19.01.2024 Film mit Einführung am 01.02.2024 im Capitol Marburg: Kaddisch nach einem Lebenden (1969) von Karl Fruchtmann

Donnerstag 01.02.2024 19.00 Uhr im Capitol Marburg

Erinnerung und Vergegenwärtigung

Kaddisch nach einem Lebenden (1969) von Karl Fruchtmann

Ein herausragender, aber völlig vergessener Fernsehfilm über die Schreckenserfahrung  der nationalsozialistischen Konzentrationslager

Vorgestellt von: Karl Prümm (Prof. Dr. em. für Literatur- und Medienwissenschaft, Philipps-Universität Marburg)

Eine Veranstaltung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Verbindung mit dem Arbeitskreis Landsynagoge Roth e.V., anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27.01.

Eintritt frei!

Zum Inhalt:

Der Autor und Regisseur Karl Fruchtmann (1915 –2003) hat Terror und Gewalt der Nationalsozialisten am eigenen Leib erfahren. Unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 waren er und seine jüdische Familie, die in der sächsischen Kleinstadt Meuselwitz ein Kaufhaus betrieb, Drangsalierung und Verfolgung ausgesetzt. Mit perfiden Methoden wurde die Familie ihres Vermögens beraubt. Bevor Karl Fruchtmann 1937 nach Palästina emigrierte, war er beinahe ein Jahr in den Konzentrationslagern Sachsenburg und Dachau inhaftiert. 1958 kehrte er in die Bundesrepublik zurück und realisierte zwischen 1961 und 1999 an die 50 Fernsehfilme, darunter zahlreiche Sendungen, die sich intensiv mit der Ermordung der europäischen Juden auseinandersetzen. Karl Fruchtmann ist ohne Zweifel der wichtigste Dokumentarist und Erzähler des Holocaust im deutschen Fernsehen. Und dennoch ist er heute unbegreiflicherweise völlig vergessen.

Kaddisch nach einem Lebenden (1969) ist sein persönlichster Film. Die Hauptfigur Peri, ein Überlebender der deutschen Konzentrationslager, ist als sein Alter Ego angelegt. Ort des Geschehens ist das Tel Aviv der Gegenwart. Der Film konzentriert sich ganz auf die jüdischen Opfer. Terror und Gewalt der Lager werden ausschließlich in Erinnerungs- und Vorstellungsbildern dargestellt, die zunächst als Erinnerungsfragmente, als kurze Flashbacks in der Alltagswahrnehmung Peris aufblitzen, der sich der lebendigen Gegenwart Tel Avivs scheinbar ganz unbeschwert hingibt. Doch das bislang Verdrängte bemächtigt sich Schritt für Schritt der Gegenwart. Erst im Prozess der Erinnerung wird Peri schließlich das ganze Ausmaß der Entmenschlichung und des Leidens der Konzentrationslager bewusst. Um zu diesem Erkennen zu gelangen, muss Peri, der glücklich Davongekommene, ganz von sich absehen und die Erinnerung auf den von allen ausgelachten Außenseiter, auf den Mithäftling Johannes Bach lenken, der danach als eigentlicher Protagonist des Films, als standhafter Märtyrer und  Symbolfigur des Holocaust erscheint. Dieser radikale Erinnerungsfilm zeigt zudem den jüdischen Alltag in Israel präzise und detailreich – eine absolute Seltenheit im deutschen Fernsehen. 

In seinen ästhetischen Mitteln ist Kaddisch nach einem Lebenden absolut auf der Höhe der Zeit. Der Film schließt sich den revolutionären Darstellungsformen der Nouvelle Vague an und adaptiert gleichzeitig das epische Theater von Bertolt Brecht. Die experimentellen Formen verbindet er mit emotionaler Wirksamkeit. Angesichts des gerade neu entfachten Antisemitismus und der Wiederkehr einer rassistisch motivierten Gewalt ist dieses eindrucksvolle Dokument der Erinnerungskultur von brennender Aktualität.

 Zum Film:

Kaddisch nach einem Lebenden. Buch und Regie: Karl Fruchtmann. Kamera: Günther Wedekind. Szenenbild: Herbert Kirchhoff. Schnitt: Ingeburg Forth. Darsteller: Günter Mack, Rudolf Wessely, Zalman Lebiush. Produktion: Radio Bremen. Erstsendung: ARD 28.01.1969

Bild: Dreharbeiten in Tel Aviv im Frühjahr 1968. Foto: Akademie der Künste Berlin.

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