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Geschichte des Instituts

Mit der Gründung der Marburger Philipps-Universität 1527 wurden als Teil der "Artistenfakultät", an der in Vorbereitung auf die eigentlichen Fachstudien die "sieben freien Künste" (artes liberales) studiert werden konnten, Professuren für Ethik und Dialektik (d.i. Logik) eingerichtet. Diese wurden erst einige Jahre nach der Universitätsgründung besetzt und können als Keimzelle der Marburger Philosophie gelten.

Rudolf Goclenius 
(1547-1628)

Rudolf Goclenius der Ältere
Foto: Bildarchiv Foto Marburg
Rudolf Goclenius der Ältere (1547-1628)

Für über 150 Jahre war die Philosophie an dieser weltweit ältesten protestantischen Gründung einer Universität wie die anderen "niederen Künste" eine Hilfswissenschaft der Theologie. Die Lehre einer festgelegten Auslegung der Werke des Aristoteles im Geiste der Scholastik bildete ihren Kern. Einen Metaphysiker von seinerzeit europäischer Ausstrahlung besaß Marburg mit Rudolf Goclenius (1547-1628), der heute vergessen ist, aber mit dem von ihm geprägten Begriff ‚Ontologie‘ weiterlebt. Ende des 17. Jahrhunderts wurde zwischen der vorherrschenden Theologie und einer auf die neue Physik ausgerichteten Philosophie (mit den Marburger Physikern und Philosophen Denis Papin und Georg Otho) ein erbitterter Streit um die Thesen René Descartes’ geführt. Dieser Streit verschob hier die Rezeption des Cartesianismus auf das beginnende 18. Jahrhundert.

Christian Wolff 
(1679-1754)

Christian Wolff
Foto: Bildarchiv Foto Marburg
Christian Wolff (1679-1754)

Die Provinzialität der Marburger Philosophie wurde mit der Berufung Christian Wolffs 1723 überwunden. Aus Preußen vertrieben und bereits hoch renommiert erreichte Wolff die vertragliche Bezuschussung der von ihm unterrichteten Fächer. Wolff genoss die direkte Unterstützung des Landesherrn und die Freiheit der Lehre: Er behandelte nahezu alle philosophischen Disziplinen (und andere Gebiete bis hin zum Festungsbau) und füllte die Säle mit hunderten teils von weit her angereisten Hörern. Wolff, der sich schon in seiner Hallenser Zeit darum bemüht hatte, die deutsche Sprache für die Philosophie tauglich zu machen und auf den viele heute gebräuchliche Fachtermini zurückgehen, wurde zum wichtigsten Vertreter der frühen deutschen Aufklärung. Seine rationalistische Philosophie trug maßgeblich zur Loslösung der Ethik von der Theologie bei.

Nach Wolffs Verabschiedung 1740 blieb Marburg philosophisch zwar von seiner Lehre beherrscht, aber er hinterließ keine Schule. Die nächste Hochblüte der Philosophie an der Lahn sollte auf sich warten lassen. Die Geschichte schien sich wiederholen zu wollen, als (wie im Falle Descartes') auch für die Philosophie Immanuel Kants die Rezeption eines revolutionären Werkes mit Verboten und internen Querelen begann. Die erste geplante Kant-Vorlesung in Marburg wurde 1786 durch ein Edikt des Landesherrn verhindert. Später mussten sich die Kantianer im absolutistischen Kurhessen des Vorwurfs erwehren, ihr "umstürzlerisches" Gedankengut mache sie zu Unterstützern der Französischen Revolution. Die Ausbreitung von Kants kritischer Philosophie war jedoch auch in Marburg nicht aufzuhalten, trotz Versetzung missliebiger Dozenten.

Nach der Zerschlagung der deutschen Territorialordnung durch Napoleon und der Restauration 1813 versank auch die Marburger Universität in Repression und Stagnation. Die Studentenzahlen gingen zurück, Staatskommissare überwachten den Lehrbetrieb, Dozenten galten als potenzielle Unruhestifter. Nach der Revolution 1848 wurden Strömungen des deutschen Idealismus und seine politische Kritik noch stärker unterdrückt, im engstirnigen Kurhessen wie auch anderswo in Deutschland. Erst die preußische Annexion 1866 wirkte befreiend für die Marburger Philosophie.

Mitte des 19. Jahrhunderts erwuchs aus dem Konflikt zwischen den diskreditierten Gedankengebäuden der idealistischen Systemphilosophie und dem durch den Aufstieg der Naturwissenschaften getragenen Empirismus eine Bewegung, die eine Neuetablierung der Philosophie forderte und diese in einer Neuinterpretation der Philosophie Kants erreichen wollte. Friedrich A. Lange (1828-1875) begründete in seiner eminent populären "Geschichte des Materialismus" eine Strömung, die kurz davor erstmals als "Neukantianismus" bezeichnet worden war.

Hermann Cohen
(1842-1918)

Hermann Cohen
Foto: Bildarchiv Foto Marburg
Hermann Cohen (1842-1918)

Diese für Jahrzehnte vorherrschende Strömung fand im Folgenden in der "Marburger Schule" ihr geistiges Zentrum. Hermann Cohen (1842-1918), der 1875 nach wiederholter Ablehnung auf Grund seines Judentums endlich die Nachfolge Langes antreten konnte, bildete in der Arbeitsgemeinschaft mit seinem späteren Nachfolger Paul Natorp(1854-1924) ihren Kern. Cohens erkenntnistheoretische Lehre, nach der Logik und Ethik als Formen des reinen Denkens alle Erkenntnisgegenstände erschaffen, kann nicht nur als Versuch der Versöhnung Kants mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt zur Wende des 20. Jahrhunderts, sondern auch als Wegbereiter für logisch-empiristische und konstruktivistische Auffassungen gesehen werden. Natorp ist der Nachwelt vor allem als Begründer einer philosophischen Pädagogik und einer Sozialphilosophie im Gedächtnis geblieben. Unter den Schülern Cohens und Natorps finden sich Namen wie Ernst Cassirer, Nicolai Hartmann (der Marburger Nachfolger Natorps), Boris Pasternak und José Ortega y Gasset.

Paul Natorp
(1854-1924)

Paul Natorp
Foto: Bildarchiv Foto Marburg
Paul Natorp (1854-1924)

Die Jahre um den Ersten Weltkrieg waren von Durchsetzungsschwierigkeiten der Philosophie gegenüber den innerhalb der Philosophischen Fakultät aufstrebenden Einzelwissenschaften wie der Psychologie geprägt. Die Marburger Schule fand in dieser Zeit mit der Emeritierung Cohens (1912) und Natorps (1922) ihr Ende; alle Bemühungen, Cassirer einen Lehrstuhl zu verschaffen und damit ihre Kontinuität zu sichern, scheiterten an seiner jüdischen Herkunft und demokratischen Gesinnung.

Martin Heidegger
(1889-1976)

Martin Heidegger
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Martin Heidegger (1889-1976)

Der folgende Abschnitt der Institutsgeschichte verbindet sich vor allem mit dem Namen Martin Heideggers (1889-1976). Während seiner Zeit in Marburg (1923-1928) veröffentlichte er das nie abgeschlossene, dennoch weithin als umwälzend empfundene Werk "Sein und Zeit". Seine als “Marburger Vorlesungen” bekannt gewordenen Lehrveranstaltungen waren äußerst beliebt. In kurzer Zeit gewann er damit in Marburg Einfluss auf später bedeutsame Philosophinnen und Philosophen wie Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Hannah Arendt und Hans Jonas sowie auf die Theologie Rudolf Bultmanns.

1928 nahm Heidegger einen Ruf an die Universität Freiburg an, wo er im Rahmen seines Rektorats 1933/34 die Machtergreifung der Nationalsozialisten begrüßte und unterstützte, wovon auch die aus späterer Zeit stammenden „Schwarzen Hefte“ mit ihrem expliziten Antisemitismus Zeugnis ablegen.

Für die Marburger Philosophische Fakultät war die Zeit von 1933 bis 1945 geprägt durch den Nationalsozialismus und Antisemitismus von Erich R. Jaensch, Ordinarius im psychologischen Zweig. Karl Löwith und Heideggers Nachfolger Erich Frank wurden auf Grund ihrer jüdischen Abstammung ins Exil getrieben, der philosophische Lehrbetrieb kam fast zum Erliegen.

Julius Ebbinghaus
(1885-1981)

Julius Ebbinghaus
Foto: Bildarchiv Foto Marburg
Julius Ebbinghaus (1885-1981)

Weniger als ein halbes Jahr nach Kriegsende öffnete im neu geschaffenen Land Hessen die Philipps-Universität als erste deutsche Hochschule 1945 wieder ihre Tore. Der Philosoph Julius Ebbinghaus (1885-1981), zu Kriegsende letzter Lehrender in der Philosophie und als Kantianer frei von nationalsozialistischer Belastung, wurde erster Rektor der Philippina und leitete ihre Entnazifizierung. Ebbinghaus war im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland eine bedeutende Stimme für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. 1954 wurde er emeritiert.

Klaus Reich 
(1906-1996)

Klaus Reich
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Klaus Reich (1906-1996)

Wie Ebbinghaus war auch sein Nachfolger Klaus Reich um ein möglichst exaktes Verständnis der Werke Kants bemüht. Reich wirkte in Marburg als Professor von 1956-1972. Organisatorisch machte sich in dieser Zeit die Bildungsreform bemerkbar: 1964 wurden die Psychologie, 1965 die Pädagogik endgültig vom Fach Philosophie getrennt. 1970 wurde das in Grundzügen heute noch bestehende System der Fachbereichsgliederung eingeführt, das die Philosophie dem Fachbereich "Gesellschaftswissenschaften" zuschlug. Dieser wurde unter dem Einfluss des Juristen und Politologen Wolfgang Abendroth und seiner Schüler mit seiner politischen Linksorientierung deutschlandweit bekannt. 1961 habilitierte sich Jürgen Habermas bei Abendroth.

Während in der Zeit von 1971 bis 1978 der Marxist Hans-Heinz Holz auf dem Lehrstuhl 2 in Marburg unterrichtete und der Lehrstuhl 1, vormals Reich, für 8 Jahre vakant war, wurden die Marburger Schüler Reichs – Reinhard Brandt, Lüder Gäbe und Burkhard Tuschling – zu Professoren der Philosophie ernannt. Vor allem durch Reinhard Brandt und Burkhard Tuschling (beide 2003 pensioniert) wurde die Marburger Tradition der Kant-Forschung fortgesetzt. Mit Nelly Motroschilowa (Moskau) begründete Tuschling die erste russisch-deutsche Kant-Ausgabe.

1980 wurde als Reichs Nachfolger Peter Janich berufen, der den Lehrstuhl bis zu seiner Emeritierung 2007 innehatte. Auf der zweiten C4-Professur lösten sich Oswald Schwemmer, Peter Bieri, Walther Zimmerli und Manfred Kühn ab, die jeweils nur wenige Jahre in Marburg lehrten. 2006 wurden zwei vakant gewordene Professuren mit Andrea Marlen Esser (Praktische Philosophie) und Winfried Schröder (Geschichte der Philosophie) besetzt, und 2008 die Professur für Theoretische Philosophie mit Christoph Demmerling. Christoph Demmerling und Andrea Esser nahmen 2015 einen Ruf an die Schiller-Universität-Jena an. Es folgte ein neuerlicher personeller Umbruch für das Institut.

Seit 2016 hat Alexander Becker die Professur für Theoretische Philosophie inne. Als Professorin für Praktische Philosophie konnte Nadia Mazouz gewonnen werden. Damit sind seit 2017 wieder alle Professuren des Instituts besetzt.

Literatur

  • Gadamer, Hans-Georg (1977): Philosophische Lehrjahre: eine Rückschau, Frankfurt a.M.: Klostermann.
  • Löwith, Karl (1986): Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: ein Bericht,mit e. Vorw. v. R. Koselleck u. e. Nachbem. v. A. Löwith. Stuttgart: Metzler.
  • Sieg, Ulrich (1989): Das Fach Philosophie an der Universität Marburg 1785-1866: ein Beitrag zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von Problemen der Lehre und des Studiums.Kassel: Verein für Hessische Geschichte und Landeskunde.
  • Sieg, Ulrich (1994): Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus: die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft.Würzburg: Königshausen und Neumann.
  • Trawny, Peter (2015): Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 3., überarb. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M.: Klostermann.

Bildnachweis

Die Veröffentlichung der Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Bildarchivs Foto Marburg, www.fotomarburg.de.