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Pecuniäre Vortheile“ und Schärfung der „so nothwendigen Urtheilskraft“

Die Marburger Juristenfakultät als Spruchkollegium im 19. Jahrhundert

Foto Marburg/fmd492825
Georg Friedrich Carl Robert. Federzeichnung von Ferdinan Justi.

Am Weihnachtsabend des Jahres 1833 verstarb in Marburg der Geheime Regierungsrat und ordentliche Professor der Jurisprudenz Georg Robert, mehrfach Dekan und Rektor sowie seit 1815 Vizekanzler der Universität. In seinem Nachlass befanden sich 587 von ihm verfasste juristische „Relationen“ mit daraus abgeleiteten Urteilen für Gerichtsbehörden in verschieden deutschen Territorien. 556 davon waren vermutlich bereits zu zwölf stattlichen Bänden geheftet worden. Mit der Abfassung des 587. Gutachtens war Robert nicht mehr zu einem Ende gekommen. Es wurde von anderer Hand abgeschlossen.

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Auch diese 30 Gutachten wurden zu einem umfangreichen Band zusammengebunden und auf dem Buchrücken mit "G. F. C. Robert's Juristische Relationen Nro. 557-585, XIII, Eigenthum der Familie Robert" beschriftet. Dieser Band konnte unlängst vom Archiv der Philipps-Universität im Antiquariatshandel erworben werden (UniA MR 309/77 Nr. 1). Über den Verbleib der anderen Bände ist nichts bekannt.

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Die Fälle, die in den „Relationen“ verhandelt wurden, betrafen fast alle zivilrechtliche Streitigkeiten, aber auch ein Kindesmissbrauch ist darunter. Auftraggeber der Gutachten und Urteile waren Gerichtsbehörden in Hannover, Thüringen, Mecklenburg sowie der Stadt Frankfurt. Besonderes Interesse können die Frankfurter Verfahren beanspruchen, in denen Bankhäuser (Gontard) und jüdische Bürger als streitende Parteien auftreten (etwa die Ehescheidung der Jeanette Schönche Goldschmidt geb. Hahn von ihrem Mann Emanuel Goldschmidt).

Auch heute noch bezeichnet „Relation“ eine juristische Technik, um einen komplexen zivilrechtlichen Sachverhalt zu ordnen und zu einer Einschätzung zu gelangen. Nichts anderes geschieht in den Relationen Roberts. Sie gliedern sich formal in vier Teile:

1. Eine kurze Vorbemerkung, in der die streitenden Parteien und der Streitgegenstand benannt werden.

2. Die „geschichtliche“ Darstellung – also eine Schilderung des Hergangs.

3. Die juristische Würdigung des Sachverhalts und

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4. Ein im Namen des rechtsprechenden Gerichts ausformuliertes Urteil. Unter diesem findet sich die Unterschrift Roberts sowie Unterschrift und Expediatur-Vermerk des Dekans. Dieses Urteil wurde in Reinschrift im versiegelten Umschlag an das anfordernde Gericht versandt. Im Beisein der Parteien wurde dort das Siegel erbrochen und den Parteien der Rechtsspruch eröffnet.

Der erworbene Band ist eine ausgezeichnete Ergänzung der Bestände des Universitätsarchivs, denn in den Akten der Juristischen Fakultät finden wir zwar Angaben zu den eingesandten Akten und Abschriften der ergangenen Urteile, aber es fehlen die oben genannten ersten drei Bestandteile der Relationen. Mit Roberts Relationen erhalten wir nun ein genaueres Bild von der Spruchtätigkeit der Fakultät.

Aus heutiger Perspektive erscheint es befremdlich, dass nicht im Richteramt stehende Juraprofessoren an einer Universität als Instanz der Rechtsprechung wirkten. Wie konnte das sein?

Die Tätigkeit juristischer Fakultäten bei der Erstellung juristischer Gutachten bzw. der Formulierung von Urteilen für anfragende Gerichte ist für die frühe Neuzeit ein weithin bekanntes Phänomen. Für die Erforschung der Hexenprozesse des 15. und 16. Jahrhunderts sind sie eine wichtige und gern befragte Quellengattung. Die reichsgesetzliche Grundlage für das Institut der „Aktenversendung“ war dabei die Constitutio Criminalis Carolina, die „peinliche Halsgerichtsordnung“ Karls V. Sie bestimmte in ihrem 219. Artikel, dass Richter in Zweifelsfällen die Rechtsmeinung sachverständiger Stellen – darunter auch die Hohen Schulen – einholen konnten. Aus dieser Regel wurde bald nahezu Routine. Die Rechtsgelehrten der Universitäten bildeten regelrechte Spruchkollegien, die allein auf der Basis der Aktenlage Urteile fällten. Häufig nahmen sie dabei die Stelle einer Appellationsinstanz ein. In der Regel bestanden diese „Responsa“ genannten Gutachten aus einer Schilderung des zugrundeliegenden Sachverhalts, dessen rechtlicher Würdigung und einem abschließenden Urteil, das auch das Strafmaß vorgab. Die erstarkenden Landesherrschaften bemühten sich zunehmend, die Versendung von Akten über die eigenen Landesgrenzen hinaus zu unterbinden, aber die Praxis der Aktenversendung bestand fort. Sie hatte sogar ein außerordentlich langes Leben. Ein Beschluss der Bundesversammlung untersagte den Fakultäten zwar zum 1. Januar 1837 in Polizei- und Kriminalsachen tätig zu werden, aber es war das Gerichtsverfassungsgesetz des neuen Preußisch-Deutschen Reiches aus dem Jahr 1879, das ihr ein vollständiges Ende bereitete. Trotzdem gingen noch im Jahr 1882 die letzten Akten mit der Bitte um einen Urteilsspruch der Marburger Juristenfakultät an der Lahn ein.

Auf der Tätigkeit der Juristischen Fakultät als Spruchkollegium lag auch das Augenmerk der hessischen Landgrafen. Bereits Philipp der Großmütige hatte in den reformierten Statuten der Universität vom 14. Januar 1564 einen Passus der Spruchtätigkeit gewidmet. Es war ihm ein besonderes Anliegen, dass die Urteile „unserer Universitet nit zu schimpffe, sondern viel mehr zu ehren und ruff gereychen“ (abgedruckt bei Bruno Hildebrand, Urkundensammlung über die Verfassung und Verwaltung der Universität Marburg unter Philipp dem Großmüthigen, Marburg 1848).Bei Wiedergründung der Marburger Hohen Schule nach dem 30jährigen Krieg im Jahr 1653 war das sechste Kapitel der juristischen Fakultätsstatuten „de facultatis juridicae responsis“ das mit Abstand umfangreichste (abgedruckt bei Julius Caesar (ed.), Academiae Marpurgensis privilegia, leges generales et statuta facultatum specialia anno MDCLIII promulgata, Marburg 1868, S. 42ff.). Auch in der Folgezeit geriet die Spruchtätigkeit der Fakultät immer wieder in den Blick der landesherrlichen Räte in Kassel. Anlass waren dabei gelegentlich Beschwerden von Gerichten, die all zulange auf die Rücksendung ihrer Akten und das Marburger Urteil warten mussten. Am 5. Mai 1786 sah sich der Landesherr im Zusammenhang mit anderen Streitigkeiten in der Fakultät genötigt, „denen schädlichen Gebrechen bey der Juristen Facultät unserer Universität Marburg gründlich abzuhelfen“.

Das dazu erlassene Regulativ bestimmte u.a., dass alle eingesandten Akten in ein Register eingetragen werden sollten. Unmittelbar nach der Eintragung sollten die Akten der zu entscheidenden Fälle vom Dekan den „Facultisten“ (d.h. den Professoren der Fakultät) in der Reihenfolge ihrer Ancienität zugewiesen werden. Alle vierzehn Tage sollte samstags im Haus des Dekans eine Versammlung der juristischen Professoren stattfinden. Bisher war es so, dass der jeweilige Fall vom Referenten in der Runde mündlich vorgetragen wurde. Anschließend hatte dieser allein das Urteil formuliert. Diese Praxis wurde nun ausdrücklich untersagt. In Zukunft sollte erst dann vorgetragen werden, wenn das Rechtsgutachten oder Urteil „cum meritis causae, auch Zweifels- und Entscheidungsgründen vollständig geschehen“ sei. Außerdem war vorgesehen, immer zeitgleich mit dem Referenten einen Korreferenten zu bestellen. Sollten beide in ihren Einschätzungen voneinander abweichen, sah das Regulativ vor, die Akten allen anderen Kollegen zu zuleiten. Diese sollten dann ebenfalls votieren. Bei Unstimmigkeiten entschied die Mehrheit, kam es zu einem Gleichstand der Stimmen, gab die Stimme des Dekans den Ausschlag. Allerdings wurde den Juristen eingeschärft, „sich keiner eigensinnigen Singularität schuldig zu machen.“ (UniA MR 307b Nr. 62)

Angeordnet war zudem, vierteljährlich einen Bericht nach Kassel einzusenden, in dem alle behandelten Fälle und die jeweiligen Referenten aufgeführt werden mussten. Außerdem sollten Abschriften aller „Fakultätsurteile mit den Zweifels- und Entscheidungsgründen“ von der Fakultät aufgehoben werden.

Allerdings war in diesem Fall das Papier geduldig. Am 17. März 1836 fragte das Ministerium des Innern bei der Fakultät an, ob die 14tägigen Sitzungen des Spruchkollegiums, die das Regulativ von 1786 vorgeschrieben hatte, abgehalten würden. Der Dekan des Jahres 1836, Professor Jordan, meinte sich zu erinnern, dass die Sitzungen „schon längst – gewiss seit 30 bis 40 Jahren – durch die an deren Stelle getretenen, weit zweckmäßigeren schriftlichen Deliberationen verdrängt worden“ sei. Das Ministerium konnte sich dieser Sicht allerdings nicht anschließen und ordnete die Abhaltung regelmäßiger Sitzungen am 5. Mai 1836 wieder an. Ein langanhaltender Erfolg war dieser Aufforderung aber wohl nicht beschieden. (UniA MR 307b Nr. 81)

Das Interesse des Landesherren an der Tätigkeit der Fakultät als Spruchkollegium hatte bereits Philipp der Großmütige auf den Punkt gebracht: Vermehrung von Ehre und Ruf.

Das Interesse der Fakultät benannte 1831 der Syndikus der Universität, Dr. Spangenberg, in einem Brief an Rektor und Dekan, in dem er sich um den zahlenmäßigen Rückgang der eingehenden Fälle sorgte:

„Wenn gleich das Bearbeiten praktischer Rechtsfälle für einen akademischen Docenten oft zeitraubend, und insofern der Wissenschaft selbst hinderlich seyn mag, so gewährt sie doch auf der anderen Seite nicht blos pecuniäre Vortheile, sondern schärft auch die dem Juristen so nothwendige Urtheilskraft, und kann ebenfalls dem Theoretiker hin und wieder instructiv seyn.“ (UniA MR 307b Nr. 80)

Literatur:

Artikel "Actenversendung", in: Karl von Rotteck, Karl Welcker, Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 1, 3. Aufl. Leipzig 1856, S. 160ff.

Artikel "Aktenversendung", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 1,  Sp. 128-132