16.12.2025 Nachruf: Prof. Dr. Hartmut Lüdtke
Nachruf für Hartmut Lüdtke
Wir trauern um Hartmut Lüdtke, der am 28.11.2025 in Marburg 87-jährig nach einer kurzen schweren Krankheit verstorben ist. Als Professor für Empirische Soziologie war er von 1983 bis 2005 am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg aktiv. Seine intellektuelle Entwicklung und sein Wirken als Hochschullehrer sind in die Zeitgeschichte hineingewoben, an der er rege Anteil nahm und die er variantenreich und humorvoll-charmant soziologisch zu reflektieren vermochte.
Geboren am 25.05.1938 in Zinna bei Torgau, nahm er aus seiner frühen Kindheit nicht nur glückliche Erfahrungen mit auf seinen Lebensweg. Der frühe Verlust seiner Mutter brachte seinen Bruder und ihn in den von Bombardements zerstörten Berliner Stadtteil Charlottenburg, wo sein Großvater mütterlicherseits Bahnhofswärter war. Das Spielen in Bombentrichtern und die sich am Himmel rot abzeichnenden Flammen des brennenden Potsdams in den letzten Kriegstagen gehörten zu prägenden Erinnerungen. Ebenso beschäftigte ihn die Frage, inwieweit sein Vater, der ziviler leitender Mitarbeiter in der Rüstungsindustrie war, an Zwangsarbeitern schuldig geworden war.
Die frühe Nachkriegszeit verbrachte er in Niedersachsen, wo er nach dem Abschluss der Realschule und einer kaufmännischen Lehre in der Industrie über den zweiten Bildungsweg die allgemeine Hochschulreife erlangte. Er studierte an der Universität Hamburg und an der Freien Universität Berlin Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Erziehungswissenschaft. Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung, die – abgesichert mit statistischen Prüfverfahren – für die Gestaltung und Entwicklung zeitgenössischer Gesellschaften solide Grundlagen erarbeiten kann, hat er früh erkannt und seine Kenntnisse in verschiedene Assistenten- und Forschungstätigkeiten eingebracht. Zu seinen eindrücklichsten Erinnerungen gehörte die Mitarbeit in der Wissenschaftlichen Beratungskommission beim Senat von Berlin und an den „Studien zur Lage und Entwicklung Westberlins“, eines 1968 veröffentlichten Gutachtens, das politischen Entscheidern Unterstützung bei der Bewältigung der Strukturprobleme dieser Stadt bieten sollte. Den Auftrag für das Gutachten hatte der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz erteilt, der aber bald danach – im Zuge der Debatte über die Ereignisse, die zur Erschießung Benno Ohnesorgs geführt haben, – zurücktrat. Dass der neue Senat der Kommission und ihrem Gutachten keine größere Bedeutung zuschrieb, desillusionierte den jungen Wissenschaftler hinsichtlich der Chancen von wissenschaftlicher Politikberatung.
In den folgenden Jahren entwickelte er sein wissenschaftliches Profil im Schnittfeld von empirischer Sozialforschung und pädagogisch relevanten Arbeitsfeldern. Ende der 1960er Jahre ging er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Forschungsstelle der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Hier promovierte er 1970 zum Dr. phil. und wurde dann Referent für Empirische Sozialforschung. Zugleich übernahm er Lehraufträge an der Universität Hamburg. Er publizierte v.a. zur Freizeit- und Jugendsoziologie, aber auch zur Methodenlehre. Sein mit Jürgen Friedrich verfasstes Buch „Teilnehmende Beobachtung. Einführung in die sozialwissenschaftliche Feldforschung“ wurde zu einer Standard-Referenz. Seine Studie zur „Freizeit in der Industriegesellschaft“, ursprünglich als Lehr- und Lernmaterial für die verschiedensten Bereiche der politischen Bildung konzipiert, 1973 als Buch veröffentlicht, erreichte eine breite Leserschaft. Bekannt wurde ebenfalls der von ihm herausgegebene und eingeleitete Band „Erzieher ohne Status?“, der auf strukturelle Probleme pädagogischer Berufe aufmerksam machte.
Mit diesem Profil wurde Hartmut Lüdtke 1976 auf eine in den Erziehungswissenschaften angesiedelte Professur an der Universität Hannover berufen. 1983 wechselte er dann an das Institut für Soziologie in Marburg auf eine der neu eingerichteten Professuren, welche andere, v.a. empirisch-evidenzbasierte Akzente in einen durch die marxistische Marburger Schule geprägten Fachbereich einbringen sollte. Meinungsfreudig und ohne Konfliktaversionen, aber stets menschlich zugänglich, entwickelte Lüdtke seine Themen weiter. Marburg wurde zu seinem beruflichen und privaten Lebensmittelpunkt. Er engagierte sich für Stadtentwicklung und Kultur. An der Universität fungierte er als Dekan (1988/89 und 1997/98) sowie als Prodekan (2001-2003) des Fachbereichs „Gesellschaftswissenschaften und Philosophie“. Wissenschaftlich brachte er sich in die in den 1980ern aufkommende Diskussion über neue soziale Ungleichheiten und die Konzepte der Sozialstrukturanalyse ein. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Klassen- und Schichtmodelle die komplexen Verhältnisse zeitgenössischer Gesellschaften nicht mehr adäquat erfassen, begann er – Impulsen von Pierre Bourdieu folgend –, den Begriff des Lebensstils systematisch als ein nicht-deterministisches analytisches Konzept auszuarbeiten, das struktur- und handlungstheoretische Perspektiven verknüpft. In seinem Arbeitsbereich wurde dieses Konzept in einer ganzen Reihe von Projekten ausbuchstabiert. Geforscht wurde zu Fragen der Freizeit, der Jugend, des Alters, des Wohnens, der Technik und der Natur-Gesellschaft-Beziehungen. Mit der Lebensstilforschung verknüpft, aber durchaus als eigenständige Forschungsschwerpunkte entwickelte Lüdtke seine Arbeiten zur Soziologie der Zeit und des Raumes. Am Beispiel studentischen Lebens und Arbeitens erprobte er die Tauglichkeit des Konzeptes temporaler Muster für die empirische Forschung.
Als Hochschullehrer war ihm die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ein Anliegen. Er wirkte als aktiver Unterstützer von Projekten, die nicht im Zentrum seiner Interessen lagen, deren Qualität und Innovationskraft er aber hoch einschätzte. In Gesprächen brachte er sich gerne auch mit seiner ausgeprägten Fähigkeit ein, Widersinniges aufzuspüren, Absurditäten zu thematisieren und sich selbstironisch zu betrachten. Studierende markierten seine detail- und assoziationsreichen Beiträge in Lehrveranstaltungen und persönlichen Beratungsgesprächen als „legendär“. Stieß man beim Verfassen gemeinsamer Texte auf Dissens in sozialtheoretischen Annahmen, war er gerne bereit, Lösungen im Praktischen zu finden. Missionarische Attitüden lagen ihm fern.
Mit ihm verlieren wir einen Gesprächspartner, an dem wir uns immer wieder ausrichten konnten und dessen Freundschaft uns weit über seine akademischen Impulse hinaus bereichert hat.
Jens Jetzkowitz, Jörg Schneider, Timofey Agarin