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Projekt

Transdisziplinäre Netzwerke des Medienwissens. Lehr- und Forschungsfilm als Schnittstelle von Kunst, visueller Anthropologie und Filmwissenschaft in den USA der 1950er bis 1970er Jahre

DFG Heisenberg-Stipendium/Leitung: PD Dr. Henning Engelke 
Projektmitarbeiterin: Sophia Gräfe, M.A.
Studentische Hilfskraft: Nora Neuhaus, B.A.

Lange Zeit von der Forschung vernachlässigt, haben Forschungs- und Lehrfilme in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit erfahren. Dieses Interesse resultiert aus der Neuausrichtung von Film- und Medienwissenschaft angesichts sich verändernder Medienumwelten und digitaler Kultur. Gemeinsam mit Forschungs- und Lehrfilmen ist ein weit gefasster Bereich von Filmen in den Blick gekommen, die außerhalb der Produktions-, Distributions- und Rezeptionszusammenhänge der Kinoindustrie entstanden: Heimkino, Industriefilm, "useful cinema", "educational film", "orphan film", "minority cinemas", "indigenous film", Experimentalfilm und Videoaktivismus. Was diese "nontheatrical modes" hervorheben, ist eine Filmgeschichte, die sich immer schon außerhalb des Kinos abgespielt hat und die eine historische Perspektivierung der gegenwärtigen "relocation" des Filmischen ebenso wie Gegennarrative zur etablierten Filmgeschichte ermöglicht. Das spezifische Interesse an Forschungs- und Lehrfilmen steht zudem in Zusammenhang mit wissenschaftsgeschichtlichen und -soziologischen Konzeptionen, die wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn als Element von Handlungen sichtbar werden lassen, in die menschliche wie nicht-menschliche Akteure, Technologien, Analyseverfahren und Notationen gleichermaßen eingebunden sind.

Betrachtet man Forschungs- und Lehrfilm im umfassenderen Kontext von "non-theatrical modes" des Filmischen, dann eröffnet sich eine weitere Perspektive: In den Fokus geraten Lebensumstände, kulturelle Praktiken und kulturelle Identitätskonfigurationen, die sich querstellen zu den Repräsentationsmustern kommerzieller Medien bzw. von diesen ausgeschlossen werden. Dieser Bereich überschneidet sich historisch mit Forschungsfeldern der visuellen Anthropologie und der Medienethnologie, konstituierte aber zugleich ein eigenständiges Feld außerhalb des akademischen Kontexts. Film wird hier als soziale, mediale und politische Praxis greifbar, die in Selbst- und Fremdwahrnehmungen eingreift und die häufig zugleich auf die Veränderung politischer und sozialer Verhältnisse abzielt.

Das Vorhaben nimmt die bislang kaum beachteten Wechselbeziehungen dieser beiden Bereiche in den Blick: Die Schnittstellen und Differenzen zwischen Filmkulturen der sozialen Arbeit, politischem Aktivismus, experimenteller Filmästhetik sowie der Repräsentation von Minoritäten im Film und der akademischen Auseinandersetzung mit Alterität und Medienkulturen in den Disziplinen der visuellen Anthropologie, Kommunikationswissenschaft und Filmwissenschaft. Es konzentriert sich auf drei miteinander verknüpfte Aspekte: 

- partizipative Ansätze in der Filmpädagogik und der visuellen Anthropologie
- Medienapparate der filmischen Mikroanalyse von Interaktionsverhalten
- und medienökologische Implikationen von "Acoustic Space".

Diese drei Schwerpunkte eröffnen einander ergänzende medien- und wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven. Der Fokus auf Medienpartizipation erschließt die Einbindung von Filmtheorie und visueller Anthropologie in filmpädagogische Arbeit und soziologische Kommunikationsforschung im Kontext von Konflikten um die Sozialpolitik des "War on Poverty", politischer Filmpraxis der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Medienaktivismus. Im Schwerpunkt zu Mikroanalyse konnte erfasst werden, wie praxistheoretische Konzepte und filmanalytische Verfahren der Kommunikations-Interaktionsforschung in Epistemologien und Ästhetiken des Filmischen eingreifen. Der Fokus auf Acoustic Space ermöglichte es, die Weiterentwicklung dieses zunächst im Kontext ethnographischer Forschung geprägten medienökologischen Konzepts in Kontexten von Experimentalfilm und Expanded Arts sowie der Filmpädagogik zu verfolgen. 

Zusammengenommen eröffnen die drei Aspekte eine Perspektive auf Netzwerke des Lehr- und Forschungsfilms in den USA der 1950er bis 1970er Jahre, die sichtbar werden lässt, wie Forschung und Theoriebildung zu Medien, Kommunikation und Kognition in soziale Praxen und politische Prozesse ebenso wie technologische und ästhetische Entwicklungen eingebunden war. Damit liefert das Projekt einen historischen wie theoretischen Beitrag zu aktuellen film- und medienwissenschaftlichen Fragen nach Medienwandel und Epistemologien des Filmischen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die lange unterschätzte Bedeutung von "non-theatrical modes" für die institutionelle wie konzeptuelle Ausdifferenzierung von Film- und Medienwissenschaft aber auch der visuellen Anthropologie. Zugleich erschließt das Projekt eine wissenschafts- und mediengeschichtliche Fundierung für gegenwärtige kunsthistorische Diskurse zu ästhetischem Wissen.

Internationale Tagung 
The Movement Movement: Histories of Microanalysis at the Intersection of Film, Science and Art, 24.–26. Juni 2021, online 
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