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In memoriam Günter Mertins

© M. Paal

In memoriam Günter Mertins

20. Juni 1936 (Mülheim/Ruhr) - 16. März 2015 (Marburg)

Anstelle eine Nachrufs

Am 16.März 2015 ist Günter Mertins nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Mit ihm hat nicht nur die Wissenschaft einen der profiliertesten Lateinamerika-Forscher und einen der letzten geographisch umfassend denkenden und arbeitenden Hochschullehrer verloren. Es ist auch ein ganz besonderer Mensch gegangen, der unvergessen bleiben wird.

Sein Lebenslauf ist ein beeindruckendes Zeugnis intensiven Schaffens. Von der Kindheit in Mülheim/Ruhr und Hennigsdorf, den schwierigen Nachkriegsjahren, seinem Studium an der Sporthochschule Köln und der Ferienarbeit im Kohlebergbau erzählte er nur in kleinem Kreis, und Schilderungen seiner Ausbildungsjahre, des Weges bis zur Professur in Marburg und seiner Lehr- und Forschungstätigkeit hatten stets etwas Anekdotisches, denn die Aufzählung seiner akademischen Meriten war ihm ein Greuel. Kein Wunder, daß er auch zu Nachrufen ein ambivalentes Verhältnis pflegte. Das heißt aber nicht, daß er sich des Wertes seiner Lebensleistung nicht bewußt gewesen wäre. Daher freute es ihn durchaus, von der Universidad del Norte in Barranquilla/Kolumbien mit der ersten dort vergebenen Ehrenprofessur ausgezeichnet zu werden – stellte sie doch eine Anerkennung seiner jahrzehntelangen wissenschaftlichen und organisatorischen Tätigkeit an der kolumbianischen Karibikküste und an der Hochschule dar, die er bei der Einrichtung eines Maestria-Studiengangs maßgeblich unterstützte. Kuba, Venezuela, Brasilien und Argentinien bedeuteten für ihn ebenfalls wichtige Stationen akademischen Wirkens, waren aber auch immer wieder Fluchtpunkte vor heimischer Enge. Der Vergeblichkeit seines Versuches, deutsches Arbeitstempo jenseits des Atlantiks durchzusetzen, begegnete er daher mit einer Toleranz, die er sonst nie aufzubringen gewillt war.

Seine Abneigung gegen die progressive Verengung geographischen Denkens und gegen Pseudotiefschürfendes konnte sich mitunter in galligen Kommentaren über fachliche Inkompetenz entladen und ihn veranlassen, das Selbstbild mancher Kollegen mit Heldenverehrung zu vergleichen. Daß er nicht zögerte, seine Kritik an fachlichem Nonsens auch öffentlich zu machen, zeugt von seinem sich in den letzten Jahren verstärkenden Bemühen, die Reputation des Faches vor einen falsch verstandenen Ehrenkodex zu stellen. Lob verteilte er hingegen äußerst sparsam, und wenn er es tatsächlich tat, konnte jeder der auf diese Weise Ausgezeichneten zu Recht stolz auf die erbrachte Leistung sein.

Selbst ein begnadeter Hochschullehrer, zögerte er nie, von Studierenden und Lehrenden gleichermaßen Qualität einzufordern. Seine besondere Leidenschaft galt Geländeaufenthalten mit Studierenden, denen er eine integrative Interpretation der vor Ort beobachteten Strukturen nahezubringen versuchte, was aber auch bedeutete, daß er mit seinen gezielten Fragen nach dem „Warum“ manchmal die eine oder andere studentische Schrecksekunde auslöste. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, Reisedestinationen anzubieten, die er nicht aus eigener Anschauung kannte und vorab nicht noch einmal bereist hätte, um eigenes Wissen auf den letzten Stand zu bringen. Seiner Lehrveranstaltungsvorbereitung widmete er sich ebenso akribisch wie der Verbesserung studentischer Arbeiten, vorzugsweise mit Rotstift und nicht immer zur Freude der Korrigierten. Mit gleichem Aufwand betreute er Abschlussarbeiten und förderte mit seiner Beratung auch bei manch durchschnittlich begabtem Arbeitswilligen ein passables Endergebnis.

Der Marburger und auch der Gießener Fachbereich verdanken ihm über seine aktive Zeit hinaus viel, trug er doch bis zuletzt mit großem Engagement und unentgeltlich dazu bei, ein vielfältiges Lehrangebot aufrecht zu erhalten.

Ungeachtet seines breit gefächerten Interesses für (Zeit-)Geschichte, Literatur, Politik, Wirtschaft oder Sport hat er sich manche Lebensbereiche erst relativ spät erschlossen. Umso intensiver genoß er seine in den letzten eineinhalb Jahrzehnten entdeckte Liebe zur französischen Landschaft, Musik und Gastronomie und zu den vielfältigen Reizen und Herausforderungen der Donaumonarchie. Dort fand er jene Harmonie und Intensität, nach der er wohl lange gesucht hatte. Und so hat ihn seine plötzliche Erkrankung nicht nur aus dem akademischen Wirken, sondern auch aus einem erfüllten Leben gerissen. Sein Todesurteil nahm er erstaunlich pragmatisch entgegen und wollte doch so gerne weiterleben. In seinen letzten Monaten ordnete er allen Widerständen zum Trotz sein Leben noch einmal neu – ein finaler Willensakt, der ihm sehr viel bedeutete.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen überaus herzlichen, humorvollen, weltoffenen und mit einem beachtlichen Maß an Willensstärke ausgestatteten Menschen, der bis zum Schluss so viel zu geben hatte. Mögen alle, die ihn schätzten, das Glas auf sein Wohl erheben. Es würde ihn freuen.

Diejenigen, die sich sowohl an den Wissenschaftler als auch an den Menschen Günter Mertins erinnern wollen, finden im World Wide Web unter „in memoriam günter mertins“ eine eigene Homepage (guenter-mertins.com).

Michaela Paal