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Tietz: Mathematik im Nachkriegs-Marburg

HORST TIETZ

Mathematik im Nachkriegs-Marburg
aus "alma mater philippina, Sommersemester 1998"

Im Juli 1943 kamen meine Eltern und ich nach der Hamburger Ausbombung nach Marburg - aus keinem triftigeren Grunde, als daß meine Eltern sich hier kennen gelernt hatten, und weil mein brüderlicher Freund, der spätere Philosoph Gerd-Günther Grau, damals hier Chemie studierte.

Uns war bekannt, daß in Hamburg eine Aktion der Gestapo gegen meinen Vater unmittelbar bevorstand, und so war der Abschied von unserem brennenden Haus geradezu eine Befrei­ung; - sie war nicht von Dauer: am Heiligabend wurden wir zu dritt von der Marburger Gestapo verhaftet.

Kurz vor der Verhaftung suchte ich den Marburger Mathemati­ker Kurt Reidemeister auf Empfehlung seines Hamburger Dok­torvaters Erich Hecke auf. Wir verabredeten uns zu mathemati­schen Gesprächen. Hierzu kam es nicht mehr. - Vor dem Abtransport ins KZ marschierte ich einmal im Häftlingstrupp an Reidemeister vorbei: natürlich erkannte er mich nicht, und schnell war die verzweifelte Hoffnung verflogen, vor meinem Verschwinden im Inferno könnte durch ihn ein Signal von mir zu Hecke dringen. - Meine Eltern überlebten das KZ nicht; ich selbst kam nach der Befreiung aus Buchenwald nach Marburg zurück.

Der Krieg war vorüber. In den vier Besatzungszonen regte sich das Leben. Viele Universitäten öffneten wieder ihre Pforten. Die Philipps-Universität nahm zum Jahreswechsel 1945/1946 den Betrieb wieder auf. Weil die Stadt von den kriegerischen Zerstö­rungen weitgehend verschont geblieben war, übte sie starke Anziehung aus auf die Ströme der Heimkehrer, Flüchtlinge und Heimatlosen, die das ganze Land durchzogen. Entsprechend bunt zusammengewürfelt war die Studentenschaft, die erwar­tungsvoll die Hörsäle füllte: gegen die Marburger, die noch den Hintergrund einer Familie hatten und gerade von der Schule kamen, hoben sich diejenigen ab, denen man ihre erbärmlichen Lebensbedingungen ansah. In der Mathematik jedoch verband viele die Begeisterung, die von einem Dozenten, der an Armut von kaum einem Studenten überboten wurde, ausging, und der seine Hörer in seinen Bann zog: Herbert Grötzsch. Auch er war als Heimkehrer unterwegs gewesen: er hatte versucht, an seine Universität Gießen, an der er bis zu seinem Hinauswurf 1935 durch den NS-Staat gelehrt hatte, zurückzukehren: Diese war aber von der US-Militärregierung geschlossen worden; es lag nahe, daß er im benachbarten Marburg Fuß zu fassen suchte. Man nahm ihn gerne in den Lehrkörper auf, der arg reduziert war: besetzt war nur ein Ordinariat und eine außerplanmäßige Professur, vakant waren ein weiteres Ordinariat, eine Dozentur und die Stelle einer Wissenschaftlichen Hilfskraft, während die Assistentenstelle gesperrt war, weil der bisherige Inhaber, Herr Bachmann, auf seinem Ordinariat in Kiel nicht ernannt werden konnte, solange er auf seine Marburger Entnazifizierung warten mußte. Der 44jährige Grötzsch mußte mit der HilfskraftsteIle vorlieb nehmen; erst 1947 wurde er zum Außerplanmäßigen Professor ernannt - seine Stelle und seine Bezüge änderten sich nicht. Bemühungen mit dem Ziel, diesen peinlichen Zustand zu korrigieren, wurden in der Philosophischen Fakultät zwar ver­sucht, man hielt jedoch Grötzsch's zerlumpte Kleidung für »unpassend«. So sagte es mir der damalige Rektor Ebbinghaus. Grötzsch hatte niemals diese Behandlung kritisiert, ja er schien sie nicht einmal zu registrieren. Seine Armut tat der Wirkung sei­ner Persönlichkeit, seiner Begeisterung in den Vorlesungen und seiner Güte zu seinen Studenten keinen Abbruch.

Als Forscher war Grötzsch weltbekannt: er hatte seine »Flä­chenstreifen-Methode« in die »Geometrische Funktionentheo­rie« eingeführt, durch die es möglich wurde, konforme Abbil­dungen als starre Spezialfälle von schmiegsameren quasikonfor­men Abbildungen anzusehen und oft durch Extremaleigenschaf­ten zu charakterisieren; diese Betrachtungsweise ist noch heute bei der Suche nach kennzeichnenden Eigenschaften gewisser Riemannscher Flächen und in der Theorie der »Teichmüller­-Räume« fruchtbar.

Herbert Groetzsch 1945-1948
Herbert Groetzsch 1945-1948

In der damals an Originalen reichen Stadt war Grötzsch, »der Professor«, schnell eine stadtbekannte Persönlichkeit. Versuche von bessergestellten Studenten, ihm hier und da etwas zu helfen, wurden von ihm ebenso herzlich wie bestimmt zurückgewiesen; nur ein Paar Schuhe aus einem US-Paket konnte ihm bei einer Tombola untergemogelt werden: sichtlich erschüttert ging er kopfschüttelnd nach Hause, trug die Schuhe dann aber gerne an Stelle der bisherigen Holzschuhe. Er wohnte am Galgenberg in einer winzigen Dachstube; der Weg war so steil, daß er bei Glätte auf Socken hinunterrutschen mußte. Auf seinem Weg ins Mathe­matische Institut im Landgrafenhaus ging er durch das alte Wei­denhausen und trank in einer Bäckerei seinen »Kaffee«, aß sein trockenes Brötchen und las die Tageszeitung: Dabei nickte er einmal ein und lehnte sich an den geheizten Ofen; das traurige Ergebnis war ein großes Loch in seinem guten Jackett, das er sich von seinen Eltern hatte schicken lassen, und das er erst wenige Tage statt eines undefinierbaren Kleidungsstückes aus Kriegsta­gen getragen hatte. Mitten auf dem von US-Fahrzeugen stark befahrenen Rudolphsplatz blieb er einmal, auf seinem Bleistift­stummel kauend, tief in Gedanken stehen, bis ein freundlicher Schutzmann ihn am Arm nahm und auf den sicheren Bürgersteig führte. Sicherlich war nicht nur die Mathematik sondern auch seine Unterernährung Ursache dieses Abschaltens: von seinen kargen Lebensmittelmarken schickte er einen Teil an seine Eltern in Crimmitschau und versuchte, sich mit Fischpaste und anderen »markenfreien« Artikeln die fehlenden »Vitamine« zu verschaf­fen.

Ohne Grötzsch wäre der mathematische Lehrbetrieb zusam­mengebrochen: er war unermüdlich tätig und jederzeit an­sprechbar. In der lautstark in sächsischem Idiom geführten, tem­peramentvollen Diskussion war er mitreißend, wozu seine vor Übermut und geistiger Freude blitzenden, von scharfen Brillen­gläsern verstärkten Augen das ihre taten. Sein stereotypes »Notabene Rücksprache!« war wie eine Fanfare, mit der er Stu­denten zum Gespräch zitierte. Es war alles wichtig! Mathemati­sche Fehler wurden solange besprochen, bis interessante Trug­schlüsse zu Tage traten: Lösungswege wurden ausführlich dis­kutiert. Wenn in den Übungsstunden allzu umständlich argu­mentiert wurde, rief er: »Meine Damen und Herrenl Sie denken alle viel zu viel !« - war aber der Weg, den ein Student einge­schlagen hatte, dem seinen überlegen, so brach es aus ihm her­aus:  »Sie haben mich zur Strecke gebracht !« - Unvergessen die aus tiefen Gedanken kommende Sentenz: »Meine Damen und Her­ren! Das Hauptproblem der Mathematik lautet: ,Gegeben ist der Beweis - gesucht ist der Satz!, « Aber auch seine zündende Erklä­rung des Satzes von Bolzano: »Denken Sie sich ein endliches Intervall und da unendlich viele Punkte drin! Da sagt Ihnen doch schon die Anschauung: da muß doch ein schreckliches Gedränge stattfinden, da muß es doch einen Punkt geben, wo was ganz Fürchterliches passiert! -  Und sehen Sie: so ein Punkt, das ist ein Häufungspunkt!« Er dachte immer geometrisch: beim Diskutie­ren oder in Vorlesungen waren seine Hände stets in Bewegung, als wollte er durch eine virtuelle oder reale Zeichnung seine Gedanken klarmachen. In einer Vorlesung über »Konforme Abbildung«, in der plötzlich das Licht ausfiel, appellierte er an die Abstraktionsfähigkeit der Hörer und redete im Dunklen wei­ter; trotzdem hörte man nach einigen Minuten das Geräusch der Kreide an der Wandtafel.

Einmal habe ich Grötzsch wütend erlebt: in der Bibliothek des Institutes machten Studenten Jagd auf Insekten, die durch ein offenes Fenster hereingekommen waren. In großer Erregung schloß er das Fenster mit den Worten: »Die arme Kreatur weiß doch nicht, was für Fallen wir ihr stellen!«

Sein Dienstzimmer lag im Dach des Landgrafenhauses. Unter seinem Fenster verlief eine Regenrinne, in ihr hatte sich im Laufe der Jahre Erde angesammelt und darin wuchs eine kleine Birke, die jedem auffiel, der von der Reitgasse herunterkam. Sie war seine Freude und er begoß sie täglich zweimal, wobei er jedesmal mit einer Konservendose zum nächsten Wasserhahn, der zwei Stockwerke tiefer lag, laufen mußte. Als er einmal abwesend war, bekam ich den ehrenvollen Auftrag, das Bäumchen zu begießen: »Aber seien Sie vorsichtig, daß Sie die Passanten nicht bekleckern!« Bei einer Dachrevision wurde die Regenrinne gerei­nigt, und das Bäumchen verschwand. Sein Kommentar: »Man sorgt in Marburg dafür, daß hier die Bäume nicht in den Himmel wachsen ...« Grötzsch folgte im April 1948 dem Ruf an die Universität Halle und ließ eine fassungslose Fakultät - aber viele dankbare Studen­ten! - zurück: sie hatten von ihm nicht nur beste Mathematik gelernt, er hatte ihnen vorgelebt, daß man in der Not die Hoff­nung in sich selbst finden kann.
Als er sich verabschiedete, verbat er sich Briefe mathematischen Inhalts: »Die Zensoren müssen Mathematik doch als Geheimspra­che auffassen, und das ist in einer Diktatur lebensgefährlich«; er verwies dabei auf das Schicksal von Fritz Noether, der in Rußland als Spion hingerichtet worden sei, weil er von einem Schuldner aus Deutschland Geld überwiesen bekommen hatte.
Grötzsch starb 1993 mit 91 Jahren. Mit seiner Familie verbindet uns all die Jahre eine herzliche Freundschaft, die besonders von unseren Frauen mit Briefen und Paketen gepflegt wurde. Frau Grötzsch ist eine Tochter des Algebraikers Heinrich Wilhelm Jung, der bis 1953 in Halle lebte.
Politische Differenzen spielten in Marburg eine größere Rolle als in Hamburg, wo ich, weil die Universität dort vor der Marbur­ger öffnete, mein erstes Nachkriegssemester verbracht hatte; dort standen die Probleme des Überlebens im Vordergrund. Aber Marburg war im wesentlichen heil, und das bürgerliche Leben war äußerlich noch ziemlich intakt. Hier fielen ehemalige Offiziere so durch Zackigkeit auf, daß die Physiker sagten:
»Wenn von 'Größen höherer Ordnung' die Rede ist, knallen die mit den Hacken!« Als ich erfuhr, daß ein Kommilitone im Suff verraten hatte, er sei SS-Offizier gewesen, sprach ich ihn an und erklärte ihm, daß und warum ich keinen Kontakt mehr mit ihm zu haben wünsche; sehr viel später erfuhr ich, daß er, inzwischen OStD, mich als seinen Freund bezeichnete. Die politischen Dis­kussionen unter uns Studenten waren oft heftig. Bei meinem letzten Besuch in Halle erinnerte mich Grötzsch an eine solche Auseinandersetzung, die ihm imponiert hatte: als ein Kommmi­litone mir gegenüber seine Begeisterung für den NS-Staat mit den Worten verteidigte: »schließlich war ich ja nicht im KZ«, hätte ich nur mit »warum nicht ?!« gekontert! Ich muß noch einflechten, daß damals »Spruchkammern« einge­richtet wurden, in denen die Entnazifizierung im Stil ordentli­cher Gerichtsverfahren abgewickelt werden sollte. Dabei wurde mir das Amt des »Öffentlichen Klägers« (Analogon zum Staats­anwalt) angeboten. Obgleich in dieser Notzeit und vor einer Zukunft voller Fragezeichen die Stellung eines Oberregierungs­rates etwas Märchenhaftes an sich hatte, habe ich keinen Gedan­ken darauf verschwendet.

Ziemlich heftig war der politische Konflikt unter den Professo­ren: der Rektor, der Philosoph Ebbinghaus, der die Universität entnazifizieren wollte, hatte sich sogar aus diesem Grunde mit dem Germanisten Mitzka auf offener Straße Ohrfeigen geboten. Unvergessen ist mir Reidemeisters Empörung, der auf dem Beleidigungsprozeß als Zeuge aufgetreten war, auf dessen Verei­digung das Gericht aber verzichtet hatte: »jedes Kind wird vor Gericht ernster genommen als ein Ordinarius!« - Ebbinghaus liebte die vielbegehrten amerikanischen Zigaretten; der Theo­loge Ernst Benz faßte dies in den schönen Schüttelvers: »Des Rek­tors Auge fester schielt, erblickt er eine Chesterfield!« Im übrigen rang der Kantianer Ebbinghaus mit Reidemeister um das Raumproblem; und zu beliebiger Tageszeit konnte es geschehen, daß er bei uns klingelte, um sich von mir den Euklid erklären zu lassen.

Erwähnen muß ich noch eine eindrucksvolle Persönlichkeit, die für die Philipps-Universität unendlich viel getan hatte; es war der amerikanische Universitätsoffizier Edward Hartshorne: er war Historiker und Deutschlandkenner, der von allen Seiten respek­tiert wurde, weil er sich bemühte, die alten professoralen Zwiste, die der Zusammenbruch freigesetzt hatte, und die durch politi­sche Beschuldigungen zu loderndem Haß aufgeheizt wurden, durch aktive Hilfe ins Unwesentliche abzudrängen. Hartshorne war der Begründer der »Marburger Gespräche«, in denen deut­sche und alliierte Wissenschaftler früh wieder Verbindung beka­men. Er hatte einen köstlichen Humor; ich erlebte, wie er das Schauspiel genoß, als einige Professoren sich gegenseitig durch die Mensatür komplimentierten; sein Kommentar kurz nach dem Krieg! -: »nothing stops a german man but an open door!« Hartshorne wurde in Deutschland bei einem wohl nie ganz geklärten Attentat getötet. Der Algebraiker Robbin Hartshorne ist sein Sohn. 

Kurt Reidemeister 1934-1955
Kurt Reidemeister 1934-1955

Mathematisch war an der Philipps-Universität bei Friedensbe­ginn wegen der kargen Besetzung nicht viel los. Alleiniger Ordi­narius war Kurt Reidemeister, außerplanmäßiger Extraordinarius für angewandte Mathematik mein späterer Doktorvater Maxi­milian Krafft, und mit der Hilfsassistentenstelle hatte man wie gesagt Herbert Grötzsch abgespeist. Die beiden anderen Herren waren Persönlichkeiten anderer Art: Der schöngeistige Ästhet Reidemeister war bereits 1933 von Königsberg nach Marburg strafversetzt worden, weil er seine Verachtung gegenüber den plebejischen Massen der Nazis in einer Vorlesung offen erklärt hatte. Jetzt kümmerte er sich im Fahrwasser seines Freundes Ebbinghaus mehr um Politik als um Mathematik. Reidemeister fuhr bald nach Kriegsende auf Einla­dung von Siegel, mit dem er damals noch befreundet war, für ein Jahr nach Amerika. Seine Frau, eine bekannte Porträt-Photogra­phin (manche Bilder aus der Hilbert-Biographie von Constance Reid stammen von ihr) begleitete ihn. Mucki und Pinze, wie nicht nur sie sich nannten, wohnten im Obergeschoß der herr­schaftlichen Villa, die der Mathematiker Kurt Hensel, ein Enkel der Komponistin Fanny Hensel-Mendessohn, auf dem Schloß­berg erbaut hatte. Ich bewunderte Reidemeister, der den steilen, beschwerlichen Weg trotz seines steifen Knies stets im Eilschritt zurücklegte! Bei Reidemeister arbeitete ein Jahr lang Frau Erika Pannwitz, die sich für seine Knotengruppen interessierte; sie übernahm später in Ostberlin die Schriftleitung des »Zentralblat­tes für Mathematik«. Reidemeisters Lieblingsschüler war mein genialischer Freund Gottfried Falk; Reidemeister wurde Patenonkel des ersten Falk­schen Sohnes. Nie werde ich Falks Diplomprüfung vergessen, zu der er seine Prüfer 20 Minuten warten ließ. »So, meine Herren, wir können anfangen«, sagte er, als er in Reidemeisters Zimmer trat, und fragte »soll ich wieder gehen?«, als dieser ihn anbrüllte. Aber natürlich ging alles gut! Reidemeister erreichte später durch sein Veto gegen die Falksche Dissertation in Theoretischer Physik, daß sie zu einer grundlegenden Arbeit verbessert werden mußte, die Falk eine beachtliche Karriere eröffnete. Er starb viel zu früh als Theoretischer Physiker in Karlsruhe. Dieses Eingrei­fen in eine Dissertation, die unter Siegfried Flügges Anleitung entstand, ist beispielhaft für das gute Klima zwischen Mathema­tik und Physik. Bei Reidemeisters wohnte eine Nichte, die in Marburg das Abitur machen sollte. Diese junge Dame besuchte mich eines Tages mit einer Ellipsenaufgabe, die ihr Onkel nicht schaffte; der hatte sie wütend zu mir geschickt: »geh doch zum Tietz, der hat so'n Sinn fürs Triviale!« Reidemeister hat mich immer fasziniert; umso schmerzlicher sah ich, daß es ihm anscheinend selten gelang, seinen geistigen Reichtum auf andere Menschen zu übertragen. Ich erinnere mich an ein geradezu beklemmendes Erlebnis aus dem Jahr 1960: er besuchte damals seinen Studienfreund Behnke in Münster, der stolz von seinen großen Erfolgen in der Lehrerbildung erzählte. Aus irgend einem Grunde wurde das Gespräch so gereizt, daß Behnke schließlich wortlos den Raum verließ. Als ich Reidemei­ster später ins Hotel begleitete, brach es aus ihm heraus: »Herr Behnke meint, ich kritisiere ihn; dabei bewundere ich ihn. Wie soll man sich verstcindlich machen?« Reidemeister war eine Persön­lichkeit von tragischer Größe.

Einer meiner ersten Wege, als ich aus Buchenwald in Marburg ankam, galt dem Mathematischen Seminar im Landgrafenhaus, das ich endlich legal betreten wollte. Von Freund Grau wurde ich einem älteren Herren vorgestellt, der mir ziemlich bekannt vorkam. Ich fragte meinen Freund: »Wer ist denn das, den kenne ich doch?« »Na klar! Berliner Illustrierte! ,Vater und Sohn!,« Tat­sächlich soll der Karikaturist E. O. Plauen, den die Nazis später in den Tod trieben, eine Nachbarstochter von Professor Krafft geheiratet und in Ruhe das Original beobachtet und skizziert haben. Kraffts Vorlesungsstil war skurril: räuspernd, knurrend und vergnügt kehrte er seinen Hörern den Rücken zu, begann mit der linken Hand an die Tafel zu schreiben und schrieb mit der rechten weiter, ohne daß sich das Schriftbild im geringsten änderte; er konnte auch, wenn man ihm am Schreibtisch gegen­über saß, auf dem Kopf schreiben, und sogar Spiegelschrift schrieb er ebenso zügig wie Klarschrift.

Er steckte voller Rechentricks, die er oft selbst erfand und belebte seine Vorlesun­gen und Seminare ungemein durch seine menschliche und seine mathematische Originalität.

Maximilian Krafft 1926-1956
Maximilian Krafft 1926-1956

Unermüdlich arbeitete er damals an der Übersetzung und Bearbeitung von Tricomis »Elliptische Funktionen«, das war das analytische Gegenstück zu dem älte­ren Werk, das er gemeinsam mit Robert König verfaßt hatte. Krafft war ein urbayerischer Querkopf, der immer »dagegen« war: mit den Nazis war er nicht zurecht gekommen - er soll in Bonn die Hausdorff-Nachfolge nicht erhalten haben, weil er am Wochenende keinen politischen Dienst tun wollte; und nach dem Kriege ließ er mir gegenüber kaum eine Gelegenheit zu kri­tischen Äußerungen über Juden aus. Mir imponierte dieser kau­zige Freiheitsdrang mehr als daß er mich kränkte, weil er nicht bösartig war: Ich hielt zu ihm, wenn er wieder angeeckt war. Nur in meinem Rigorosum 1950 konnte ich nicht mehr an mich halten: Es fand in der »Alten Aula« vor der Fakultät statt; Krafft prüfte Versicherungsmathematik und stellte Fragen, die mich aufbrachten; die letzte lautete: »Wie schützen sich Versicherungen gegen zu ungünstige Versicherungsverträge?« Meine Antwort »durch ärztliche Vorauslese; das hat aber nur Sinn bei der Lebens­versicherung; da nimmt man die Kranken nicht auf, damit man nicht zu früh bezahlen muß«, genügte ihm nicht: »Das hat auch Sinn bei der Rentenversicherung: da nimmt man die Gesunden nicht auf, damit man nicht zu lange zu bezahlen braucht!« Da platzte ich vor versammelter Fakultät: »Das mag eine arische Methode sein, Herr Professor, die kenne ich nicht!« Unser Verhältnis war aber stabil, und es war mir doch sehr pein­lich, als ich, inzwischen Ordinarius, ihn, den apl-Professor, dem ich so viel zu danken habe, an seinem achtzigsten Geburtstag besuchte.
Krafft und Grötzsch haben in dieser Hungerzeit Übermenschliches geleistet!

Da der verfügbare Platz mich zwingt, den Text meines Vortrages vom 4. Juli 1997 abzubrechen, muß ich wenigstens noch erwäh­nen, daß ich von 1947 bis 1950 Mitarbeiter des Theoretischen Physikers Erich Hückel am Physikalischen Institut, das von Wil­helm Walcher geleitet wurde, gewesen bin. Diese Jahre gehören zu den reichsten meines Lebens: menschlich ist eine dauernde, tiefe Freundschaft mit den Familien Hücke! und Walcher erwachsen und wissenschaftlich habe ich gelernt, daß es ein Soziales Problem der Mathematik gibt: nämlich die Aufgabe
Mathematik Nicht-Mathematikern interessant zu machen!
Marburg ist meine Schicksals stadt. Die menschlichen Bedingun­gen und das Glück der ersten Ehejahre haben mich die bitteren Erinnerungen überwinden lassen.