02.07.2025 Multisensorische Erschließungen – Tagungsbericht

Mit der Tagung „Demokratisierung der Sinne – Sinnlichkeit der Demokratie. Emanzipation als Erfahrungen von Gleichheit in hierarchisch anders sensorischen Räumen“ wurde der Schwerpunkt „Multisensorische Forschungen“ am Institut für Empirische Kulturwissenschaft erstmalig für eine breitere Öffentlichkeit – jenseits des Seminarraums – sichtbar.
Prof. Dr. Bettina Wuttig aus dem Arbeitsbereich „Psychologie der Bewegung“ vom Institut für Sportwissenschaft und Motologie, eine ausgewiesene Körper-, Sinnes- und Geschlechterforscherin, führte vom 4.-6. April 2025 diese von der DFG geförderte Tagung gemeinsam mit Dr. Antje van Elsbergen durch, die sich seit einiger Zeit mit sinnlicher Erfahrung und Okularzentrismus am Institut für EKW beschäftigt. Ihre ersten Experimente dazu wurden 2017 mit dem ersten Lehrpreis Lehre@Philipp ausgezeichnet.

Über 50 Wissenschaftler_innen folgten dem Ruf nach Marburg, den Wuttig, van Elsbergen und die Nachwuchswissenschaftlerin Ellen Thuma im Jahr zuvor durch einen außergewöhnlichen Call for Contributions an die akademische Community richtete:
„Eine der Kernfragen der Tagung lautet, ob und wie ein in die westlichen spätkapitalistischen Gesellschaften eingeschriebenes, modularisiertes und hierarchisiertes Verständnis der Sinne als Okular- , Logo-, Andro- und Anthropozentrismus (in deren wechselseitigen Verschränkungen) (vgl. Howes 2006; Mraczny 2012; Kwek/Seyfert 2016; Hubermann 2023)* bereits eine ebensolche hierarchische Vorstrukturierung für das politische Feld der Demokratie bildet. So produziert die visuelle Kultur etwa «spezifische Praktiken, Diskurse und Sprechweisen, die sich auf vielfältige soziale Felder erstrecken und präferiert diese gegenüber anderen» (Marzny 2012: 197).“
Der Tagungsort, das Schloss Rauischholzhausen, war besonders geeignet für diese umfangreiche Tagung mit nationalen und internationalen Referent_innen wie Mark Paterson aus Pittsburgh oder Sachi Sekimoto von der University of Minnesota, Kolleg_innen aus dem UK, aus Island, Luxemburg, Belgien und Österreich. Die bekannte neuseeländische Kulturanthropologin Susana Trnka musste ihre persönliche und auch hybride Teilnahme kurzfristig absagen, jedoch konnte sie mit einem aufgezeichneten Eröffnungsvortrag über die Herausforderungen, denen sich die Demokratie im Angesicht gegenwärtiger Krisen auch bei jungen Leuten ausgesetzt sieht, die ca. 80 Personen auf drei Tage heterogener Vorträge und Diskussionen einstimmen.
Die Organisatorinnen waren sich einig, dass ein vielseitiges Programm mit künstlerischen Interventionen, Wahrnehmungsübungen und anderen den Körper einschließenden Formaten ein Bewusstsein dafür schafft, wie sensuale Hierarchien auf die wissenschaftlichen Perspektiven einwirken und das Demokratieverständnis unter deren Miteinbeziehung systematisch erweitern können.
So interdisziplinär die Tagung war, so sehr wurde eine womöglich überkommene Vorstellung von akademischer Tagung durchbrochen und durch eine sich selbst in der eigenen sinnlichen Beschränktheit wahrgenommenen Achtsamkeit einen neuen Weg eröffnen, dem die Teilnehmenden mit großer Neugier und viel Eifer folgten.
„Die Frage nach den sinnlichen Voraussetzungen eines demokratischen Aushandlungsraums unter Gleichen, und welche (nicht-menschlichen) Akteure von diesem ausgeschlossen sind, steht in diesen Ansätzen genauso im Zentrum wie die Kritik eines allein auf Denken und Rationalität fußenden Begriffs von Verständigung. So kann Jacques Rancières vielzitierte Formel der «(neuen) Aufteilung des Sinnlichen» (Rancière 2008; 2008a; 2016) selbst bereits als eine Aufforderung zu einer weiteren Einarbeitung einer somatisch-sinnlichen Dimension in den Diskurs um Demokratie und Teilhabe aufgefasst werden. Die interdisziplinäre Tagung lotet entsprechend aus, wie ein sinnlich-sinnhaftes, sozio-somatisches Verständnis des Demokratischen als Form der Erfahrung in Anschlag gebracht werden kann (ohne eine Dichotomisierung von Logos und Sensus zu befördern).“
Diese Passage aus dem Call for Contributions berührt die zentralen Ankerpunkte, innerhalb derer sich die Tagung positionierte, was wiederum die unterschiedlichen Fachvertreter_innen und zahlreiche Early Career Researchers an unsere Universität lockte. Neben Erziehungs-, Tanz- und Theater-, Politik- und Sportwissenschaft trugen Wissenschaftler_innen aus Soziologie, (Medien)Philosophie, politischer Bildung und natürlich auch Kulturwissenschaftler_innen zu dem Tagungsprogramm bei.
Als Tagungformate schlug der Call vor, „visuell dominierende Strukturen aufzubrechen“ und ermutigte zu „multisensorischen Beiträgen wie Audio-Walks, Soundinstallationen- und Einwürfen, kollektiven Spaziergängen und Gesprächen. Lecture Performances sind genauso willkommen wie Spür- und Wahrnehmungsexkursionen, mit und ohne Berührungserfahrungen, unter Beachtung und Aushandlung sinnlich-affektiver Grenzen.“ So war die Tagung ein allmähliches Einlassen auf verschiedenen Ebenen: Sowohl die transdisziplinären Debatten waren am ersten Tag noch dominiert von der Verständigung über zentrale Begriffe wie „Inklusion“, „Hierarchie“ oder „Erfahrung“, da jede der vertretenen Disziplinen andere Schwerpunktsetzungen vornahm. Am zweiten Tag allerdings, nach verschiedenen künstlerischen Interventionen, in denen das körperliche Spüren gemeinsam erlebt und sein Wert für den Erkenntnisprozess gegenüber dem „Anderen“ geübt wurde, stellten sich Berührungspunkte der wissenschaftlichen Argumente, gegenseitige Neugier und die Lust, durch weitere Experimente eigene Wissenskategorien der sinnlichen Erfahrungen hinzuzufügen, ein.
Das Schloss Rauischholzhausen als Ort der Tagung, sinnlich erfahrbar durch seine Architektur, von denen Teile der gesamten Anlage im 16. Jh. erbaut wurden, andere neueren Datums sind, seinen großen Park mit zahlreichen uralten Bäumen bot bei herrlichstem Frühlingswetter einen geeigneten Begegnungsraum. Bisweilen scharf kritisiert als Ort der schwer überwindbaren Barrieren in Form von Stufen, fehlenden Treppengeländern, verwinkelten Korridoren und nur teilweise zugänglich für Menschen im Rollstuhl, hatte gerade dieser Umstand den Effekt, dass Menschen, die bisher wenig Einschränkungen durch bauliche Barrieren erlebt haben, sich dieser viel bewusster wurden.
Die Ergebnisse der Tagung werden bei transcript in der von Bettina Wuttig ins Leben gerufenen Reihe „Soma Studies“ in 2027 veröffentlicht, was nicht die einzigen Konsequenzen der Veranstaltung bleiben sollen. Die Early Career Researchers organisieren sich bereits in einem standortübergreifenden autonomen Kolloquium und van Elsbergen und Wuttig denken an ein wissenschaftliches Netzwerk, das Forschungsprojekte auf verschiedenen Ebenen zur Folge haben könnte.
* Die Literaturhinweise und alle anderen Details entnehmen Sie bitte dem Original des Call for Contributions. Hier finden Sie außerdem das Booklet of Abstracts der Vorträge sowie das Tagungsprogramm im Print- und Audioformat.
Kontakt
Dr. Antje van Elsbergen
Mail: ave@staff.uni-marburg.de