehen die systematischen Übersetzungen wissenschaftlicher und philosophischer Werke hauptsächlich aus dem Griechischen, aber auch aus dem Syrischen, Pahlavi und Sanskrit zwischen dem 8. und 11. Jh. n. Chr. dem Arabischen den Charakter einer Wissenschaftssprache in der Region des Nahen und Mittleren Ostens. In der Marburger Semitistik sind vor allem Wissenschaftstexte Gegenstand der Forschung. Der direkte Abkömmling des Klassisch-Arabischen, das moderne Hocharabisch, ist heute die offizielle Sprache in 18 Ländern. Das moderne Hocharabisch wird vor allem als Schriftsprache, als Sprache der Medien und bei offiziellen Anlässen gebraucht.

Parallel dazu werden in allen arabischen Ländern verschiedene arabische Dialekte als Kommunikationsmedien im Alltag gesprochen. Anders als das moderne Hocharabisch, das in allen Ländern einheitlich ist, weisen die arabischen Dialekte untereinander erhebliche Unterschiede auf. Ein wesentliches Merkmal des Arabischen von der frühesten Periode bis in die Gegenwart ist die Diglossie. Diglossie bedeutet, dass gleichzeitig zwei Sprachformen des Arabischen gebraucht werden, und zwar eine standardisierte Form als Schriftsprache und Sprache der formalen Kommunikation, und eine zweite Form als Alltagssprache. Der Begriff Mittelarabisch bezeichnet keine Sprachstufe, sondern ist ein soziolinguistisches Konstrukt. Unter Mittelarabisch werden Mischformen zwischen der Umgangssprache und der Klassisch-Arabischen Sprache verstanden. Ein weiteres Merkmal des Mittelarabischen ist die Verwendung auch anderer Schriften wie z.B. der syrischen oder hebräischen.

Aramaistik

Erste Seite des ersten Buch Mose (Genesis) auf Syrisch-Aramäisch aus der Urmia-Bibel
Foto: Stefan Weninger

Die Aramaistik untersucht die verschiedenen Varietäten des Aramäischen, die vom 10. Jh. v. Chr. bis heute bezeugt sind. In Marburg wird sowohl zu den älteren Varietäten des Aramäischen (Reichsaramäisch, Syrisch) als auch zu modernen (Ṭuroyo) Forschung betrieben. Die älteste überlieferte Sprachstufe ist das Altaramäische, das in juristischen und administrativen Dokumenten aus dem Assyrerreich des 7. Jh v. Chr. belegt ist. Dem schließt sich das „(Achämenidische) Reichsaramäisch“ an - die Form der aramäischen Sprache, die im Achämenidenreich (6. – 4. Jh. v. Chr.) als Verwaltungssprache benutzt wurde. Als „Biblisches Aramäisch“ taucht das Reichsaramäische auch an einigen Stellen des Alten Testaments auf. Etwa ab dem 3. Jh. n. Chr. geht das Altaramäische ins Mittelaramäische über, und es verfestigt sich die bis heute bestehende Gliederung in Ost- und Westaramäisch. Da das Aramäische zu dieser Zeit das Hebräische als Alltagssprache der Juden abgelöst hatte, wurden die verschiedenen mittelaramäischen Dialekte auch als Schriftsprachen benutzt, etwa für die Targumim, also die aramäischen Übersetzungen des Alten Testaments. So wurde das Aramäische auch zu einer bedeutenden jüdischen Literatursprache. Die für das Christentum bedeutendste mittelaramäische Varietät ist das Syrische. Dieser aramäische Dialekt der Stadt Edessa (heute Şanlıurfa in der Türkei) wurde besonders durch die Peshitta, die syrische Übersetzung der Bibel, zur christlichen Literatursprache und wird bis heute in der Liturgie verschiedener Kirchen des Nahen Ostens verwendet. Neben der Peshitta wurden während der Blütezeit des Syrischen aber auch viele andere Werke aus den Bereichen Theologie, Philosophie, Historiographie und Poesie verfasst. Zu den östlichen Dialekten des Mittelaramäischen zählen neben dem Syrischen auch das Jüdisch-Babylonisch-Aramäische und das Mandäische. Zu den westlichen Dialekten des Mittelaramäischen hingegen gehören das Jüdisch-Palästinisch-Aramäische, das Christlich-Palästinisch-Aramäische und das Samaritanisch-Aramäische.

Titelblatt des Markus-Evangelium aus einer Syrisch-Aramäischen Bibelausgabe
Foto: Stefan Weninger

Nach der arabischen Expansion wurde das Aramäische als Alltagssprache allmählich zurückgedrängt. Dennoch gibt es heutzutage noch immer mehrere hunderttausend Sprecher neuaramäischer Sprachen, hauptsächlich in Syrien, dem Irak und der südöstlichen Türkei. Daneben leben viele Sprecher des Neuaramäischen in der Diaspora. Zu den neuaramäischen Sprachen zählen unter anderem Nordost-Neuaramäisch, Ṭuroyo, Neumandäisch und Neuwestaramäisch. Wie an nur wenigen anderen Sprachen der Welt lassen sich durch die lange Überlieferungsdauer von drei Jahrtausenden linguistische Entwicklungen diachron beobachten. Vor allem das Verbalsystem einiger neuaramäischer Varietäten erfuhr eine völlige Umbildung. Das Neuaramäische steht außerdem in Sprachkontakt zu benachbarten Sprachen wie Arabisch, Türkisch und Kurdisch, was Auswirkungen besonders auf den Wortschatz, aber auch auf Phonologie, Morphologie und Syntax des Neuaramäischen hat; umgekehrt beeinflusst das Aramäische als Substratsprache das Arabische, und hier besonders die Dialekte der Levante.

Hebraistik

Foto des Codex Leningradensis, der ältesten bekannten Handschrift des Alten Testaments. Foto aus Würthwein, Ernst: Der Text des Alten Testaments.
Foto: Stefan Weninger

Die Hebraistik beschäftigt sich mit den drei verschiedenen Sprachstufen des Hebräischen sowie mit der Geschichte, der Kultur und den Traditionen des jüdischen Volkes. Die älteste Sprachstufe wird als Althebräisch bzw. Biblisches Hebräisch bezeichnet, das im 1. Jt. v. Chr. von den Israeliten in Kanaan zum Beispiel in Inschriften verwendet wurde. Das berühmteste Werk in dieser Sprache ist das Alte Testament. Ferner wurden in dieser Sprache auch die ältesten erhaltenen Bibelhandschriften, die berühmten Qumran Rollen, verfasst. Der größte Verdienst um das Verständnis des Biblisch-Hebräischen gebührt den ‚Masoreten‘ genannten Gelehrten, die zwischen dem 7. und 9. Jh. n. Chr. den ursprünglich nur mit Konsonanten geschriebenen Bibeltext mit einem System von Vokalen versahen. Das Mischna-Hebräisch ist eine Literatursprache, in der vor allem religionsgesetzliche Texte verfasst wurden. Das Hebräische wurde etwa zum 5. Jh. v. Chr. nach und nach als Alltagssprache vom Aramäischen abgelöst und nur noch als Liturgiesprache und zur Abfassung von philosophischen, medizinischen, juristischen und poetischen Texten verwendet.

Ende des 19. Jahrhunderts begannen Versuche, das Hebräische wiederzubeleben. Das moderne Hebräisch, also das Ivrit, ist das Ergebnis dieser Wiederbelebung und Weiterentwicklung. Hebräisch ist heute neben Arabisch die offizielle Sprache in Israel. Der Schwerpunkt der Hebraistik in Marburg liegt auf dem Biblisch-Hebräischen und Modernen Hebräisch. Sprachkurse zum modernen Hebräisch werden vom Fachgebiet Semitistik in unregelmäßigen Abständen angeboten. Biblisch-Hebräisch wird regelmäßig am Fachgebiet Altes Testament im Fachbereich Evangelische Theologie unterrichtet. Weiterführende Kurse werden im Fachgebiet Semitistik angeboten.

Sabäistik

Foto: Anna Barne

Die Sabäistik beschäftigt sich mit der Sprache, Kultur, Geschichte und Religion des Königreichs Sabaʾ, das im Westen Jemens von Beginn des 1. Jt. v. Chr. bis zur Ausbreitung des Islam im 7. Jh. n. Chr. existierte. Die bis in unsere Tage erhalten gebliebenen archäologischen Hinterlassenschaften zeugen von der einstigen Blütezeit der Sabäer, darunter die Überreste des berühmten Großen Staudamms nahe der Hauptstadt Marib, der das größte technische Bauwerk der Antike war. Neben dem Sabäischen wurden im Jemen des Altertums auch die Sprachen Minäisch, Qatabanisch und Ḥaḍramitisch gesprochen, von denen jedoch das Sabäische die am besten dokumentierte und erforschte Sprache ist. Bis jetzt sind etwa 6000, darunter viele auf Stein, Bronze und Holzstäbchen überlieferte Inschriften gefunden worden.