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Vortragsprogramm am Institut

Stand der Informationen: 13. April 2023

Wissenschaftshistorisches Kolloquium

Unser Wissenschaftshistorisches Kolloquium findet während des Semesters immer 14-tägig an einem Mittwoch ab 18.15 Uhr im Hörsaal des Institutes statt. Die Veranstaltung wird hybrid angeboten, so dass Sie ihr bei Interesse auch online folgen können. Den Link können Sie bei unseren Sekretärinnen in Erfahrung bringen.

Mittwoch, 19. April 2023
Prof. Dr. med. Philip Osten, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
"Human Remains in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Debatten um medizinische Ausbildung, NS-Medizin und koloniale Verbrechen"

  • Abstract

    Die Körper Verstorbener werden in Forschung und Unterricht genutzt. Gesellschaftlich akzeptiert war das zunächst nur für die sterblichen Überreste von Hingerichteten. Mit Beginn einer klinischen Untersuchung am Krankenbett, dem Aufstieg der Allgemeinen Krankenhäuser und mit der Akademisierung der Chirurgen-Ausbildung beginnt die Debatte über die Nutzung der Leichen verstorbener Patientinnen und Patienten. Einige Argumente dieser vor 200 Jahren geführten Auseinandersetzung überlagern bis heute die Diskussion über den Umgang mit menschlichen Präparaten. Der Vortrag schildert Probleme der Provenienzforschung zu Human Remains aus kolonialen Kontexten und Barrieren bei der Aufarbeitung von Sammlungs-beständen aus der Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel der Universität Hamburg.

Mittwoch, 3. Mai 2023
Prof. Dr. Sabine Hildebrandt, MD, Boston Children's Hospital, Harvard Medical School
"Anatomie im Nationalsozialismus und das Vienna Protocol – Vom Umgang mit materiellem und immateriellem historischem Erbe"

  • Abstract

    Die Anatomie gehörte zu den medizinischen Wissenschaften, die in der Zeit des Nationalsozialismus (NS) von den kriminellen Tätigkeiten des Regimes nicht nur profitierten, sondern sich aktiv daran beteiligten. Während jüdische und politisch oppositionelle Anatom*innen verfolgt und vertrieben wurden, trat die überwiegende Mehrzahl der verbliebenen der NSDAP aus Überzeugung oder Opportunismus bei (5% waren Frauen, und keine davon in führender Position). Fachlich profitierten Anatomen von der Nutzung der Leichen von NS-Opfern, insbesondere infolge Hinrichtungen, die in Lehre und Forschung eingesetzt wurden. Die folgende ethische Entgrenzung führte sogar zum Mord für anatomische Zwecke. Zum materiellen Erbe aus dieser Zeit gehören Gewebesammlungen, die sich noch lange nach dem Krieg in Instituten befanden und wahrscheinlich noch nicht alle gefunden wurden. Das immaterielle Erbe besteht aus Aufsätzen, Büchern und Atlanten, die auf den Arbeiten mit Leichen der NS-Opfer beruhen. Das Vienna Protocol von 2017 bietet Empfehlungen nicht nur zum Umgang mit den menschlichen Überresten von NS-Opfern, sondern auch mit den Daten und Bildern, die aufgrund der Arbeit mit ihnen entstanden sind. Im Gegensatz zu anderen bisherigen Richtlinien orientiert sich das Vienna Protocol wesentlich an jüdischer Medizinethik.

Mittwoch, 31. Mai 2023
Prof. Dr. David von Mayenburg, MA, Goethe-Universität Frankfurt am Main
"Eine 12jährige Raubmörderin zwischen Justiz und Medizin – zur Begutachtung der Schuldfähigkeit im Kaiserreich"

  • Abstract

    Am 7. Juli 1886 ermordete die erst 12 Jahre alte Marie Schneider ein dreijähriges Kind, um sich Geld für Süßigkeiten zu beschaffen. Dieser Mord führte seinerzeit zu ähnlich heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit wie vergleichbare Ereignisse der Gegenwart – und gleichzeitig auch zu ähnlichen Diskussionen in der Fachwelt. Die Frage, wie die Gesellschaft mit delinquierenden Kindern verfahren sollte, ob und wie diese überhaupt in der Lage sein konnten, strafrechtliche Schuld auf sich zu laden, wurde an verschiedenen Orten der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Der Vortrag möchte diesen Diskurs rekonstruieren, der vor allem entlang der Schnittstellen zwischen Medizin, Psychiatrie und Recht verlief. Die Auseinandersetzung war fundamental, denn sie betraf Fragen der Deutungshoheit, der Zuständigkeit, der institutionellen Organisation und des Zugangs zu Ressourcen im Umgang nicht nur mit delinquierenden Kindern, sondern mit devianten Menschen schlechthin. Mit seinem Urteil vom 14. Dezember 1886 im Fall Schneider wurde der Konflikt nur scheinbar zugunsten der Justiz entschieden und die prinzipielle Schuldfähigkeit auch dissozialer oder psychopathischer Personen mit Wirkung bis heute festgelegt. Ein näherer Blick auf den Fall und das Handeln der als Sachverständige, Anwälte und Richter beteiligten Mediziner und Strafjuristen zeigt aber ein differenzierteres Bild zweier verunsicherterer Disziplinen, die ihrerseits mit fundamentalen Auseinandersetzungen über ihre Selbstbeschreibung beschäftigt waren.

Mittwoch, 14. Juni 2023
Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff, Philipps-Universität Marburg
"Eine kurze Geschichte der Evidenzbasierten Medizin"

  • Abstract

    „Evidenzbasierte Medizin“ (EbM) steht für eine Orientierung und Begründung von Entscheidungen an den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen. Mit letzteren sind epidemiologische und klinische Studien gemeint, deren Ergebnisse unmittelbar patienten-relevant sind. Sowohl die Versorgung der einzelnen Patientin wie auch System-Entscheidungen, Leitlinien-Empfehlungen und Richtlinien sollten damit rational und belastbar werden. Dieser Anspruch gilt seit etwa 40 Jahren und hat das klinische Denken, die professionellen Diskurse und die Gesundheitssysteme tiefgreifend verändert. Der Vortragende reflektiert diese Entwicklungen als Mitwirkender, Zeitzeuge und retrospektiver Betrachter.

Mittwoch, 28. Juni 2023 in Zusammenarbeit mit der DPhG
Prof. Dr. Toine Pieters, Freudenthal Institut, Universität Utrecht
"Bio-based Pharmaceutical Innovation in The Netherlands (1880- 1970): Quinine, Cocaine and Morphine as historical case studies"

  • Abstract

    In this lecture prof. Toine Pieters (Utrecht University, The Netherlands) will describe the historical development of the production and distribution of three alkaloids (Quinine, Cocaine, Morphine), within the context of the Dutch colonial empire and post WOII Netherlands.
    Strongly driven by colonial economic ambitions, a high-quality and commercial kina and coca culture developed in the Dutch East Indies (present-day Indonesia). The Gouvernements' Kina company started building a colonial network of scientists, planters, state officials and trading companies during the last quarter of the nineteenth century. The emphasis within this network was on the improvement and standardization of the quality of the cinchona bark and the coca leaves by means of the laboratory as a quality control instrument. This approach ran parallel to the developments in the German pharmaceutical industry, where the laboratory was given an increasingly central role in the development and production of high-quality medicines. From the 1870s onwards, the German pharmaceutical industry dominated the international trade in quinine, quinine sulphate and cocaine and was leading in the founding of the international quinine and cocaine cartels.
    In the period 1910-1920 a power shift took place in these international cartels (historically the first pharmaceutical industry cartels) in favor of the Dutch East Indies cinchona and coca producers. This was part of the development of Dutch colonial agro-industrialism and a transoceanic trade network. Furthermore, the outbreak of the First World War led to an economic isolation of the German industry, causing the German pharmaceutical industry to lose control of the production and distribution chains. During the interwar period, the Dutch consolidated their dominance over the international cinchona and coca markets. The political and economic decolonization of Indonesia in the period 1947-1957 brought an abrupt end to this Dutch market dominance.
    After WWII the abundance of alkaloid technical know-how in the Netherlands was put to use for the industrial isolation of opium alkaloids. The refinements and scaling up of the extraction techniques and the availability of cheap opium rich Turkish poppy straw greatly increased yields. Legal morphine production in the Netherlands increased from approx. 1000 kg in 1951 to approximately 5800 kg in 1959, more than 5% of the total world production.
    I will argue that forementioned historical developments were part of a process of globalization of plant-based medicines production and distribution chains that were increasingly less associated with a specific nation than with multinational companies. Colonial networks of control were replaced by new industrial networks of control, and the colonial agro-industrial system was reconfigured into a global agro-industrial system.

    Toine Pieters is professor of the History of Pharmacy and Allied Sciences in both the Department of Pharmaceutical Sciences and the Freudenthal Institute (he is also acting Head of this Institute) and senior fellow of the Descartes Institute of the History and Philosophy of the Sciences and the Humanities. Toine Pieters has published extensively on the history of pharmacy and allied sciences, medical humanities, digital humanities and pharmacology (more than 75 peer reviewed publications). His broader interests include pharmaceutical policy analysis, drug and addiction research, neuropharmacology and mental health, leprosy research and the reuse of heritage resources. In all his research projects he specifically addresses complexity issues. He is also the principal investigator of the TimeCapsule project.

Mittwoch, 12. Juli 2023
PD Dr. Matthias Bähr, Technische Universität Dresden/Goethe-Universität Frankfurt am Main
"Totes Kapital? Die Ökonomie des Leichnams in der Frühen Neuzeit "

  • Abstract

    Von den Reliquien des Mittelalters über Mumien und Schädel bis hin zum Handel mit medizinischen Präparaten und Organen: Leichen und Leichenteile wurden im Lauf der Geschichte gesammelt, verkauft, ausgestellt und als begehrte Spekulationsobjekte fieberhaft gejagt. Bisher hat diese fundamentale Ökonomie des Leichnams in der historischen Forschung zur Frühen Neuzeit jedoch so gut wie keine Rolle gespielt. Im Vortrag stelle ich aktuelle Ergebnisse aus meinem DFG-Projekt ‚Totes Kapital‘ zur Diskussion und präsentiere am Beispiel des Leichen- und Schädelhandels Überlegungen zu einer Kulturgeschichte des Ökonomischen der Frühen Neuzeit.