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Der deutsche Botschafter in Tunesien zu Gast am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der Philipps Universität Marburg

Dr. Andreas Reinicke referierte am Donnerstag den 10.12.2015 im Hörsaal des Centrums für Nah- und Mittelost-Studien zum Thema „Tunesien: 5 Jahre nach der Revolution“.

Die deutsche mediale Öffentlichkeit zeichnet das Bild einer Region des Mittleren Ostens und Nordafrikas, die in Chaos versinkt. Gescheiterte Staaten und Bürgerkriege wie der stetig präsente Konflikt in Syrien erscheinen als Resultat der „arabischen Revolutionen“ seit Ende 2010.

Vor diesem Hintergrund wird klar, wie außergewöhnlich der Transformationsprozess in Tunesien ist, dem Land in dem im Dezember 2010 die Umbrüche in der arabischen Welt begannen. Dies gilt auch für die deutsche Außenpolitik, die seit einiger Zeit neue Wege in der Region zu gehen scheint und ihren Einfluss in Nordafrika ausweitet. Dadurch bot sich Deutschland, das die demokratische Transformation in Tunesien von Anfang an unterstützend begleitete, die Chance, seinen Einfluss in Nordafrika zu erweitern.

Dr. Andreas Reinicke, deutscher Botschafter in Tunesien, fokussierte sich in seinem Vortrag auf die Besonderheiten der tunesischen Gesellschaft, sprach aber auch über Stolpersteine und führte dem interessierten Zuhörer die Komplexität der Umstrukturierung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche vor Augen, die durch die deutsche Außenpolitik unterstützend begleitet wird.

Im Zentrum des Transformationsprozesses steht der demokratische Umbau einer gesamten Gesellschaft von einer autoritären vertikalen Struktur, die alle Bereiche durchzieht, zu einer demokratischen Gesellschaft, in der das Volk über demokratische Wahlen und andere Formen der Mitbestimmung in Entscheidungen eingebunden ist.

Demokratie entsteht nicht von einem auf den anderen Tag, sondern muss von der gesamten Gesellschaft erlernt werden. Das erklärte Dr. Reinicke an vielen Beispielen aus seiner Praxis. Problematisch sei die fehlende demokratische Organisation der tunesischen Parteien. Diese sind intern meist autokratisch strukturiert, es gibt keine Statuten, keine Parteitage und kein Parteiengesetz. Außerdem müsse die tunesische Bürokratie reformiert werden. Ein wichtiges Projekt, das von Deutschland unterstützt wird, sei eine „École de bonne gouvernance“, eine Verwaltungsschule, in der führende Beamte lernen, ihre Behörden transparent und inklusiv zu leiten.

Eine der Unterstützungsmaßnahmen deutscher Politik, auf die Botschafter Reinicke verwies, ist ein Erfahrungsaustausch von Parlamentariern, bei dem tunesische Politiker Abläufe und Strukturen demokratischer Institutionen in Deutschland kennenlernen. Die Bundesrepublik Deutschland kann hier auf ihre eigenen Erfahrungen aufbauen, da auch Deutschland sowohl nach dem zweiten Weltkrieg und wie auch nach dem Ende der SED-Diktatur die komplexe Umstrukturierung autoritärer Gesellschaften meistern musste.

Zudem benannte Dr. Reinicke Dezentralisierung als Voraussetzung für eine demokratische, funktionale Gesellschaft. Die Zerschlagung von Monopolen sei von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der staatlichen und gesellschaftlichen Transformation. Des Weiteren schrieb der Botschafter den Unternehmern und Gewerkschaften eine besondere Rolle zu, die sich bei der Produktentwicklung und der Behandlung ihrer Mitarbeiter weiterentwickeln müssten. Dr. Reinicke betonte in diesem Zusammenhang, dass Unternehmer und Arbeitnehmer gemeinsam die neue Struktur der Unternehmen ausgestalten müssten.

Auch das Erziehungswesen, die berufliche Bildung und die Medien müssten im Interesse einer erfolgreichen Transformation dringend verbessert, die Rolle von Frauen gestärkt werden. Bei religiösen Debatten und der Reform des religiösen Diskurses sollten ausländische und vor allem christliche Gesellschaften jedoch  Zurückhaltung üben. Diese Debatte sollte die tunesische Gesellschaft allein führen.

Der Botschafter resümierte, dass die deutsch-tunesischen Beziehungen ein Beispiel für sowohl Werte- als auch Interessen-geleitete Außenpolitik sei. Er betonte, dass Deutschland zwar unterstützend auf den Transformationsprozess einwirken könne, es allerdings allein der tunesischen Gesellschaft obliege, diesen Prozess erfolgreich zu vollziehen.

Der Vortrag des Botschafters erwies sich als spannende Darstellung des komplexen tunesischen Transformationsprozesses und ging in eine informative Diskussion über.

Der Vortrag wurde von dem Projekt mit dem Titel „Islamisten im regionalen Transformationsprozess: Dialog und Dokumentation“ und dem „Forschungsnetzwerk Re-Konfigurationen“ am CNMS organisiert. Geleitet wurde die Veranstaltung vom wissenschaftlichen Mitarbeiter am CNMS, Julius Dihstelhoff.

Verfasst von Philipp Hofmann - Studentische Hilfskraft am Fachgebiet Politik des Nahen und Mittleren Ostens