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Personality-Talkshows

Andreas Dörner, Ludgera Vogt

Im deutlichen Kontrast zu der zunehmenden Komplexität politischer Prozesse steht die öffentliche Darstellung der Politik, wie sie vornehmlich in den elektronischen Massenmedien durchgeführt wird. Politikvermittlung in der Mediengesellschaft ist ausgesprochen stark auf Personen bezogen. Dies wird besonders deutlich sichtbar in Wahlkämpfen, wo sich in den letzten Jahrzehnten eine Tendenz der Personalisierung, ja sogar der Privatisierung des Politischen durchgesetzt hat[1] . Der Bundestagswahlkampf des Jahres 2002 stellte mit seinem in Deutschland erstmals eingeführten TV-„Duell“ der Spitzenkandidaten Schröder und Stoiber nur einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung dar, in der von Programmen wenig, von den Personen und ihrer professionellen Inszenierung dagegen fast alles abzuhängen scheint. Machterwerb und Machterhalt sind ganz wesentlich vom Gelingen des persönlichen Medienauftritts abhängig, denn das mediale Publikum ist zugleich auch das Elektorat, das an den Wahlurnen über Konstanz oder Wechsel des politischen Personals entscheidet. So konnte es auch beim letzten Bundestagswahlkampf 2005 nicht verwundern, dass die neue Frisur und das apricotfarbene Kostüm der Unionskandidatin, Details ihrer zweiten Ehe und das Faktum ihrer Kinderlosigkeit sowie die Herkunft aus der ehemaligen DDR ebenso große mediale Aufmerksamkeit auf sich zogen wie Fragen der Steuer- und Arbeitsmarktpolitik.

Aus dieser Situation resultiert der paradoxe Befund, dass den politischen Eliten in der Gegenwartsgesellschaft gleichzeitig ein Bedeutungsverlust und ein Bedeutungszuwachs zu attestieren ist (Grande 2000). Der Bedeutungsverlust ist dabei relativ wenig begründungsbedürftig; wenn die politischen Prozesse in ihrer Mehrebenenverflechtung immer komplexer werden, wird hier kaum von Personen „entschieden“, sondern es wird ausgehandelt und es werden Kompromisse produziert, an denen viele – vor allem korporative – Akteure beteiligt sind. Warum aber, so fragt Edgar Grande zu recht, geht dies gleichwohl mit einer öffentlichen Bedeutungszunahme der Personen einher, die von den Bürgern und Wählern jederzeit bestätigt wird?

Die Antwort ist offenbar im Mechanismus der „Komplexitätsreduktion“ zu suchen (vgl. Grande 2000: 308). Wenn nicht nur der politische Prozess hoch komplex ist, sondern gleichzeitig die zu regelnden Sachfragen immer komplizierter werden, dann erwachsen daraus ernsthafte Probleme. Selbst Amts- und Mandatsträger machen in ehrlichen Stunden (bei ausgeschalteten Kameras) kein Hehl daraus, dass sie teilweise nicht mehr durchblicken. Wie viel stärker aber muss der Bedarf nach Komplexitätsreduktion beim Laienpublikum sein, das weder die Zeit noch die Kraft hat, sich wie die politischen Profis in die Materie und in die Verfahren einzuarbeiten? Die Person des Politikers schafft in dieser Situation Übersichtlichkeit, Zurechenbarkeit von Entscheidungen[2]   und insgesamt Wahrnehmbarkeit von Politik. Abstraktes Systemvertrauen wird auf dieser Ebene durch personales Vertrauen ergänzt[3] – ein wichtiger Mechanismus, dessen Relevanz immer dann zutage tritt, wenn durch politische Skandale genau dieses personale Vertrauen erschüttert wird.

Vor diesem Hintergrund vermag es nicht zu verwundern, dass die politischen Akteure das Forum der Personality-Talkshow[4] als Möglichkeit der Selbst-Präsentation entdeckt und auch schon reichlich genutzt haben.  Die große Chance besteht hier für die Protagonisten darin, sich einem politisch wenig interessierten, unterhaltungsorientierten Publikum in einer angenehmen Stimmung als vertrauenerweckender Privatmensch jenseits der politischen Funktionsrolle präsentieren zu können[5] .

Die Sendungen sind jedoch keineswegs Bühnen, die den eingeladenen Akteuren frei zur Selbstpräsentation überlassen werden. Auch „die Medien“ agieren in diesem Zusammenhang als eigensinnige und interessengeleitete Akteure. Dadurch gewinnt der Inszenierungsprozess eine starke Unberechenbarkeit. Sie entsteht im „Kampf um Inszenierungsdominanz“ (Kurt 1998), der sich zum einen vor den Kameras im Gespräch zwischen Moderatoren, Gästen und teilweise Publikum ereignet. Die Moderatoren können zwar kooperativ agieren. In den letzten Jahren deutet sich jedoch an, dass auch die aggressiven Seiten des Boulevards -  konfrontatives Vorgehen, Skandalorientierung und Enthüllungslust - im deutschen Talk vermehrt zur Geltung kommen. Darin liegt auch ein kritisches, machtgefährdendes Potential[6] . Zum anderen erhalten hinter den Kameras die Inszenierungen der Talk-Gäste durch Kameraarbeit, Bildauswahl und Regie andere Bedeutungsschichten. Das Fernsehen will hier zu Unterhaltungs- und Marketingzwecken mitunter eigene, ganz andere Geschichten erzählen als die politischen Akteure. Es hängt also nicht nur von deren Inszenierungsqualitäten ab, ob der Auftritt in ihrem Sinne gelingt.

Personality-Talk: Einverständliches Gespräch im „Feel Good“-Modus

Das Aufmerksamkeitsprivileg moderner Prominenz ist, daran muss mit Thomas Macho erinnert werden, ein passives. Im Gegensatz zur vormodernen Gesellschaft, wo die Eliten nahezu alles sehen konnten, ohne doch selbst vom Volk gesehen zu werden, stehen die heutigen Medieneliten nahezu unter Dauerbeobachtung. Das „Auge Gottes“, das alles sieht und allgegenwärtig scheint, ist nun das (weitgehend anonyme) Publikum[7] . Vor diesem Hintergrund kann die Talk-Show jenseits ihres instrumentellen Charakters als Selbstdarstellungsforum für Öffentlichkeitsprofis auch den bedrohlichen Charakter jenes von Michel Foucault (1977: 256ff) beschriebenen Benthamschen Panopticums annehmen, in dem jede Regung des Delinquenten erfasst, später analysiert und gegebenenfalls abgestraft wird.

Dieser potentielle Überwachungscharakter der Medienaufmerksamkeit bedingt notwendig, dass neben der im engeren Sinne professionellen Rolle des politischen Akteurs, wie sie vor allem in der Debattenshow gefragt ist, auch das Persönliche und Private in den Blick rückt. Dies ist der spezifische Ort der Personality-Talkshow. Hier geht es um den „ganzen Menschen“, um das Authentische „hinter“ der professionellen Maske, das sich bei näherem Hinsehen freilich nur als eine andere, eben auf die Inszenierung des Menschlichen und Privaten spezialisierte Maske erweist. Das Versprechen der Personality-Talkshow gegenüber dem Publikum lautet ganz im Sinne des Panopticums, dass hier jenseits der Kommunikationsroutinen auch unbeabsichtigte, spontane Regungen zutage treten, die vom Publikum, vom „Auge Gottes“ nicht nur gesehen, sondern auch interpretiert werden können.

Dieser weitgehende Anspruch fand allerdings in der traditionellen deutschen Talk-Kultur meist schnell seine Grenzen, weil hier in der Regel doch auf Freundlichkeit statt Provokation und auf Konsens statt Konfrontation gesetzt wurde. Es herrschte das freundliche, einverständliche Gespräch, das in vieler Hinsicht die klassischen Merkmale bürgerlicher Geselligkeit aufwies: Es blieb jederzeit eine spezifische Distanz gewahrt, die das allzu Persönliche, das wirklich Private und somit potentiell auch Anstößige weitgehend unangetastet ließ[8] . Die „Tyrannei der Intimität“ (Sennett 1983) im Sinne einer schamlosen Überschreitung dieser Distanz hatte in aller Regel in diesen deutschen Personality-Talkshows keinen Raum.

Das klassische Beispiel dafür war in der deutschen Medienkultur die erfolgreiche Reihe Boulevard Bio (ARD, 1991-2003). Mit Alfred Biolek stand diese Show unter der Leitung eines Routiniers, der sich schon seit den 1970er Jahren mit verschiedenen Talk-Formaten vom Kölner Treff über Bios Bahnhof  bis zur Koch-Show Alfredissimo in der deutschen Fernsehlandschaft behauptete. Boulevard Bio versammelte jeweils am Dienstagabend zu später Stunde unter einem relativ offen formulierten Rahmenthema eine Runde von meist prominenten Gästen, die in entspannter Atmosphäre gepflegte Plaudereien darboten. Die Gäste hatten jeweils einen mehr oder weniger engen biografischen Bezug zum Thema, und Gastgeber Biolek bemühte sich, ihnen amüsante Anekdoten oder nachdenkliche Aussagen zu entlocken.

Zuweilen waren hier auch Politiker zu Gast, wobei die berühmt gewordene Solosendung mit Helmut Kohl im September 1996 zwar mit der Konzentration auf einen einzelnen Gast eine Ausnahme, in ihrem gesamten Duktus aber ein typisches Exemplar der traditionellen Personality-Show verkörperte. Kohl war in diesem Jahr, in dem er den bisherigen Amtszeitrekord von Konrad Adenauer brach, auf dem Höhepunkt seiner Popularität angelangt. Der früher eher medienscheue Kanzler baute diese Popularität nicht zuletzt aufgrund des Einflusses seines Medienberaters Andreas Fritzenkötter in diesem Jahr durch eine Reihe von Fernsehauftritten konsequent aus. Gastgeber „Bio“ gab sich in dieser Sendung, die mit gut 2,5 Millionen Zuschauern einen Marktanteil von 37,7 Prozent erreichte, betont servil. Er plauderte mit Kohl über dessen kulinarische Vorlieben, über gute Weine und Fernsehkommissar Derrick, über das Familienleben im Hause Kohl und manch andere private Belanglosigkeiten. Er bot Kohl damit ein geeignetes Forum zur Selbstdarstellung als bodenständiger „Mensch wie du und ich“. Nicht nur kritische oder provokante Fragen, sondern politische Aspekte insgesamt blieben in diesem heiteren Kamingespräch, zu dem Kohl sogar seinen eigenen (hinreichend breiten) Stuhl mitbringen durfte, außen vor. Das Gespräch bekam in dieser Sendung geradezu höfische Züge, allerdings auf das (klein-) bürgerliche Maß des Oggersheimer Saumagen-Gourmets zurückgestutzt. Das Politische löste sich hier im Privaten auf und blieb doch politisch relevant, insofern die Popularitätsgenerierung durch Medienpräsenz sich letztlich durchaus auf dem Wählermarkt auswirken kann. Das Panopticum jedenfalls verliert aus der Sicht der politischen Akteure dann vollkommen seinen bedrohlichen Charakter, wenn die Gastgeber so brav sind und die Politiker jederzeit bestimmen können, welche Ausschnitte der Realität in den Blick geraten und welche im Verborgenen bleiben.

Das Politische im Privaten

Nun ist das Format der Personality-Show jedoch nicht zwingend mit einer solchen Auflösung des Politischen verbunden. Im Persönlichen und Biografischen kann sich durchaus auf sehr anschauliche Weise Politisches zur Darstellung bringen. Ein gelungenes Beispiel für eine solche, durchaus auch kooperative Politisierung des Privaten zeigte die Johannes B. Kerner-Show (ZDF, seit 1998)[9] , die im Dezember 1999 den Grünen-Politiker und Parlamentarier Cem Özdemir präsentierte. Auch hier ging es keineswegs kritisch oder provokativ, sondern stets freundlich und „politisch korrekt“ zu. Aber Kerners Gesprächsführung arbeitete geschickt einige relevante Aspekte der Ausländerproblematik in Deutschland heraus. Bereits in der Eingangssequenz des Auftritts wird deutlich, wie hier die Spannungslinie zwischen Fremdheit und Vertrautheit, Migrationshintergrund und (politisch definierter) deutscher Staatsbürgerschaft aufgebaut wird. Kerner kündigt Özdemir zunächst als Politiker und Mitglied des Deutschen Bundestags an und bemerkt, der Gast sei „irgendwie auch ein anderer Politiker“. Nach der Begrüßung eröffnet Kerner dann wie folgt: „Es geht doch bestimmt noch einigen Leuten so, wenn sie hören, Tschem Ötzdemir [den Namen spricht er „deutsch“, d.h. mit harten Konsonanten aus], Mitglied des Parlaments, dann denken die eher ans türkische Parlament in Ankara und nicht so sehr an den Deutschen Bundestag in Berlin...“. Kerner holt also sein Publikum gleichsam bei den üblichen Stereotypen des deutschen Alltags ab. Der Politiker nutzt diese Vorgabe, um die über den Namen ausgedrückte Fremdheit humorvoll anhand von Kindheitserlebnissen aufzunehmen: „Ja, meine Mitschüler haben immer bei dem Namen Ötzdemir – wie er sagt [zeigt auf Kerner], Ösdemir [mit weichen Konsonanten ausgesprochen] heißts ja eigentlich – gesagt: Öz-de-mir – öz ich dir; heute schon geötzt? ... Ich kenn die ganze Variante rauf und runter“. Das Lachen im Publikum zeigt, dass die Äußerung verstanden worden ist.

Diesem Fremdheitsdiskurs folgt, wiederum mit Bezug auf Sprachliches, die ‚Normalisierung’ des Politikers als „einer von uns“. Kerner betont, Özdemirs Aussprache höre sich „tatsächlich wirklich richtig schwäbisch an“: Daraufhin erklärt der Politiker, er sei in Bad Urach, dem „Herzen der Schwäbischen Alb“ geboren und aufgewachsen. Die durch das Anwerbeabkommen nach Deutschland gekommenen Eltern hätten sich auch in Urach erst kennen gelernt. Der Ausländeranteil sei damals noch sehr gering gewesen. Neben „Cem, dem Türkenjungen“ sei nur noch ein portugiesisches Kind in der Schule gewesen.

Die interkulturellen Probleme, die mit dem Zusammenleben von Migranten und Einheimischen verbunden sind, werden ebenfalls anhand einer Anekdote veranschaulicht, ohne dabei auf simple Stereotypen oder politisch-korrekte Populismen zurückzugreifen. Auf Kerners Frage, wie denn vor 25 Jahren der Umgang zwischen Deutschen und Türken ausgesehen habe, antwortet Özdemir mit der Erzählung eines Besuchs seiner Eltern im Hause eines Schulfreundes. Während die türkischen Eltern den Standards türkischer Gastfreundschaftsregeln gemäß viel Licht, viel Tee, viel Kuchen und auch einen laufenden Fernseher erwartet hätten, sei die Wohnung nur spärlich beleuchtet und sehr still gewesen. Es gab eine Tasse Tee und ein kleines Stück Kuchen, und: dem Vater wurde – undenkbar in türkischen Kreisen – sogar das Rauchen verboten. Die Eltern hätten dieses Verhalten jedoch nicht als Feindseligkeit, sondern als zu tolerierende Eigenheit der Einheimischen aufgefasst. Den Verweis auf das viele Licht, das im Hause Özdemir vor allem bei Besuchsanlässen gebrannt hat, nutzt der Grünen-Abgeordnete wiederum zu einem kleinen politischen Exkurs über Stromverbrauch und Ökologie. Er habe jedenfalls regelmäßig mit seinen Eltern Streit über diese Energieverschwendung gehabt. Die Anekdoten werden in der Sendung immer wieder mit politischen Stellungnahmen zur Staatsbürgerschaftsfrage und zur aktuellen Wirtschaftspolitik verbunden. Biografisches und Politisches sind hier auf unterhaltsame Weise ineinander verwoben, ohne doch zu plakativ zu wirken.

Einen anderen, aber nicht weniger politischen Zugang wählte der aufgrund seiner Schlagfertigkeit und seines Humors häufig in Talk-Shows geladene PDS-Politiker Gregor Gysi. Im Januar 2000 ebenfalls bei „Kerner“ zu Gast, nimmt Gysi mit spitzer Zunge zum Finanzskandal der CDU Stellung. Um zu veranschaulichen, wie das feudalistisch-personenbezogene „System Kohl“ im Alltag der Parlamentsarbeit jederzeit spürbar war, erzählt auch Gysi eine Anekdote. Kohl habe ihn, umringt von seinen Kabinettskollegen, einmal lächelnd angesprochen, um einen Witz auf seine Kosten zu machen: „Ach, Herr Gysi, wenn Sie katholisch wären, bei Ihren großen Sünden dürften Sie gar nicht bei einem normalen Priester beichten, Sie müssten immer gleich zum Prälaten gehen“. Es folgte lautes Gelächter bei den Kohl-Leuten. Gysi habe nur kurz erwidert, dann würden Kohl und er sich dort wohl ständig treffen – eine Voraussage, die angesichts des Spendenskandals mehr ernsthafte Wahrheit enthalte, als ihm, Gysi, damals bewusst gewesen sei. Entscheidend aber war nun, dass Kohls Höflinge ihr spontanes Lachen hinter der Hand verbargen und sich erst ab dem Zeitpunkt trauten, ihr Gesicht offen zu zeigen, als Kohl mit einem „Ho, ho, ho“ sein Wohlwollen zu dieser Scherzkommunikation bekundete. Die höfische Gesellschaft um den Bonner Sonnenkönig, dem der Staat und seine Gesetze von geringerem Wert erschienen als Parteispenden und persönliche Ehrenworte, tritt in dieser Anekdote anschaulich hervor.

Auch neuere Beispiele von Politikerauftritten in Personality-Talkshows zeigen, wie gut es möglich ist, in der angenehmen „Feel-Good“-Stimmung einer Unterhaltungsshow einerseits persönliche Sympathiepunkte zu gewinnen und andererseits auch politische Themen auf die Agenda zu bringen, ohne dass das typische Personality-Talk-Publikum – das nicht eben zu den politisch besonders interessierten Bevölkerungsteilen zählt – durch eine zu ernste und trockene Debatte abgeschreckt wird.

So erhielt die amtierende Familienministerin Ursula von der Leyen am 26. Mai 2008 bei „Beckmann“ (ARD, seit 1999) Gelegenheit, die Gründe darzulegen, warum sie ihren demenzkranken Vater, den früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, in den Kontext ihrer Familie aufnahm und in einem Mehrgenerationenhaus mit ihm lebt. Die Ministerin konnte hier auch Bedenken und schwierige Gefühle beschreiben, nutzte jedoch verständlicherweise vor allem die Gelegenheit, sich als pflichtbewusster Familienmensch zu präsentieren. Sie durfte dem Publikum vorführen, dass sie nicht nur eine an abstrakten Normen orientierte Familienpolitik machen kann, sondern auch bereit ist, das eigene Privatleben gleichsam modellhaft als Glaubwürdigkeitgenerator einzusetzen. Damit war es möglich, ein positives Image als Privatperson aufzubauen und gleichzeitig beim Publikum eine Legitimation für das Amtshandeln als Familienministerin einzuholen. Wenn von der Leyen dabei durchaus auch einmal die Stirn kräuselte, um Bedenken angesichts der Ausfallserscheinungen des Vaters zu zeigen, erhöhte das die Glaubwürdigkeit und vermied das Bild einer allzu glatten und perfekten Fassade.

Der aggressive Boulevard und der Kampf um Inszenierungsdominanz

Neuere Fälle von Politikerauftritten in Personality-Talkshows zeigen, dass es jenseits des kooperativen Geplauders in der Tradition Bioleks durchaus auch andere, konfrontativere Dimensionen des Personality-Talks gibt. Die Moderatoren werden offensiver und aggressiver, und die Regie vermag Dinge offenzulegen, die Unterhaltungswert haben sowie keineswegs immer im Sinne der politischen Akteure zum Bestandteil der Inszenierung werden.

Zu diesem Wandel können hier einige Beispiele angeführt werden:

1) Die hessische SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti, die am 3. März 2008 bei „Beckmann“ zu Gast war, durfte zwar einerseits ausführlich von ihrer Biografie, ihrer Herkunft aus einer einfachen Arbeiterfamilie sowie ihrem schwierigen weiteren Lebensweg erzählen. Durch diesen, im eigenen Werdegang plausibilisierten Appell für soziale Gerechtigkeit versuchte sie, die Annäherung an die Linkspartei als notwendigen Schritt für die Ablösung des Konservativen und Wirtschaftsliberalen Koch zu begründen. Andererseits wurde sie hart mit dem Vorwurf des Wahlbetrugs konfrontiert. Und auch die peinliche Szene vom hessischen Wahlabend, in der Ypsilantis Lebensgefährte, hinter ihr stehend, der Kandidatin scheinbar den Text des Statements souffliert, wurde genüsslich ausgeschlachtet. Die Gemütlichkeit des Plaudertons war hier bald beendet.

2) Gesine Schwan, die im September 2008 als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten # bei Beckmann auftrat, wurde ebenfalls mit unangenehmen Fragen und Aussagen konfrontiert. Die Wähler, so Beckmann, hätten ihre Kandidatur vor einigen Jahren noch als originell empfunden. Jetzt aber frage man sich angesichts von Köhlers Popularität: „Was will die schon wieder?“ Die Kandidatin bewahrte Contenance, aber die Atmosphäre war bei weitem nicht so freundlich und entspannt wie in früheren Zeiten.

3)  „Johannes B. Kerner“ setzte im September 2007 ein deutliches Zeichen, als Moderatorin Eva Herman nach einem heftigen Streitgespräch über ihre Äußerungen zur Familienpolitik des NS-Regimes des Studios verwiesen wurde, nachdem ihr nicht nur die Gäste Senta Berger und Margarete Schreinemakers, sondern auch der Moderator und ein zugeladener Historiker hart zugesetzt hatten. Aus dem gemütlichen Gespräch wurde der Personality-Talk hier in ein konfrontatives Forum transformiert, in dem politische Sachthemen auf der Agenda stehen.

4) Eine weitere Kerner-Sendung mutierte im Mai 2008 nachgerade zu einer Debattenshow. Kerner hatte hier mit Claudia Roth (Die Grünen) und Markus Söder (CSU) gleich zwei politische Akteure eingeladen, um tatsächlich auch ein politisches Thema zu debattieren: die mögliche Zukunft schwarz-grüner Zusammenarbeit in der Bundespolitik. Allerdings bemühten sich die Akteure, trotz harter Sachthemen die positive Grundstimmung des Talks nicht zu durchbrechen. Keine verbissene Streitsituation war hier zu beobachten, in der die Akteure ihre politischen Statements zu verbreiten und zu rechtfertigen suchen; dies wäre der übliche Rahmen einer politischen Debattenshow wie „Anne Will“ oder „Maybrit Illner“ gewesen. Stattdessen scherzten und lächelten die beiden Politiker, um nicht den Rahmen vollends zu brechen. Und obwohl Roth und Söder sich durchaus einig waren, dass eine ernsthafte Zusammenarbeit ihrer Parteien aufgrund der inhaltlichen Differenzen kaum absehbar sei, blieb doch der Eindruck eines freundlichen Miteinanders und zweier humorvoller und netter Persönlichkeiten, die angesichts unvereinbarer Positionen gleichwohl freundlich miteinander umzugehen wissen.

5) Abschließend soll anhand eines kleinen Details aufgezeigt werden, wie sehr die Inszenierungsleistungen hinter den Kameras andere Geschichten erzählen und andere Rollen zuweisen. Der Bayerische Ministerpräsident Beckstein war im Februar 2008 bei Reinhold Beckmann zu Gast. Er gab sich humorvoll, umgänglich und ließ dann und wann auch politische Kompetenz aufblitzen. Immer wieder jedoch wurde der Akteur von der Regie in einer Einstellung eingeblendet, die in Nahaufnahme den Hinterkopf Becksteins zeigte, mit deutlich sichtbarem Hörgerät. Aus Beckstein, dem politischen Macher und souveränen Ministerpräsidenten wurde hier plötzlich auch Beckstein, der gebrechliche Alte, dem man möglicherweise den Stress eines hohen politischen Amtes gar nicht mehr zumuten mochte.

In ähnlicher Weise kann eine Politikerin immer wieder nah gezeigt werden, wie sie sich durchs Haar streicht oder ihre Kleidung zurecht zupft. Aus der engagierten Politikerin kann das Fernsehen hier die eitle Dame machen, der das Aussehen wichtiger scheint als die Sachthemen. Die Einblendung des feixenden Akteurs, der sich unbeobachtet wähnt und die Ernsthaftigkeit seines Statements gleich selbst dementiert, wäre ein weiteres Beispiel. Auf all diese Inszenierungsleistungen des Fernsehens und somit auf das Endprodukt, wie es im Wohnzimmer der Zuschauer ankommt, haben die Akteure vor den Kameras keinerlei Einfluss. Sie können zwar gewisse Dinge antizipieren, sie können aber nicht reagieren – ein Risiko, das durchaus zum Problem werden kann.

Literatur:

Bußkamp, Heike (2002): Politiker im Fernsehtalk. Strategien der medialen Darstellung des Privatlebens von Politikprominenz. Wiesbaden.

Dörner, Andreas (2004): Power Talks. Zur Transformation der politischen Elite in der medialen Erlebnisgesellschaft. In: Hitzler, Ronald / Hornbostel, Stefan / Mohr, Cornelia (Hrsg.): Elitenmacht. Wiesbaden.

Dörner, Andreas (2006): Politische Unterhaltung zwischen Inszenierung und Kontingenz. Fernsehtalk als Kampfarena am Beispiel der Harald-Schmidt-Show. In: Tomkowiak, Ingrid / Frizzoni, Brigitte (Hrsg.): Unterhaltung. Konzepte - Formen - Wirkungen. Zürich.

Dörner, Andreas / Vogt, Ludgera (2002a): Wahl-Kämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual. Frankfurt a.M.

Dörner, Andreas / Vogt, Ludgera (2002b): Die Sichtbarkeit der Mächtigen. Entertainment, Talk-Shows und Politikvermittlung im Fernsehen. In: Baringhorst, Sigrid (Hrsg.): Mediendemokratie – Mediokratie. (= Sowi – Sozialwissenschaftliche Informationen, H. 3 (2002),  S. 25-35.

Fiske, John (2002): Die Überwachung der Stadt. Weißsein, der schwarze Mann und demokratischer Totalitarismus. In: Winter, Rainer, Mikos, Lothar (Hg.), Die Fabrikation des Populären. Der John-Fiske-Reader. Bielefeld, S. 309-339.

Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.

Grande, Edgar (2000): Charisma und Komplexität. Verhandlungsdemokratie, #Mediendemokratie und der Funktionswandel politischer Eliten. In: Raymund Werle, Uwe Schimank (Hg.), Gesellschaftliche Komplexität und kollektive Handlungsfähigkeit. Frankfurt/M., 297-319.

Hoffmann, Jochen / Raupp, Juliana (2006): Politische Personalisierung. Disziplinäre Zugänge und theoretische Folgerungen. In: Publizistik 51, S. 456-478.

Holtz-Bacha, Christina (2001): Das Private in der Politik: Ein neuer Medientrend? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B41-42, S. 20-26.

Holtz-Bacha, Christina (2006): Personalisiert und emotional: Strategien des modernen Wahlkampfes. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 13.2.2006, H. 7, S. 13-21.

Kurt, Ronald (1998): Der Kampf um Inszenierungsdominanz. Gerhard Schröder im ARD-Politmagazin ZAK und Helmut Kohl im Boulevard Bio. In: Herbert Willems, Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen, S. 565-582.

Luhmann, Niklas (1968): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion von Komplexität. Stuttgart.

Macho, Thomas H. (1993): Von der Elite zur Prominenz. Zum Strukturwandel politischer Herrschaft. In: Merkur 47, S. 762-769.

Mill, John Stuart (1861): Considerations on Representative Government. London.

Plake, Klaus (1999): Talkshows. Die Industrialisierung der Kommunikation. Darmstadt.

Probst, Lothar (1998): Politisierung des Privaten. Privatisierung des Politischen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik H. 10, S. 1181-1190.

Reichertz, Jo (2007): Die Macht der Worte und der Medien. Wiesbaden.

Sarcinelli, Ulrich (Hrsg.) (1998): Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft. Beiträge zur politischen Kommunikationskultur. Bonn.

Sarcinelli, Ulrich (2005): Politische Kommunikation in Deutschland. Zur Politikvermittlung im demokratischen System. Wiesbaden.

Schultz, Tanjev (2002): Menschelnde Unterhaltung mit Politikern. Daten und Überlegungen zu Auftritten in Promi-Talkshows. In: Schicha, Christian / Brosda, Carsten (Hrsg.): Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus. Münster u.a., S. 182-194.

Simmel, Georg (1917): Grundfragen der Soziologie. Individuum und Gesellschaft. Leipzig.

Vogt, Ludgera (2002): Scharping im Pool. Über Chancen und Risiken der Privatisierung des Politischen. In: Schicha, Christian / Brosda, Carsten (Hrsg.): Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus. Münster u.a., S. 134-151.

 

[1] Zur Entwicklung der Wahlkämpfe siehe jetzt die Beiträge in Dörner/Vogt (2002). Zu allgemeinen Tendenzen der Politikvermittlung in der Mediengesellschaft vgl. grundlegend Sarcinelli (1998, 2005). Zur Privatisierung des Politischen schließlich Probst (1998), Holtz-Bacha (2001, 2006), Vogt (2002) und Hoffmann/Raupp (2006).

[2] Das ist ja nicht zuletzt schon die Pointe der repräsentativen Demokratie im Rahmen des „Responsible Government“ bei John Stuart Mill (1861).

[3] Zur Funktionsweise des Vertrauens vgl. schon Luhmann (1968).

[4] Plake (1999) unterscheidet in seinem Grundlagenwerk „Talkshows“ drei Grundtypen von Sendungen. Bei der Debattenshow werden Fragen der Politik und des öffentlichen Interesses behandelt. Dazu werden meist Politiker, Betroffene und Experten eingeladen, die das Thema im argumentativen Austausch diskutieren. Der Eindruck eines demokratischen Diskurses ist also prägend für das Arrangement der Sendung. Bei der Personality-Talkshow geht es primär um die Darstellung von Persönlichkeiten, zumeist um Prominente. Die Sendung ist weniger thematisch gebunden, sondern auf die Geschichte und Selbstpräsentation der eingeladenen Personen zugeschnitten. In der – vor allem in den 1990er Jahren als „Daily Talk“ populär gewordenen  – Bekenntnisshow treten schließlich nicht-prominente Gäste auf, die persönliche Alltagskonflikte, Intimitäten und Schicksalsschläge thematisieren.

[5] Zu Politikerauftritten in Personality-Talkshows vgl. Bußkamp (2002) und Schulz (2002).

[6] Diesen Zusammenhang hat Fiske (2002) anhand der Paparazzi aufgezeigt, die für ihn mitunter sogar den Status einer kritischen Gegenöffentlichkeit erreichen.

[7] Vgl. Macho (1993: 767).

[8] Zur bürgerlichen Geselligkeit siehe vor allem die klassischen Ausführungen bei Georg Simmel (1917, Kap. 3).

[9] „Johannes B. Kerner“ und „Beckmann“ sind die unumstrittenen Marktführer im Bereich des Personality-Talk. Beide Formate erzielen derzeit durchschnittliche Marktanteile von ca. 12-13 Prozent bei einer Reichweite von ca. 1,7 Millionen Zuschauern.