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Projekt B1 - Sprachliche Repräsentationen in der prosodischen Verarbeitung

PI: Prof. Dr. Ulrike Domahs, Prof. Dr. Christina Kauschke, Prof. Dr. Mathias Scharinger
Promovierende/r: Jonas Gerards

Forschungskontext

Laut rezenten Theorien in der Kognitionswissenschaft ist die Vorhersage von bevorstehenden Zuständen der Innen- und Außenwelt zentral für die Funktionsweise des Gehirns („Predictive Processing“, Hohwy, 2020; Clark, 2013). Auch in der Sprachverarbeitung spielen Vorhersagen eine Rolle (Kamide, 2008). Dabei enthält gesprochene Sprache neben segmentaler und kontextueller Information auch suprasegmentale Informationen, die abhängig von der Zielsprache Bedeutungsunterschiede konstituieren können, vor allem aber eine Rolle für die Markierung von Verarbeitungseinheiten des Sprachsignals in der Segmentierung und dem Parsing spielen. Kortikale Basis für die konzertierte Verarbeitung von Informationen sind neuronale Oszillationen, die wiederum verschiedentlich mit Sprachverarbeitung in Verbindung gebracht werden (Buszaki & Vöröslakos, 2023; Meyer, 2018). Suprasegmentale Information ist dabei nicht nur relevant für größere linguistische Einheiten, sondern spielt bereits bei der Verarbeitung von einzelnen Wörtern eine Rolle (für den Erwerb siehe Höhle et al., 2009) . Prosodische Kompetenz in der L1 hat dabei auch Auswirkung auf die Verarbeitung suprasegmentaler Information in der L2 (Mennen & De Leeuw, 2014).

Aktuelles Promotionsprojekt

In einem ersten Teil des laufenden Promotionsprojekt soll eine Eyetracking-Studie von Jesse et al. (2017) mit deutschen L2-Lernenden des Englischen adaptiert und der Einfluss der L1 auf die wortprosodischen L2-Repräsentationen untersucht werden. In diesem Experiment werden englische, polysyllabische Wörter romanischen Ursprungspräsentiert und deren Verarbeitung mittels kombiniertem Eyetracking und EEG untersucht. Dies ermöglicht nicht nur die Erhebung von Orientierungszeiten hin zum korrekten Wort, sondern auch eine exploratorische Erfassung der neuronalen Wortverarbeitungsunterschiede auf Basis oszillatorischer Phänomene. 

Ziele

Ziel des Projekts ist die Untersuchung der neuronalen Modifikation prosodischer Repräsentationen im L2-Erwerb. Diese Ergebnisse sollen auch mit bestehenden Befunden aus dem Erstpracherwerb verglichen werden. 

Methoden

Das Projekt bedient sich neuro- und psycholinguistischer Methoden, um einen naturwissenschaftlichen Zugang zu sprachlichen Repräsentationen zu erlangen. Dabei ist Eyetracking eine psycholinguistische Methode, deren Nutzen vor allem in der Untersuchung von unbewussten und antizipatorischen Verarbeitungsprozessen liegt (Kamide, 2008). Die zentrale neurolinguistische Methode des Projekts ist die Elektroenzephalographie (EEG). Durch die Aufnahme von summierten postsynaptischen Potenzialen an der Kopfhaut erlaubt EEG Rückschlüsse auf die Aktivität neuronaler Populationen im Gehirn. Die hohe zeitliche Auflösung der Methode erlaubt nicht nur eine kleinschrittige Identifikation von Korrelaten im Laufe des Sprachverstehens, sondern auch die Analyse von charakteristischen Oszillationen. Durch letztere lässt sich synchrone Kommunikation von Neuronen nachweisen, die für die Sprachverarbeitung relevant sind (Buszaki & Vöröslakos, 2023; Meyer, 2018). Zusätzlich sind datengetriebene Auswertungen möglich, wie die multivariate Musteranalyse (“multivariate pattern analysis”, MVPA), die zu einer Repräsentationsähnlichkeitsanalyse (“representational similarity analysis”) ausgeweitet werden kann (Grootswagers et al., 2017).
Die Kombination dieser beiden Methoden ist nicht ohne Herausforderung, da Augenbewegungen elektrische Potentiale hervorrufen, die von den EEG-Sensoren aufgezeichnet werden, bei der Auswertung der EEG-Daten jedoch ein Störsignal darstellen. Während es gängige Praxis in der EEG-Forschung ist, Augenbewegungen durch das entsprechende Design der Experimente möglichst zu vermeiden, wird in jüngerer Zeit die Untersuchung von neuronalen Vorgängen in naturalistischen Umgebungen zunehmend interessanter. Im Zuge dieses Trends gibt es Ansätze und Ratschläge, um EEG-Daten von koinzidenten Augenbewegungen zu befreien (Dimigen, 2020), die auch bei der Untersuchung von sprachlichen Prozessen Anwendung finden (Huizeling et al., 2023).
Neben alldem betrachtet das Projekt die eigenen Annahmen und Ergebnisse im Zuge laufender Diskussionen innerhalb des Kollegs aber auch innerhalb der breiteren Wissenschaft (van der Burght et al., 2022) im Sinne einer kritischen Neurowissenschaft (Choudhury & Slaby, 2012).

Vorarbeiten

In Gerards (2023) wurden unter anderem prosodische Repräsentation im Erstspracherwerb während des dritten Lebensjahres in einer neurophysiologischen Studie untersucht. Auf Basis einer Neuauswertung dieser longitudinalen Daten entsteht zur Zeit ein Manuskript, das die typische Entwicklung lexikalischer Repräsentationen in dieser Periode umreißt. 

Bezüge zu anderen Projekten

Es bestehen methodische Bezüge zu Projekten A1, A2, A3 und C3, die ebenfalls neurophysiologische Methoden zur Untersuchung sprachlicher Repräsentationen verwenden.
Überdies besteht ein zusätzlicher inhaltlicher Bezug zu Projekt A3, das sich ebenfalls mit prosodischen Repräsentationen auseinandersetzt, als auch zu Projekt B3, welches sich mit Erwerb und Intervention prosodischer Kategorien befasst.

Literaturangaben

van der Burght, C. L., Friederici, A. D., Maran, M., Papitto, G., Pyatigorskaya, E., Schroën, J., ... & Zaccarella, E. (2022). Cleaning up the Brickyard: How Theory and Methodology Affect Experimental Outcome in Cognitive Neuroscience of Language.** 

Buzsáki, G., & Vöröslakos, M. (2023). Brain rhythms have come of age. /Neuron/, /111/(7), 922-926.** 

Choudhury, S., & Slaby, J. (Eds.). (2016). /Critical neuroscience: A handbook of the social and cultural contexts of neuroscience/. John Wiley & Sons.** 

Clark, A. (2013). Whatever next? Predictive brains, situated agents, and the future of cognitive science. /Behavioral and brain sciences/, /36/(3), 181-204. 

Dimigen, O. (2020). Optimizing the ICA-based removal of ocular EEG artifacts from free viewing experiments. /NeuroImage/, /207/, 116117. 

Gerards, J. (2023). The Development of Lexical Representation During the Third Year of Life: A Longitudinal EEG Study [Master’s Thesis, Philipps-Universität Marburg]. 

Grootswagers, T., Wardle, S. G., & Carlson, T. A. (2017). Decoding dynamic brain patterns from evoked responses: A tutorial on multivariate pattern analysis applied to time series neuroimaging data. /Journal of cognitive neuroscience/, /29/(4), 677-697. 

Hohwy, J. (2020). New directions in predictive processing. /Mind & Language/, /35/(2), 209-223. 

Höhle, B. (2009). Bootstrapping mechanisms in first language acquisition. 

Huizeling, E., Alday, P. M., Peeters, D., & Hagoort, P. (2023). Combining EEG and 3D-eye-tracking to study the prediction of upcoming speech in naturalistic virtual environments: A proof of principle. /Neuropsychologia/, /191/, 108730. 

Jesse, A., Poellmann, K., & Kong, Y. Y. (2017). English listeners use suprasegmental cues to lexical stress early during spoken-word recognition. /Journal of Speech, Language, and Hearing Research/, /60/(1), 190-198. 

Kamide, Y. (2008). Anticipatory processes in sentence processing. /Language and Linguistics Compass/, /2/(4), 647-670. 

Mennen, I., & De Leeuw, E. (2014). Beyond segments: Prosody in SLA. /Studies in Second Language Acquisition/, /36/(2), 183-194. 

Meyer, L. (2018). The neural oscillations of speech processing and language comprehension: state of the art and emerging mechanisms. /European Journal of Neuroscience/, /48/(7), 2609-2621.