Hauptinhalt

Die akademische Gerichtsbarkeit und der Karzer

Innenansicht des Karzers zum Fenster hin.
Foto: Heike Heuser

Der studentische Karzer ist ein Relikt der akademischen Gerichtsbarkeit. Die in ihm sichtbare Disziplinargewalt der Universität hat ihre Wurzeln in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vergangenheit der Institution. Universitäten waren privilegierte Körperschaften mit eigenen Rechten und Freiheiten. Sie waren für ihre Angehörigen – Professoren und Studenten – auch Gerichtsstand. Für alle Rechtsfälle unterhalb der Kapitalverbrechen war der Rektor Gerichtsherr. Wollte ein Stadtbürger gegen einen Studenten Klage führen, so musste er damit vor den Rektor der Universität ziehen. Der Rektor fällte dann ein Urteil und konnte auch Geld- oder Freiheitsstrafen verhängen. Der moderne Staat verringerte im Rahmen der Normierung und Rechtsvereinheitlichung solche Sonderrechte immer mehr. Mit dem Inkrafttreten des preußischen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar 1877 wurde die Privatgerichtsbarkeit und Ausnahmegerichte – darunter fiel die universitäre Gerichtsbarkeit – aufgehoben. Damit war von der weitgehenden richterlichen Gewalt des Rektors nur mehr die Disziplinaraufsicht über die Studenten übrig geblieben. Die schärfste Waffe der Universitätsspitze stellte nun die Relegation dar, also die Entfernung von der Universität, die allerdings sehr selten angewandt wurde. Unterhalb davon stand die Freiheitsstrafe: der Karzer. Allerdings war eine Strafe von mehr als 14 Tagen Karzerhaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr möglich. Typische Konfliktfelder in den Universitätsstädten, die zu Karzerstrafen führen konnten, waren gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Studenten oder Studenten und städtischem Wachpersonal, nächtliche Ruhestörungen, das Einwerfen von Fensterscheiben und das Duellwesen. Viele Studenten hatten zudem Schulden, u. a. bei ihren Vermietern. Vor 1879 diente für diese Fälle der Schuldenkarzer, aus dem der Student erst nach der Begleichung aller Schulden wieder herauskam. Dazu kamen die inzwischen nicht mehr recht nachzuvollziehenden Fälle von Beleidigungen.

Der heute noch existierende Marburger Karzer wurde im Jahr 1879 im Dachgeschoss des Südflügels der Alten Universität eingerichtet, eine zufällige zeitliche Koinzidenz der Fertigstellung dieses Gebäudeteils mit dem Erlass des o. g. Gesetzes. Er knüpfte bereits an eine Reihe vorangegangener universitärer Arrestlokale an, die in Marburg seit dem 17. Jahrhundert in der schriftlichen Überlieferung nachweisbar sind. Im Vorgängerbau des Gebäudes gab es mehrere Arrestlokale, außerdem im Gebäudekomplex Am Plan, und zwar sowohl in dem sogenannten Seminargebäude, in dem die Stipendiaten bis 1811 untergebracht waren, als auch im Reithaus. Wegen des Abrisses des ehemaligen Dominikanerklosters und des Neubaus der Alten Universität zog der Karzer 1872 in das Reithaus und 1879 wieder zurück. Der Karzer war innerhalb der Hausmeisterwohnung dieses Gebäudes untergebracht; der Hausmeister war somit zugleich der Karzerwärter. Der Karzer war und ist deshalb schwer zugänglich. Jetzt ist die Wohnung für die Unterbringung des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart hergerichtet worden. Er ist der letzte von mehreren als Karzer genutzten Räumen in Marburg, der noch als solcher erhalten ist, und der einzige studentische Karzer in Hessen. Die Wände des Karzers sind, wie andernorts auch, mit Bemalungen der Insassen verziert. An Motiven finden sich neben Korporationsinsignien Bilder und Inschriften, die sich auf die zu der Verurteilung führenden Delikte, Auszüge aus Studentenliedernbeziehen u. ä. beziehen.

Anhand zweier unscheinbarer Bände, dem offiziell geführten Karzerbuch und einem im Karzer ausliegenden Buch, in das sich die Karzerbewohner selbst eintrugen, lässt sich die Belegung verfolgen: Nach reger Frequenz saß im Jahr 1907 der zunächst letzte Student ein. 17 Jahre später griff die Universität dann wieder auf den Karzer als Instrument der Disziplinierung zurück. Ab 1929 gab es dann mehrere Fälle von Karzerstrafen, obwohl dies nicht mehr als zeitgemäß angesehen wurde, 1931 wandelte sich der Karzer endgültig vom Arrestlokal zur lokalen Sehenswürdigkeit. Der Aufenthalt im Karzer gehörte für manche Studenten zudem zu einem „richtigen“ Universitätsstudium. Der Anteil der Verbindungsstudenten, die Farben und Zeichen ihrer Verbindungen zahlreich an den Wänden des Karzers hinterlassen haben, war in Marburg vergleichsweise hoch. Der Karzer ist nichtsdestotrotz vor allem ein Objekt der Universitätsgeschichte und des studentischen Alltags um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, dessen bemalte Wände interessante Einblicke in die Konflikte der damaligen Zeit geben.

Katharina Schaal

Literatur:

Hans Günther Bickert, Norbert Nail, Marburger Karzer-Buch. Kleine Kulturgeschichte des Universitätsgefängnisses, 3. Auflage Marburg 2013

Norbert Nail, Heike Heuser, Der Marburger Universitätskarzer, 9 Postkarten mit Beschreibung in einer Mappe, Marburg 2003