13.06.2025 Exkursion nach Brüssel: Aufarbeitung der Vergangenheiten und aktuelle Herausforderungen

Reisebericht einer dekolonialen Exkursion (14.–16. Mai 2025)

Foto: Susanne Buckley-Zistel

Im Rahmen des Seminars „Koloniales Vermächtnis in Europa. Aufarbeitung der Vergangenheiten und aktuelle Herausforderungen“ unter der Leitung von Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel unternahmen wir vom 14. bis 16. Mai 2025 eine Exkursion nach Brüssel. Die kolonialen Vergangenheiten Europas werfen bis heute ihre Schatten auf die Gegenwart. Das Seminar widmet sich der Frage, wie Kolonialstaaten ihre Geschichte aufarbeiten und welche Forderungen von den ehemals kolonisierten Gesellschaften an diese Staaten gestellt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den jüngeren Initiativen zur historischen Aufarbeitung, wie etwa der Einrichtung von Aufarbeitungskommissionen, der Anerkennung von Verantwortung durch Entschuldigungen sowie den aktuellen Debatten um Restitution und Rückführung von Kunstwerken und Kulturgütern. Gegenstand sind zudem die politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit.

Im Zentrum der Exkursion stand die kritische Auseinandersetzung mit der belgischen Kolonialvergangenheit – insbesondere mit ihrer materiellen und symbolischen Fortwirkung im öffentlichen Raum. Ziel war es, nicht nur koloniale Kontinuitäten sichtbar zu machen, sondern auch Fragen nach historischer Verantwortung, Gerechtigkeit und Reparation zu diskutieren. Gleich zu Beginn führte uns eine Tour durch das ehemalige Hafenviertel Brüssels an zentrale Orte kolonialer Logistik. Der Hafen fungierte als Drehscheibe des Handels mit Waren aus der Kolonie Belgisch-Kongo. Viele Bauten zeugen bis heute von einer kolonialen Glorifizierung, die bis in die Gegenwart weitgehend ungebrochen bleibt.

Der Besuch des Königlichen Museums für Zentral-Afrika in Tervuren offenbarte die Widersprüchlichkeit eines kolonialen Gedächtnisortes, der ursprünglich zur Legitimation kolonialer Gewalt errichtet wurde. Zwar bemüht sich das Museum heute um eine differenzierte Darstellung, doch wird deutlich, dass Aufarbeitung hier häufig institutionell gezähmt bleibt. Die koloniale Gewalt – insbesondere unter der brutalen Herrschaft König Leopold II. – wird zwar thematisiert, doch drängen sich Fragen auf: Wo bleiben Konsequenzen? Wie lässt sich eine historische Schuld, die auf systematischer Ausbeutung, rassistischer Entmenschlichung und Massengewalt basiert, heute angemessen adressieren?

Die Ausstellung „When We See Us“ im Bozar Museum bot einen Gegenentwurf zur kolonialen Repräsentationslogik. In figurativer Malerei wurde nicht Leid, sondern das Leben, die Würde und die Widerständigkeit durch afrikanische Künstlerinnen und Künstler dargestellt. Die Werke bildeten ein visuelles Gegennarrativ zur kolonialen Objektifizierung Schwarzer Körper. Die Ausstellung warf zentrale Fragen auf: Wem gehört das Recht, Geschichte zu erzählen?

Im Haus der Europäischen Geschichte wurden koloniale Aspekte im Kontext europäischer Identitätsbildung nur am Rande thematisiert. Die Darstellung der europäischen Einigungsprozesse erscheint oft losgelöst von der kolonialen Expansion, deren Gewalt die Entwicklung Europas entscheidend mitprägte. Es wurde deutlich, wie sehr eine vollständige Aufarbeitung europäischer Geschichte die Anerkennung des kolonialen Erbes – einschließlich seiner Kontinuitäten in Machtverhältnissen, Rassismen und globalen Ungleichheiten – erfordern würde.

Den Abschluss bildete eine dekoloniale Stadtführung der feministischen Initiative Femiya. Die Tour rückte marginalisierte Perspektiven in den Vordergrund und machte sichtbar, wie koloniale Spuren tief im städtischen Gedächtnis verwurzelt sind, etwa in Denkmälern, Straßennamen oder architektonischen Repräsentationen. Besonders eindrücklich war die Frage, wie Erinnerungspolitik gerechter gestaltet werden kann: Wer wird erinnert, und wer wird systematisch vergessen?

Die Exkursion nach Brüssel war eine intensive Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Belgiens sowie mit ihrer Gegenwart. Deutlich wurde, dass Erinnerung nicht neutral ist: Sie ist umkämpft, selektiv und politisch. In allen besuchten Stationen stellte sich letztlich die Frage, wie postkoloniale Gesellschaften mit ihrer Geschichte umgehen, nicht nur symbolisch, sondern auch strukturell. Dekolonisierung darf dabei kein rein kultureller Prozess bleiben; sie muss mit Fragen globaler Gerechtigkeit, Restitution, institutioneller Transformation und solidarischem Erinnern verbunden werden.