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Andreas Lötscher: Die Affrikate tsch in den Varianten des Deutschen: Wortstruktur und Wortschatzstruktur

The Affricate tsch in the Variants of German: Structure of Words – Structure of Vocabulary

KURZFASSUNG: Die deutsche Affrikate /tʃ/ ist lauthistorisch ein Waisenkind ohne reguläre Entstehungshintergründe in älteren Sprachstufen des Deutschen. Synchron ist der Laut im ko­difizierten deutschen Standardvokabular der Gegenwart eher marginal. Im Dialektwortschatz sind Wörter mit /tʃ/ dagegen jedoch ziemlich häufig. In einigen wenigen Fällen lässt /tʃ/ sich aus speziellen kombinatorischen Lautentwicklungen erklären. In den meisten Fällen liegt der Ursprung von /tʃ/ jedoch in lautsymbolischer Urschöpfung oder Wortvariation, vor allem als Mittel der Lautmalerei (Klang-Ikonizität), aber auch der Expressivität (Salienz-Ikonizität). Es ist kein Zufall, dass der Laut im dialektalen Wortschatz so viel verbreiteter ist als in der Stan­dardsprache. Der dialektale Wortschatz mit /tʃ/ fokussiert Alltagserfahrungen und zeichnet sich durch Kreativität, Irregularität, Expressivität und Affektivität aus, Merkmale, die eng mit­einander zusammenhängen und wesentliche Merkmale der „Nähe-Sprache“ ausmachen, das heißt der Sprachform, die in der vertrauten persönlichen Kommunikation verwendet wird. Die diaphasische Markiertheit von /tʃ/ erklärt, warum die Affrikate dem kodifizierten Standard­deutschen grundsätzlich fremd ist, in dem die Distanz-Sprache des Deutschen repräsentiert ist.

Schlagworte: Affrikate, Lautsymbolik, Lautnachahmung, Expressivität, Nähe-Sprache, Dialekt­wortschatz, Wortschatzstruktur, Urschöpfung

ABSTRACT: Historically, the German affricate /tʃ/ is an orphan in the German sound system: it has no regular historical sources in older stages of German. Synchronically, in the codified present day standard German vocabulary, it is rather marginal. In dialectal vocabularies, however, words containing /tʃ/ are fairly frequent. In a few cases, /tʃ/ can be traced back to isolated combinatory sound developments. In most cases, however, the origin of /tʃ/ is sound symbolistic word creation or word variation, primarily by onomatopoeia (sound iconism), but also by expressivity (saliency iconism). It is no coincidence that /tʃ/ is so much more frequent in dialectal vocabularies than in standard German. Dialectal vocabulary with words containing /tʃ/ is focussed on everyday expe­rience and is characterized by creativity, irregularity, expressiveness and affectivity, factors that are closely interlinked with each other and essential features of the “language of immediacy” (‘Nähe- Sprache’), i. e. the form of language that is used in intimate personal communication. The diaphasic markedness of /tʃ/ in German explains why it is unfamiliar to the codified standard German, which in principle represents the language of distance.

Keywords: affricate, sound symbolism, onomatopoeia, expressiveness, language of immediacy, dialect vocabulary, structure of vocabulary, neologism