13.10.2017 Neurowissenschaftler sagen Sinnestäuschung voraus

Messung von Zellaktivitäten erlaubt, das Verhalten von Versuchspersonen zu prognostizieren

In Verhaltensexperimenten sollten Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Richtung der präsentierten Eigenbewegung einschätzen.
Foto: Rolf Wegst
In Verhaltensexperimenten sollten Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Richtung der präsentierten Eigenbewegung einschätzen.

Gedankenlesen ohne Zauberei: Aus der bloßen Beobachtung der Gehirnaktivität haben Neurophysiker aus Marburg und Münster eine bislang unbekannte Sinnestäuschung vorhergesagt, die das Team anschließend in Verhaltensexperimenten nachwies. Demnach verzerrt sich die Wahrnehmung der eigenen Bewegungen, wenn sich die Augen blitzschnell bewegen. Die Wissenschaftler um Professor Dr. Frank Bremmer berichten in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Nature Communications“ über ihre Ergebnisse.

„Wir sind bei der Analyse neurophysiologischer Daten aus dem Tiermodell auf ein Phänomen gestoßen, das eine Reihe zusätzlicher Experimente veranlasste“, erklärt Studienleiter Frank Bremmer, der Neurophysik an der Philipps-Universität lehrt.

Üblicherweise untersuchen die Wissenschaftler, wie Nervenzellen aus bestimmten Regionen des Gehirns auf visuelle Reize reagieren, die den Betroffenen eine Bewegung durch den Raum vorspiegeln. Dass Sinnestäuschungen ausschnitthaft zeigen, wie Sinneseindrücke im Gehirn verarbeitet werden, weiß die Hirnforschung seit langem. „Hier gingen wir nun den umgekehrten Weg“, ergänzt Bremmers Mitarbeiter Dr. Jan Churan, der an der Studie mitgearbeitet hat: „Wir benutzten die elektrischen Signale der Nervenzellen, um zu rekonstruieren, welchen Bewegungseindruck die Betroffenen empfangen.“

Dieses sogenannte „Dekodieren“ gelang den Autoren zufolge meist sehr gut. „Wir haben ein Modell entwickelt, um aus der Entladung der Neuronen zu erkennen, welche Eigenbewegung die Betroffenen empfinden“, führt Bremmers Kollege Professor Dr. Markus Lappe von der Universität Münster aus, Mitverfasser der Studie.

Zu bestimmten Zeitpunkten wies das Dekodieren aber scheinbar einen Fehler auf. Diese Zeitpunkte waren immer identisch mit der Ausführung von schnellen Augenbewegungen – sogenannte Sakkaden, die Menschen im täglichen Leben häufiger ausführen, als ihr Herz schlägt. Die Daten deuteten darauf hin, dass sich die wahrgenommene Richtung der Eigenbewegung verschiebt, sofern die Probanden schnelle Augenbewegungen ausführen.

Die Wissenschaftler vermuteten, dass die bislang nicht bekannte Sinnestäuschung auch in unserer visuellen Wahrnehmung zu beobachten sein könnte. Um diese Hypothese zu überprüfen, führte das Team Verhaltensexperimente mit Versuchspersonen durch: Es präsentierte den Probanden eine Simulation, die einen Raum so zeigt, als würde man sich durch ihn hindurch bewegen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten die Richtung dieser vorgespiegelten Eigenbewegung einschätzen.

Wie vermutet, nahmen die Probanden die Richtung korrekt wahr, solange sie keine Sakkaden ausführten; in unmittelbarer zeitlicher Nähe der Sakkade hingegen nahmen sie die Richtung falsch wahr.

„Dies heißt aber nicht, dass wir zum Beispiel beim Autofahren keine schnellen Augenbewegungen mehr machen dürfen“, erläutert Lappe. „Dies wäre gar nicht möglich, weil Sakkaden meist wie ein Reflex auftreten. Vor allem aber beruht die Einschätzung unserer Eigenbewegung gar nicht nur auf Seheindrücken. Wir besitzen weitere Sinne, die uns über diese kurzen Momente der Sakkaden hinweghelfen, so dass wir uns sicher sein können, in welche Richtung unser Weg führt.“

Professor Dr. Frank Bremmer leitet die Arbeitsgruppe Neurophysik an der Philipps-Universität Marburg. Der Physiker amtiert als geschäftsführender Direktor des „Marburg Center for Mind, Brain and Behavior“ (MCMBB), ist Sprecher des Internationalen Graduiertenkollegs 1901 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Thema „The Brain in Action“ und gehört dem Vorstand des Sonderforschungsbereichs 135 der DFG zum Thema „Kardinale Mechanismen der Wahrnehmung“ an.

Der Physiker Professor Dr. Markus Lappe leitet die Arbeitseinheit für Allgemeine Psychologie und kognitive Neurowissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und amtiert als Koordinator des europäischen Forschungsprojekts "Platypus - Plasticity of perceptual space under sensorimotor interactions”, an dem auch Frank Bremmers Arbeitsgruppe beteiligt ist.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützte die Forschung, die der Studie zugrunde liegt, durch ihren Sonderforschungsbereich 135, einer Einrichtung des Forschungscampus Mittelhessen, sowie durch die überregionale Forschergruppe 1847„Primate Systems Neuroscience“.

Originalveröffentlichung: Frank Bremmer, Jan Churan & Markus Lappe: Heading representations in primates are compressed by saccades, Nature Communications 2017, DOI: 10.1038/s41467-017-01021-5

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