28.10.2019 Schnipsel, Schätze oder beides?

Das Akademieprojekt "Handschriftencensus" bereitet zehntausende deutschsprachige Handschriften und Fragmente in einer Online-Datenbank auf

Ein Streifen Pergament, der einen Textausschnitt des "Rosendorn"-Gedichtes enthält
Foto: Stift Melk
Um solche Schnipsel geht es: Fragmente wie das erst kürzlich in der Stiftsbibliothek Melk identifizierte Stück Pergament mit einem Teil des "Rosendorn"-Gedichts liefern neue Erkenntnisse über die mittelalterlichen Menschen, ihre Ansichten und ihre Denkweise

Nach einer Mammutaufgabe klingt das Ziel, dem sich das von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz getragene Akademieprojekt "Handschriftencensus" verschrieben hat: Während der Laufzeit von rund 20 Jahren sollen sämtliche erhaltenen deutschsprachigen Handschriften und Fragmente des Mittelalters systematisch untersucht und digital erfasst werden. Dafür wird das Projekt von Bund und Ländern mit 6,5 Millionen Euro finanziert.

Seit nunmehr zwei Jahren arbeiten Prof. Dr. Nathanael Busch und Prof. Dr. Jürgen Wolf vom Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters der Philipps-Universität gemeinsam mit ihrem Team an diesem gewaltig-gewichtigen Vorhaben. Es geht dabei um etwa 26.000 Schriftstücke und -stückchen, die in rund 1.500 verschiedenen Bibliotheken, Klöstern, Kirchen, Museen oder privaten Nachlässen verteilt liegen.

"Eigentlich untersuchen wir vor allem Müll", beschreibt Jürgen Wolf das Projekt mit einem Augenzwinkern. Der Grund: Viele mittelalterliche Texte erschienen den späteren Menschen nach einiger Zeit unmodern und veraltet. Da sie jedoch in der Regel auf wertvollem Pergament verewigt worden waren, wurden sie nicht entsorgt, sondern das Pergament wurde zerschnitten und recycelt – als Briefkuverts, Buchdeckel oder sogar als Abdichtung für Orgelpfeifen. Auch den großen Texten aus der höfischen Blütezeit blieb dieses Schicksal nicht erspart. Die Werke der Dichter Wolfram von Eschenbach, Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg, selbst das Nibelungenlied liegen teilweise ausschließlich in Schnipseln vor.

Zudem wurden im Zuge der Reformation zahlreiche Handschriften gezielt vernichtet. Viele Texte galten an den Höfen jetzt als anrüchtig, thematisch drehte es sich dort um die zeitlosen Verkaufsschlager: Sex und Crime. Die neuen Ordnungshüter zerstörten die Textzeugen, um das "verlotterte Leben" richtigzustellen, erklärt Jürgen Wolf. Nathanael Busch ergänzt: "Bei manchen Texten ist es wirklich sehr schade, dass uns da so viel fehlt. Wären sie vollständig, dann könnten es großartige Klassiker sein."

Erschwerend komme hinzu, dass viele Fragmente über die ganze Welt verteilt seien, berichtet Busch. Allerdings hat sich der "Handschriftencensus" in der Wissenschaft herumgesprochen, und so bekommen die Forscher mittlerweile von überall digital aufbereitete Texte und Fragmente zugeschickt.

Beide sind bei ihrer Arbeit auch nach vielen Jahren immer wieder überrascht, was die Menschen des Mittelalters schon wussten und welche Vorstellungen sie hatten. So seien bereits viele Heilpflanzen und deren Wirkung auf den Menschen bekannt gewesen. Eher ungewöhnlich sei es allerdings, dass die Mediziner damals glaubten, alles vom Geier sei für die Menschen gesundheitlich sehr wertvoll.

Ansprechpersonen:

Prof. Dr. Nathanael Busch
Projektleiter Handschriftencensus
Philipps-Universität Marburg
E-Mail:

Prof. Dr. Jürgen Wolf
Projektleiter Handschriftencensus
Philipps-Universität Marburg
E-Mail: